Mai-Randale 89 in Berlin-Kreuzberg – Obristenrevolte gegen „Rot-Grün“

von Otto Diederichs*/ Till Meyer**

Der Einsatz am 1. Mai d.J. hat Berlins Polizei wieder einmal weit über die Stadtgrenzen hinaus ins Gerede gebracht. Die Gründe dafür sind ebenso vielfältig wie die „Pannen“, die diesen Einsatz zu einem polizeilichen Desaster mit rund 320 „verletzten“ Beamten machten. Häme über einen dilettantischen Einsatz ist jedoch ebenso unangebracht wie Genugtuung über die erste Bauchlandung des neuen rot-grünen Senats oder gar der Ruf nach mehr Härte. Alles trifft in diesem Falle nicht, denn bei näherem Hinsehen entpuppt sich das Ganze – so die These des folgenden Beitrages – als durchaus nicht ungeschickt eingefädeltes Komplott der Berliner Polizeiführung.

1. Vorgeschichte und politische Rahmenbedingungen

Ohne das spektakuläre Wahlergebnis vom 29. Januar, das SPD und AL überraschend die Möglichkeit einer Koalitionsbildung bot und zur Ablösung des bisherigen CDU/FDP-Senats führte, wäre auch dieser 1. Mai in Berlin ebenso verlaufen, wie in den Jahren zuvor: die traditionellen Demonstrationen, das traditionelle „Lausefest“ der linken und alternativen Gruppen auf dem Lausitzer Platz in Kreuzberg und gegen Abend die mittlerweile ebenso traditionelle Randale. Nun jedoch war alles irgendwie anders. Traditionell war lediglich auch diesmal die Randale.

Zum richtigen Verständnis der Vorgänge um den diesjährigen 1. Mai sind zunächst einige erklärender Rückgriffe notwendig.

1.1 Berlin Kreuzberg, der 1. Mai und das „Lause“fest

Seit einigen Jahren gehört das Straßenfest der Berliner Links- und Alternativszene auf dem Lausitzer Platz in Kreuzberg ebenso zum 1. Mai wie die Umzüge des DGB. Vom „Lauseplatz“, wie er salopp genannt wird, gingen in den Abendstunden des 1. Mai 1987 auch die längst legendären Unruhen aus, die seinerzeit teilweise ganze Straßenzüge erfaßten und kurzfristig Züge eines sozialen Aufstandes annahmen. Über Stunden hatte sich damals die geballte Polizeistreitmacht aus dem Inneren Kreuzbergs zurückziehen müssen, da sie die Lage nicht mehr beherrschen konnte. Außer einigen Fensterreden trugen die verantwortlichen Politiker anschließend nichts zur Veränderung der von allen beklagten Situation in Kreuzberg bei. Und doch zeigte jene Nacht nachhaltige Wirkung: besonders in den Köpfen der sich autonom und antiimperialistisch verstehenden Szene gilt der 1. Mai 1987 seitdem als Symbol der eigenen Stärke. Daran anzuknüpfen ist teilweise zum Ritual geworden.

Die Polizei hatte auf ihre damalige Niederlage mit der Aufstellung einer neuen Elite-Einheit, der
„Einsatzgruppe für besondere Lagen und einsatzbezogenes Training (EbLT)“ reagiert (siehe CILIP Nr. 30, S. 10 ff.).

Als Schlägerkommando förmlich aus dem Boden gestampft, wurde sie bereits rund zwei Wochen später erstmalig eingesetzt und machte sich prompt einen schlechten Namen. Nichtsdestotrotz entwickelte sich die anfangs ca. 70 Mann starke Truppe zum Lieblingskind von Polizeiführung und Innensenat. Ständig weiterbeschult und zum Ausbildungsvorbild für sämtliche Berliner Einsatzbereitschaften erhoben, erregte sie noch im gleichen Jahr bundesweites Aufsehen, als sie während eines Einsatzes an der inzwischen auf den Industriemüll geworfenen Atomfabrik im bayerischen Wackersdorf eine „Blutspur durch die Bundesrepublik“ zog, wie es der ehemalige AL-Abgeordnete Wieland in seiner pathetischen Art ausdrückte. Beim ersten Mai-Revival 1988 schließlich fielen der „Schlag-drauf-und-Schluß“-Mentalität der EbLT nicht nur reihenweise Demonstranten und Zuschauer zum Opfer; auch Beobachter aus der Polizeiführung, darunter ihr eigener Vorgesetzer, der für Berlins Geschlossene Einheiten zuständige Polizeidirektor Manthey, waren den Knüppeln nicht entgangen. Einzelne Bereitschaftsführer hatten seinerzeit sogar erwogen, den Schlägern ihre Einheiten entgegenzustellen, um das Wüten der EbLT zu beenden.

Um seinen Prätorianern wenigstens noch Versetzungswünsche erfüllen zu können, wurde die Einheit von Innensenator Kewenig kurz vor der Amtsübergabe an seinen Nachfolger Erich Pätzold aufgelöst. Die EbLT bestand im Mai 1989 also nicht mehr, die Rechnung vom
Vorjahr allerdings war noch nicht beglichen.

1.2 Veränderungen in der politischen Führung der Stadt: der Berliner Senat

1981 löste die CDU erstmals in der Berliner Nachkriegsgeschichte die längst völlig verfilzte Sozialdemokratie von der Regierungsverantwortung ab. Für den hier zur Debatte stehenden Bereich der inneren Sicherheit bedeutete das zunächst einen Innensenator Heinrich Lummer; ein strammer law-and-order-Politiker mit unscharfen Konturen ins rechtsextreme Lager. Der populistische Lummer, der „Heinrich fürs Grobe“, wie er von politischen Freunden und Feinden gleichermaßen tituliert wird, war bei der Polizei nicht unbeliebt. Selbst Berlins langjähriger Polizeipräsident Klaus Hübner (SPD) arrangierte sich mit ihm, obwohl er zuerst mit Rücktritt gedroht hatte. Die durch die damaligen Hausbesetzungen stark gebeutelte Polizei fand Trost in den vollmundigen Worten Lummers. Dummerweise war ihr oberster Dienstherr etwas zu umtriebig und wann immer in Berlin von schwarzem Filz und Korruption die Rede war (und ist), taucht(e) irgendwann auch sein Name auf. Als Lummer aufgrund seiner Verstrickungen im Jahre 1986 nicht mehr zu halten war, erklomm im Zuge der notwendig werdenden Senatsumbildung der Verfassungsrechtler und bisherige Wissenschaftssenator Wilhelm A. Kewenig den Chefsessel im Innensenat. Als Staatssekretär zur Seite stand ihm der noch von Lummer angeheuerte ehemalige Politstaatsanwalt Wolfgang Müllenbrock, ein Hardliner mit starker Affinität zum Geheimen. Insbesondere dieses Duo überzog in der Folgezeit seinen Bereich mit einer rigorosen Personalpolitik. In der Innenverwaltung, der Polizei und beim Verfassungsschutz begann die große Stunde für eiserne Fäuste.

Nach der Vereidigung des neuen SPD/AL-Senats am 16.3.89 übernahm der bisherige sicherheitspolitische Sprecher der SPD, Erich Pätzold, das Kommando im Innensenat.

Pätzold, der zum rechten Flügel seiner Partei zählt, hat in den letzten ca. 2 Jahren einen erstaunlichen Lernprozeß durchgemacht. Insbesondere durch persönliche Erfahrungen bei der Beobachtung von Demonstrationen wie auch als Zielobjekt des Berliner Verfassungsschutzes hat er sich auf seine alten Tage noch zu einem scharfen Kritiker bestehender Sicherheitskonzepte gewandelt. Seine demonstrativ zur Schau getragene Sympathie für seine alternativen RegierungspartnerInnen dürfte z.T. sogar echt sein.
Bezüglich seiner neuen Aufgaben setzt Pätzold beim Verfassungsschutz auf mehr Offenheit und personellen Abbau; bei der Polizei vorwiegend auf Deeskalation. Dies entspricht im übrigen auch den Koalitionsvereinbarungen von AL und SPD (vgl. die auszugsweise Dokumentation in diesem Heft).

1.3 Die Berliner Polizeiführung

Ein Bild ganz besonderer Art bietet seit einigen Jahren die Berliner Polizei. Seit Jahrzehnten unter sozialdemokratischer Regierungsverantwortung – davon 18 Jahre lang geprägt durch den SPD-Polizeipräsidenten Klaus Hübner – war der Machtwechsel von 1981 insbesondere für viele Führungsbeamte ein traumatisches Erlebnis. Knallhart hatte vor allem das Brechstangengespann Kewenig/ Müllenbrock mit seiner rigorosen Personalpolitik die sozialdemokratische Machtelite in der Innenverwaltung und der Polizei kaltgestellt, wo immer das Beamtenrecht dazu eine Möglichkeit bot. Die Reihen der „Hübnerianer“ wurden konsequent gelichtet und mit Hardlinern aus dem Umfeld der CDU durchsetzt. Stark vertreten blieb die Kaste jener Opportunisten, denen die eigene Karriere stets die wichtigste Überzeugung ist. Förmlich über Nacht, so wird in Polizeikreisen kolportiert, hätten nach dem Wahlsieg der CDU damals Führungsbeamte ihre SPD-Parteibücher gegen die plötzlich aktuelleren getauscht. Die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Polizisten (vgl. CILIP Nr.30, S.67) schmolz nach der Berliner Wende von rund 3.500 auf ca. 500 Mitglieder, die ihr die Treue hielten.

Die installierte oberste Ebene der Polizeiführung gleicht mittlerweile eher einer Operettenbesetzung. An ihrer Spitze steht als amtierender Polizeipräsident Georg Schertz, ein Mann aus der Justizverwaltung. Nach dem 1. Mai 1987 wurde er binnen 14 Tagen in sein neues Amt gehoben. Klaus Hübner hatte, nach etlichen Schikanen, bereits zu Beginn des Jahres `87 seine Entlassung durchgesetzt, nachdem er nicht einmal mehr eigenverantwortlich über die Bereifung seiner Dienstfahrzeuge entscheiden durfte. Die blitzartige Neu-besetzung nach wochenlanger Untätigkeit hatte einen Grund; Berlin erwartete den Besuch von US-Präsident Ronald Reagan. Nach dem Desaster am 1. Mai 1987 wurde deshalb dringend ein Kopf benötigt, den man bei einem ähnlichen Verlauf der angekündigten Protestdemonstrationen dann problemlos rollen lassen könnte. Außer dieser Eignung besitzt Schertz denn auch nichts, was einen Polizeiführer normalerweise ausmacht (fehlenden „Stallgeruch“ eingeschlossen), so daß selbst die Underdogs im Polizeidienst, die Wachpolizisten, ungewohnt frech erzählen: „Der spielt doch nur den Polizeipräsidenten.“

Ihm zur Seite als Vizepräsident steht Martin Lippock, der frühere Leiter der Polizeiabteilung im Innensenat. Er verdankt sein Pöstchen hauptsächlich seinem CDU-Parteibuch. Zwar übernahm er sein Amt noch zu Zeiten sozialdemo-kratischer Stadtherr-schaft, doch galt damals auch noch der später von der CDU aufgekündigte Grundsatz von der Verantwortungsgemeinschaft in Sicherheits-fragen. In concreto trat er über die Jahre kaum in Erscheinung. Er ist ein schlichter Verwaltungs-mann, mittlerweile kurz vor der Pensionierung stehend und schwer krank.

Als nächste in der Kleiderordnung folgen der Landespolizeidirektor und der Landeskriminaldirektor. Berlins oberster Kriminaler Hans-Joachim Leupoldt (parteilos) übernahm diesen Posten im März 1987 von Manfred Kittlaus, der ein knappes halbes Jahre zuvor auf den Sessel des ranghöchsten Schupos wechselte und damit in der Hierarchie den dritten Platz einnimmt. Sonderlich begeistert kann Leupoldt, ehemaliger Leiter der Direktion 5 (Kreuzberg/Neukölln), der seinen „Sprung ins kalte Wasser“ für „keine schlechte Methode zu lernen“ ansieht, bei seiner Amtseinführung dennoch nicht gewesen sein, denn beworben hatte er sich ursprünglich nicht. Dazu mußte er von seinem Dienstherrn erst mit dem sanften Hinweis überredet werden, ansonsten werde eben kein Kripobeamter diese Stelle erhalten, sondern ein Staatsanwalt. Der Appell an den Dünkel der Kriminalpolizei tat Wirkung und kurz vor Toresschluß ging Leupoldts Bewerbung beim Innensenat ein. Erwartungsgemäß erhielt er die Ernennung. Seither führt Leupoldt sein Amt eher leise. Öffentlich tritt er kaum in Erscheinung und auch Internes wird kaum über ihn kolportiert.

Eine gänzlich andere Erscheinung ist da schon sein Vorgänger, der heutige Landespolizeidirektor Kittlaus. Der Werdegang des SPD-Rechtsauslegers gleicht einer Bilderbuchkarriere, nachdem ihm sein früherer Verwaltungsjob in der Bauabteilung zu langweilig geworden war. Von der Kripo im Bezirk Spandau führte ihn sein Weg über die Mordkommission zum Staatsschutz, dessen Leiter er 1975 wurde.

Der nächster Sprung erfolgte dann 1982 unter CDU-Regie, als er an seinem Vorgesetzten und Mitbewerber vorbei zum Landeskriminaldirektor befördert wurde. Seit Herbst 1986 trägt er die Uniform mit den goldenen Eichenblättern. Vorbei an allen bestehenden Befehlsstrukturen sollte ihm zum Jahreswechsel 1988/89 die von der Innenverwaltung längst auf 500 Mann hochgeplante Skandaleinheit EbLT direkt unterstellt werden. Obwohl nicht gänzlich unumstritten, ist er der eigentliche starke Mann in Berlins Polizeiführung. Bis zur Wahl am 29. Januar d.J. hatte er gute Aussichten, im Zuge der nächsten, von Kewenig vorgesehenen Rochade Polizeipräsident zu werden. Das ist nun plötzlich anders: jetzt kann man ihn einfach nicht mehr loswerden. Niemand weiß das besser, als der Technokrat Kittlaus.
Dies waren, knapp dargestellt, die hauptsächlichen Interessenkoordinaten, innerhalb derer sich der diesjährige 1. Mai abspielte.

2. Berlin-Kreuzberg, 1. Mai 1989

In ihren wesentlichen Zügen waren diese „Koordinaten“ auch den Beteiligten bekannt. Dennoch begaben sich SPD und AL mit unglaublicher Blauäugigkeit in einen Tag, von dem sie hätten wissen müssen, daß er leicht zur ersten echten Bewährungsprobe für die junge Koalition werden könnte. Außer einem informellen Kontaktgespräch mit dem Einsatzführer einige Tage zuvor, fanden Vorbereitungen für ein eventuelles Krisenmanagement seitens der AL nicht statt. Zu verführerisch war offenbar der Gedanke, daß dem, der reinen Herzens ist, auch nur reinen Herzens begegnet werden kann.

Erich Pätzold, der neue Innensenator, verstiegt sich gar in die Idee, „als Friedensfürst auf den Lausitzer Platz zu reiten“, wie es der CDU-Abgeordnete Landowsky später treffend formulierte. Ein von den Polizeioberen unter der Hand erstelltes Besprechungsprotokoll, das später noch eine wichtige Rolle spielte, hält zu diesem Punkt fest: „SenInn gibt bekannt, daß er gegen 16.00 Uhr selbst auf dem Fest erscheinen wird und sich dort möglicherweise mit Vertretern der AL (…) und der örtlichen SPD treffen will“. Nur schwerlich war ihm diese Idee schlußendlich wieder auszureden.

Nicht so bei den eingangs skizzierten Teilen der Kreuzberger Szene. Sie bereitete sich vor und die Randale erfolgte denn auch prompt.

2.1 Die Kreuzberger Szene

Bereits in der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai probte die Szene rund um den Heinrichplatz, im Herzen des Rabatzbezirkes SO 36, schon mal den Aufstand für den kommenden Tag. Gut 300 „Streetfighter“ lieferten sich um ein sporadisch besetztes Haus bis weit nach Mitternacht ein Geplänkel mit der Polizei. Aber dieser „Probelauf“ für den Tag darauf blieb folgenlos; als „Warnsignal“ mochte die Polizeiführung diese Auseinandersetzung nicht werten. Das ist bemerkenswert, denn Gründe dafür gab es genug: Seit drei Monaten lief bereits der Hungerstreik von über 40 Gefangenen aus der RAF und dem sogenannten Widerstand. Der Staat zeigte sich unnachgiebig und es stand zu befürchten, daß eine/r der Gefangenen im Hungerstreik sterben könnte. Diese festgefahrene Situation und die eigene Ohnmacht, daran etwas ändern zu können, war mit ein entscheidender Grund für einen Großteil der Szene, ihren Zorn an diesem 1. Mai abzulassen. Zum anderen hat sich die soziale Situation für Tausende von Menschen im Kreuzberger Ghetto-Bezirk SO 36 trotz vieler Versprechungen nicht geändert. Diese Mischung aus Kräften, für die SO 36 das Hinterland für ihren Kampf gegen den „Bullenstaat“ bildet, und den sozial Deklassierten, die ohnehin nichts mehr zu verlieren haben, brachte dann auch prompt am 1. Mai den von allen erwarteten Zoff. Was sich dann abspielte, hatte allerdings nichts mit einem „Riot“ (Aufstand) zu tun, wie viele aus der Szene es gerne bewertet haben möchten. Ganz davon abgesehen, daß eine Straßenschlacht mit der Polizei noch lange kein „Riot“ ist, saßen diesmal die Helfer der Randale auf Seiten der Polizei selbst. Denn ebenfalls vorbereitet, wenn auch ganz anders, war die Polizeiführung.

2.2 Die Planungen der Polizei und ihrer politischer Führung

In der Einsatzbesprechung am 24. und 27. April legte die Polizeiführung Pätzold ihren Plan – Codewort „Trabant“ – für den 1. Mai vor. Anwesend waren:
Der Innensenator Pätzold, sein Polizeipräsident Schertz, der vorgesehene Leiter des 1. Mai-Einsatzes, den leitenden Polizeidirektor Heinz Ernst von der Kreuzberger Direktion 5, Landespolizeidirektor Manfred Kittlaus und die Polizeiführer Krähn und Fischer. Der von Ihnen vorgelegte Plan hatte alle Eventualitäten einbezogen.

Für den Fall eines unfriedlichen Verlaufs der „revolutionären 1. Mai-Demonstration“ sollten starke Polizeikräfte in der Nähe des Demonstrationszuges bereitstehen, um einen „schnellstmöglichen Übergang in Phase II – unfriedlicher Verlauf“ mit den Zielen sicherzustellen:

* Besetzen von Stationspunkten und Betreiben von Raumschutz-maßnahmen, Unterbindung von un-friedlichen Aktionen,
* Verhindern und Unterbinden von Straftaten und Störungen,
* gezielte Festnahmen von Straf-tätern und Störern,
* Überwachung von Gefahrenstellen,
* Bereithalten der nichteingesetzten Kräfte innerhalb des Abschnitts an verdecktem Ort,
* weitere Kräfte an taktisch günstigen Punkten südlich des Landwehrkanals bereitzuhalten,
* Überwachen der Geschäftsstraßen und Einkaufszentren,
* Durchführen von Überwachungsmaßnahmen und Vorkontrollen am Demo-Sammelplatz,
* seitliche Begleitung erkannter „Störer“,
* Verhinderung von Ausschreitungen gegen bzw. aus dem Aufzug,
* Durchsetzen des Vermummungsverbotes,
* Objektschutz entlang der Marschstrecke,
* Verhinderung des Abmarsches eines geschlossenen Störerblocks.
Soweit einige Details aus der Planung der Polizei für den Einsatz am 1. Mai. Dafür standen folgende Polizeikräfte zur Verfügung:
Zu Beginn des Einsatzes gegen
– 13.00 Uhr: 1.087 Beamte,
– 14.52 Uhr: 1.209 Beamte,
– 15.12 Uhr: 1.344 Beamte,
– 19.53 Uhr: 1.479 Beamte,
– 21.38 Uhr: 1.562 Beamte,
die dann bis 22.00 Uhr auf 1.765 Beamte, einschließlich der Sondereinheit SEK, verstärkt wurden. Aber zu dieser Zeit hatte sich der Polizeieinsatz längst zu einem massiven Desaster entwickelt.

Aber kehren wir erst einmal zurück zu den Besprechungen der Polizeiführung mit ihrem Senator am 24. April und – auf Wunsch der Polizei – nochmals am 27. April. Pätzolds Vorgaben waren klar:
* Gegen Gewalttäter ist entschlossen vorzugehen, aber im Verhältnis zu allen anderen Bürgern sei große Sensibilität zu zeigen.
* Unabhängig von allgemein vereinbarten Leitlinien solle jeder verantwortliche Polizeiführer selbst entscheiden, welche gebotenen Maßnahmen er für die jeweilige Situation trifft, um Auschreitungen zu verhindern.

Die Polizeiführer interpretierten die politischen Vorgaben des Senators auf ihre Weise um und fertigten über beide Gespräche ein Protokoll. Das legten sie zwar nicht mehr dem Senator vor, der erst später aus der Springerpresse überhaupt von dessen Existenz erfuhr, sondern gaben es quasi als „Deeskalations-Anweisung“ Pätzolds in die Polizei. In der einen Monat später vorgelegten Rechtfertigungsschrift des Polizeipräsidenten wird auch klar, warum Pätzold diese Protokolle nicht mehr vor dem 1. Mai zu sehen bekam: Die Polizeiführung hatte die „Weisungen“ des Senators auf das Merkwürdigste uminterpretiert und damit die Voraussetzungen geschaffen, den rot-grünen Senat kräftig in die Pfanne zu hauen:

Aus dem Bericht des Polizeipräsidenten Schertz“4. Am 24. und 27. April 1989 wurden zwischen der Polizei und der Senatsverwaltung für Inneres Informationen und Auffassungen u.a. bezüglich des Verlaufs der geplanten Veranstaltungen am 1. Mai ausgetauscht. Über die Besprechungen wurden durch das Dezernat Präsidiale Angelegenheiten Niederschriften für die Polizeibehörde gefertigt.

Der Charakter der vom Innensenator geäußerten Auffassungen ist zwischen Polizeibehörde und Senatsverwaltung für Inneres strittig. Die Polizei bewertete die vom Innensenator gemachten Äußerungen in ihrer Qualität als Weisungen.
Der Vermerk über die Besprechung vom 24. April 1989 wurde der Direktion 5 (der Direktion 3 auszugsweise) übersandt. Dort wurde für die Einsatzvorbereitungen eine anlaßbezogene auszugsweise Abschrift über diejenigen Punkte gefertigt, die als politische Vorgaben und Leitgedanken bei der Maßnahmenabwicklung zu beachten waren.

Im wesentlichen waren davon betroffen:
– die Foto- und Videoaufnahmen durch die Polizei,
– das Begleiten/Ein-schließen von Aufzügen,
– das Einschreiten gegen vermummte Personen,
– das Bereitstellen und Zeigen von Einsatzkräften.Die Abschrift ist im Wortlaut als Anlage 1 beigefügt.
Die Einsatzkonzeption vom 21. April 1989 für den Aufzug hat sich daraufhin wie folgt geändert:
– kein Vorgehen gegen Vermummung, einschließende Begleitung erst nach Begehung von Straftaten,
– eingeschränkte Vorbereitungen zur Dokumentation am Antrete- und Endplatz,
– reduzierte Objektschutzmaßnahmen entlang des Marschweges.“

Mit Brief an seinen Polizeipräsidenten beschwerte sich am 7. Mai dann auch der Senator auf heftigste über die „Fehlinterpretation“ seiner „Vorgaben“:

„Schwerwiegend ist, daß in Ihrem Protokoll weitere zentrale Äußerungen von mir gänzlich fehlen, wie etwa der nachdrückliche Rat, sich vorsorglich auf eine viel höhere Teilnehmerzahl bei der autonomen Demonstration einzustellen und entsprechend starke Polizeikräfte hautnah bereitzuhalten… Schwerwiegend ist, daß mir etwa Äußerungen über eine restriktive Haltung zu Festnahmen in den Mund gelegt werden. Wenn Sie, Herr Präsident, wie öffentlich geäußert, den Eindruck gehabt haben sollten, ihr notwendiger Handlungsspielraum sei sachwidrig auf Null eingeengt worden, hätte jeder – zu jedem Zeitpunkt – die beamtengesetzliche Pflicht gehabt, zu remonstrieren.“

Aber die sturmerprobte Berliner Polizei handelte an jenem 1. Mai wie die drei weisen Affen: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Zunächst ging sie beharrlich davon aus, daß an der Demonstration allenfalls nur 2.000 Personen teilnehmen würden, obowhl es auch andere Informationen gab. Auch die Meldung des Verfassungsschutzes, die das polizeiliche Lagezentrum am 1. Mai um 11.17 Uhr erreichte, änderte nichts an dem Konzept der Polizeiführung. Der VS hatte gemeldet: „…Daß nach Absichtserklärungen, die der Abteilung IV aus dem gewaltbereiten linksextremistischen Spektrum bekanntgeworden seien, für die sogenannte revolutionäre 1. Mai-Demonstration und danach mit Ausschreitungen zu rechnen sei.“

Mit der Aufteilung des vermeintlichen Zentrums der Randale in vier Unterabschnitte war das Desaster bereits vorprogrammiert. Der Einsatzleiter für diese Tag war Ltd. PD Heinz Ernst. Die Einsatzleitung für den besonders heißen Bereich um den Lausitzerplatz herum, den Unterabschnitt II, hatte aber der in solchen Einsätzen unerfahrene Polizeioberrat Hinske.

2.3 Der Ablauf der Ereignisse

Aber folgen wir der Chronologie der Ereignisse:
Um 13.30 Uhr setzt sich der Demonstrationszug in Bewegung, nach Polizeiangaben zunächst etwa nur 1.200 Personen. Bereits um 14.00 Uhr wird ein Verkehrspolizist mit Steinen beworfen und derart bedrängt, daß er die Pistole zieht. Von da an sollte dann der „unfriedliche Verlauf“ bis weit nach Mitternacht anhalten. Scheiben von Spielsalons und Sex-Shops entlang der Route werden eingeworfen. Bis 15.30 Uhr zählt die Polizei ca. 8.000 Teilnehmer und zwei zerstörte PKWs; die Scheiben von sieben Spielsalons und Sex-Shops sind zerstört, ein Supermarkt ist bereits geplündert. Außer an der Spitze und am Schluß der Demonstration sind keine Polizeikräfte in der Nähe. Auch der angekündigte Objektschutz ist nicht vor Ort, sondern taucht in der Regel erst auf, wenn die Demonstration bereits vorbei ist und die Scheiben zerstört sind. Starke Polizeikräfte stehen zu dieser Zeit zwar in Reserve – allerdings weit weg vom Geschehen. Entlang der Demo klirren weiter die Scheiben von Banken, Supermärkten, Spielhallen und Videoläden. Erst als die Demonstration, mit inzwischen noch 6.000 TeilnehmerInnen, kurz vor ihrem Endplatz ankommt, rückt um 15.30 Uhr eine Einsatzbereitschaft (EB – etwa jeweils 50 – 70 Polizisten) zur seitlichen Begleitung an. Fast zwei Stunden konnte die längst unfriedliche Demo ihrer Wege ziehen, ohne daß die Polizei ihre eigenen Vorgaben umsetzte: Kein Objektschutz, keine einschließende Begleitung.

Vom Endpunkt der Demonstration zieht gegen 16.30 Uhr ein auf ca. 400 Personen geschätzter Block Vermummter unter anhaltenden Steinwürfen auf Polizisten und Objekte in Richtung Lausitzer Platz. Dort ist das Kiezfest in vollem Gang und einige tausend Menschen schieben sich mit Kind und Kegel um das Platzviereck. Um 16.46 Uhr wird ein Getränkeladen nördlich des Lauseplatzes geplündert. Mit einem Steinhagel und Barrikaden aus Großkontainern wird die EB 52 empfangen. Bis 17.00 Uhr sind bereits drei weitere EBs nördlich des Platzes in heftige Auseinandersetzungen mit den „Störern“ verwickelt:

„Vorsicht! Gewaltpotentiale vor Ort!“- kommt es jetzt über die Funkgeräte. Um 17.17 Uhr setzt die Polizei das erste mal massiv Tränengas ein. Ohne Panik, aber in hektischer Eile, räumen Platzbesucher wie Veranstalter den Festplatz. Brennende Autos sind auf der Straße und eine heftig in Bedrängnis geratene Polizei befindet sich nördlich des Platzes, als sich auf der südlichen Platzseite, direkt am alten Görlitzer Bahnhof, die Ereignisse überschlagen. Der Polizeibericht hält fest: Störer blockieren Kreuzung, Steine auf Polizei, Steinhagel, massive Steinwürfe, Gullideckel entfernt, Barrikaden, Stahlkugel-Beschuß und wieder Steinwürfe und Mollis. Bis 20.00 Uhr, der Verkehr der U-Bahn-Linie 1 ist bereits eingestellt, hat die Polizei rund um den Lauseplatz 11 EBs, eine Wasserwerferstaffel und zwei Sonderwagen (SW, Räumpanzer) im Einsatz.

Tatsächlich mit den „Störern“ konfrontiert, waren aber nur 5 der 11 EBs. Diese 5 EBs hatten das Pech, dem Unterabschnitt II, im Kern des „Krisengebietes“, zugeteilt worden zu sein. Die nördliche Grenze zum Unterabschnitts I verlief entlang der Manteuffelstraße, also nur wenige hundert Meter von der heißen Zone entfernt. Dort standen dann bis 22.00 Uhr weitere 7 EBs in Reserve und mußten die Hilferufe ihrer Kollegen bis 22.00 Uhr untätig mitanhören. Im Polizeibericht liest sich diese Phase so:
– „19.25 Uhr: Görlitzer Bahnhof, Kräfteanforderung, 3 EBs reichen nicht.
– 19.32 Uhr: Waffe eines Beamten entwendet.
– Gaslaterne, Gas strömt aus.
– 19.53 Uhr: Massive Stein- und Molliwürfe, Zwillenbeschuß.
– Hindernisse auf Fahrbahn.
– 20.14 Uhr: 1.300 Personen, davon 800 harte.
Wasserwerfer 9000, CN wird angefordert.
– 20.44 Uhr: Unterstützungkräfte können Einsatzort nicht erreichen. Befehlsstelle zurückziehen. Nicht möglich, Steine und Mollis massiv.“

Inzwischen hat sich ein Wasserwerfer im weichen Sand des Görlitzer Bahnhofs festgefahren. Eine Stunde muß die eingeschlossene Besatzung warten, bis es ihr möglich ist, das Ungetüm unbeschadet verlassen zu können. Bis 22.00 Uhr, als die Auseinandersetzungen abzuflauen beginnen, sind tatsächlich nur 609 Beamte direkt an der „Front“ im Einsatz, während nur 100 Meter weiter, im Unterabschnitt I, die ganze Zeit über 680 Beamte in Reserve stehen. Aber nicht nur dort steht Reserve. Drei EBs stehen beispielsweise die ganze Zeit über weit abgesetzt vor dem Rathaus Schöneberg. Andere warten an der Skalitzer-/Ecke Prinzenstraße und eine EB ist lediglich mit einer Gulaschkanone unterwegs. Bereits um 20.00 Uhr verlangt der Einsatzleiter der SEK den Einsatzbefehl für seine 48 Mann. Um 22.00 Uhr kann er dann endlich, wohin er will. Im Führungsstab (FüSta) sitzen der Leiter des Gesamteinsatzes, Ernst, sein Stellvertreter PD Döhring (1987 Fähnleinführer der EbLT nach Wackersdorf) und Landespolizeidirektor Kittlaus, dem Chaos über Funk lauschend. Einsatzleiter im Brennpunktbereich des UA II ist ja ein anderer.

Während Führung und Einsatzbereitschaften im einen Abschnitt ständig überfordert sind, stehen Hunderte von Polizisten nicht weit entfernt zur Untätigkeit verurteilt. Einheiten, die sich anbieten, werden nicht eingesetzt, andere Bereitschaften sogar mitten im Einsatz zurückgepfiffen. Zu einem solchen Ergebnis kommt später auch eine Polizeiexpertengruppe unter Leitung des pensionierten ehemaligen Chefs der Bereitschaftspolizei in NRW, Dr. Gint-zel.

Aus dem Bericht der Gintzel-KommissionWelche Vorgänge haben die Lage am 1. Mai 1989 maßgeblich mitbestimmt?

Die seit dem 1. Mai 1989 in der Öffentlichkeit und innerhalb der Berliner Polizei geführte Diskussion um die Vorgänge am 1. Mai 1989 in Berlin hat zu Vorwürfen geführt, denen die Arbeitsgruppe nachgegangen ist.
Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen:

a) Nach dem 27. April 1989 gab es ernsthafte Hinweise auf beabsichtigte Ausschreitungen am 1. Mai 1989, die bei der Einsatzplanung nicht hinreichend berücksichtigt wurden.

b) Die rechtlichen Grenzen polizeilichen Verhaltens und die Absichten des Polizeiführers des Einsatzes (PfdE) sind in den Einsatzbesprechungen nicht präzise aufgeführt worden. Laxe Einsatzhinweise bezüglich Vorkontrollen, Sicherstellung von Waffen, Festnahme von Personen und die Behandlung von Aufklärungsergebnissen haben die Absichten des PfdE beim Vorgehen gegen Rechtsbrecher nicht klar erkennen lassen.

c) Trotz veränderten Lagebildes hat es keine Vorkontrollen wie im Jahre 1988 gegeben, mit der Folge, daß bewaffnete Straftäter am Aufzug teilnehmen konnten.

d) Weisungen des Senators für die Senatsverwaltung für Inneres hinsichtlich des Mitführens von Polizeikräften in Seitenstraßen und des schnellen Zugriffs bei begangenen Straftaten sind nicht beachtet worden.

Aufträge aus dem Durchführungsplan vom 26. April 1989 zu/zum
– Vorkontrollen
– seitlicher Begleitung erkannter Störer
– Verhindern von Ausschreitungen aus dem Aufzug
– Durchsetzen des Vermummungsverbots
– Objektschutz entlang der Marschstrecke
– Verhindern des Abmarschs eines geschlossenen Störerblocks nach Kundgebungsende sind nicht lageangepaßt ausgeführt worden, zumal sich nach Aufklärungsergebnissen schon am Antreteplatz zahlreiche erkennbar zur Gewaltanwendung entschlossene und zum Teil mit Knüppeln bewaffnete, vermummte Straftäter befanden.

e) Die Gegenaufklärung des Störers berichtete laufend in den Aufzug hinein, daß trotz schwerer begangener Straftaten weit und breit keine Polizei zu sehen sei. Dies ermunterte zunehmend mehr gewaltbereite Personen, sich an den Ausschreitungen zu beteiligen.

f) Die Angaben über die Zahl der im Aufzug vorhandenen Gewalttäter, von der die Einsatzleitung ausging (ca. 150), weicht von der Realität (800) erheblich ab.

g) Präzise Aufklärungsergebnisse über schwere Straftaten, die von Anfang an aus dem Aufzug heraus begangen wurden, haben den für den störungsfreien Verlauf des Aufzugs verantwortlichen Polizeiführer nicht erreicht.
Erst nach Plünderung eines Penny-Marktes in der Reuterstraße habe er sich zu einer seitlichen Begleitung, die erst nach weiteren 45 Minuten eingenommen wurde, entschlossen.
Die Kräfte mußten über weite Wege herangeführt werden. In der Zwischenzeit war es zu erneuten schweren Straftaten gekommen.

h) Die Zahl der zunächst zur seitlichen Begleitung im Zuge der Werbellinstraße eingesetzten Polizeikräfte war angesichts der vorausgegangenen schweren Straftaten zu gering, so daß es zu sehr bedrohlichen Situationen für die eingesetzten Beamten kam.

i) Große Gruppen von Aufzugsteilnehmern sind nach der Abschlußkundgebung von der Polizei in den Kreuzberger Kiez begleitet worden, obwohl das Verhindern des Abmarschs eines geschlossenen Störerblocks angeordnet war.

j) Die Einsatzleitung hat insbesondere im Raum Lausitzer Platz, Skalitzer Straße, Görlitzer Bahnhof u.a. ihre Taktik nicht auf das Störerverhalten eingestellt. In diesem Zusammenhang wurde auch über erhebliche Führungsdefizite berichtet.

k) Neu in den Einsatzraum entsandte Polizeikräfte erhielten keine Hinweise auf die Brutalität der Straftäter und auf Besonderheiten des Einsatzraumes. Dies führte zu überraschenden gefährlichen Konfrontationen mit dem Gegenüber.

l) Es gab keine Konzeption für gezielte beweissichere Festnahmen. Das am Augustaplatz in Steglitz ab 18.00 Uhr bereitgehaltene SEK wurde erst nach 22.00 Uhr eingesetzt, obwohl es sich angesichts der über Funk mitverfolgten Lageentwicklung mehrmals angeboten hatte.

m) Hilferersuchen von äußerst bedrängten Polizeikräften ist nicht entsprochen worden, obwohl sich Reservekräfte in Unterkünften oder in der Nähe befanden und sich angeboten haben.

n) Es ist nicht versucht worden, den über eine Stunde lang auf einem Hügel am Görlitzer Bahnhof versammelten Kern von über 200 vermummten Straftätern einzuschließen und vorläufig festzunehmen. Aufgrund der örtlichen Gegebenheiten waren die Voraussetzungen für eine wirksame polizeiliche Maßnahme außerordentlich günstig.

o) Den ganzen Tag über sind immer wieder zum Teil dieselben Geschäfte geplündert worden, obwohl Objektschutzmaßnahmen angeordnet waren.

p) Einem Abschnittsleiter sind zehn Einsatzbereitschaften unterstellt worden, ohne daß dieser über das erforderliche Führungsinstrumentarium verfügte und darüber hinaus im Führen so umfangreicher Polizeieinheiten ungeübt war.

q) Am 1. Mai 1989 sind „Minen gelegt worden, um den rot-grünen Senat auflaufen zu lassen“.

Die Arbeitsgruppe ist den z.T. widersprüchlichen, brisanten Aussagen in den Medien und in den dienstlichen Verlaufsberichten Beteiligter nachgegangen. Sie hat mit zahlreichen Beamten, die in unterschiedlichsten Funktionen am Einsatzgeschehen beteiligt waren, Gespräche geführt. Dabei konnte ein Großteil der genannten Vorwürfe nicht entkräftet werden.“

3. Einschätzung/ Schlußfolgerungen: Obristen-Aufstand

Bereits durch die geschilderten Einsatzabläufe drängen sich Zweifel auf, ob man es hier lediglich mit einem handwerklich dilettantisch ausgeführten Polizeieinsatz zu tun hat. Der gesamte Vorlauf und insbesondere das Nachspiel machen endgültig klar, daß es sich um eine inszenierte Schlappe handelte: Das Führungscorps in der Landespolizeidirektion putschte gegen Rot-Grün!
Diese, inzwischen ernsthaft nicht mehr zu bestreitende Behauptung rief zunächst bei vielen Unglauben hervor: allzu interessiert mußten gerade die rot-grünen Koalitionäre an einer solchen Legendenbildung sein.

Die autonomistischen AktivistInnnen des 1. Mai sind nach wie vor nicht bereit, sich ihren „Sieg“ von der Polizeiführung schenken zu lassen; bei bürgerlichen Beobachtern kommt bei einer solchen Vorstellung zudem noch ein starkes Unbehagen auf. Folgerichtig war es für den Kommentator der „Frankfurter Rundschau“ denn auch undenkbar, daß sich hohe Berliner Polizeiführer zu einer Verschwörung zusammengefunden haben sollen. Ein solches Bild, allenthalben offenbar verbunden mit dem blutigen Gebaren südamerikanischer Putschgeneräle oder der Hollywood-Version von maskierten Männern in düsteren Katakomben, ist in der Tat unrealistisch. Derartige Requisiten sind auch schlicht überflüssig. Grundsätzlich notwendig ist nicht einmal eine direkte Vereinbarung über beabsichtigtes Handeln. Ausreichend sind gelegentliche Randbemerkungen, mit denen sich die Beteiligten gegenseitig ihrer Grundhaltung versichern. Der Rest vollzieht sich offen, formal korrekt und bürokratisch: zumeist durch Unterlassungen.

So war den Autoren beispielsweise durch Informationen aus der mittleren Führungsschicht der Berliner Polzei frühzeitig bekannt, das Landespolizeidirektor Kittlaus beabsichtigte, den Einsatz – ebenso wie im Vorjahr – selbst zu leiten – eine Entscheidung, die angesichts des neuen politischen Stils und der absehbaren Brisanz sicherlich als gerechtfertigt gelten kann. Irgendwann wurde dieser Entschluß geändert und die Einsatzleitung auf den für Kreuzberg zuständigen Direktionsleiter Ernst übertragen. Auch dies ist eine Entscheidung, die formal nicht zu beanstanden ist. „Kommißkopp“ Ernst, im Referat Öffentliche Sicherheit für Angelegenheiten und Einsätze der Geschlossenen Einheiten zuständig, bevor er 1987 die Nachfolge Leupoldts als Chef der Direktion 5 antrat, gilt in der Polizei als knallharter Stratege. Seinen politischen Standort hat er durch sein Eintreten für die Partei der rechtsradikalen „Republikaner“ zudem polizeiöffentlich ausreichend bekundet. Die Planung des Einsatzes „Trabant“ erledigte er offenbar auch zur allgemeinen Zufriedenheit; daß es Vorbehalten gegen sein Einsatzkonzept gegeben hätte, wurde bisher nicht bekannt. Dabei kann es als unwahrscheinlich gelten, daß erfahrenen Polizeiführern wie Kittlaus und anderen die Schwächen des Planes nicht von vornherein klar gewesen sein sollen. Auch daß Kittlaus, der sich während des gesamten Einsatzes im Lagezentrum befand und das sich abzeichnende polizeiliche Debakel so live miterlebte, die Einsatzleitung nicht nachträglich übernahm, ist mit der Problematik, die ein Führungswechsel im laufenden Einsatz aufwirft, nur unzureichend zu erklären.

Ist das Geschehen so weit schon mehr als seltsam, so sprechen die Ereignisse im Anschluß an das Einsatzdesaster eine immer deutlichere Sprache. Die Aufräumarbeiten in Kreuzberg hatten gerade erst begonnen, da stellte der GdP-Funktionär Klaus Eisenreich der Öffentlichkeit im Springerblatt „BZ“ das bereits erwähnte, von der Polizei in Eigenregie erstellte und, entgegen sonstigen Gepflogenheiten von der Innenverwaltung nicht gegengezeichnete Protokoll einer Dienstbesprechung mit dem Innensenator vor, mit dem bewiesen werden sollte, daß die Polizei durch Anweisungen Pätzolds am sinnvollen Einschreiten gehindert wurde. Erstaunlich an diesem Vorgang war zunächst einmal das offenen Auftreten Eisenreichs; ein für einen „Durchstecher“ äußerst ungewöhnliches Verhalten, das auf höchste Protektion innerhalb der Polizeigewerkschaft und der Landespolizeidirektion schließen läßt. Auch der Umstand, vom Corpus delicti kein Faksimile zu finden, womit ansonsten gern Authentizität bewiesen wird, macht mißtrauisch.

Stattdessen knappe, zumeist indirekt formulierte Darstellungen. Konkreteres wurde erst im Laufe der näch-sten Tage bekannt.

Innensenator Pätzold, inzwischen zur Klammer des Regierungsbündnisses geworden, indem er durch seine Person den rechten Parteiflügel der SPD im Zaume hält, machte in der ganzen Sache zunächst keine gute Figur. Statt seinen Kontrahenten offensiv entgegenzutreten, wich er zurück und erklärte die behaupteten „Weisungen“ seinerseits zu „wechselseitigen Nachdenklichkeiten“, „Fehlinterpretationen“ und „vorauseilendem Gehorsam“.

Mit dieser Zögerlichkeit leitete er so selbst den nächsten, dreisteren Schlag gegen sich ein. Mitten in eine Fernsehdiskussion hinein, wurde er mit der offenen Meuterei des eher als willfährig bekannten Polizeipräsidenten konfrontiert. Via Monitor erklärte Schertz, der Handlungsspielraum der Polizei sei durch politische Anweisungen „auf Null reduziert“ worden. Er halte die vom rot-grünen Senat verfolgte Politik der Deeskalation für gescheitert; „Ich muß sagen, nach den Erfahrungen dieses 1. Mai ist das Prinzip der Deeskalation gegenüber diesem militanten Potential als gescheitert zu betrachten. In der Verantwortung meines Amtes kann ich es weder der Stadt noch meinen Beamten gegenüber – ich hatte 322 verletzte Beamte – vertreten, daß wir dieses noch ein zweites Mal erleben.“

Endlich reagierte Pätzold und kündigte die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission unter Federführung des ehemaligen Leiters der nordrhein-westfälischen Bereitschaftspolizei, Dr. Kurt Gintzel, an.

Zur Person des Dr. Gintzel

Gintzel, eher als Polizeirechtstheoretiker bekannt, kann durchaus auf fragwürdige Leistungen verweisen. Er ist der geistige Vater des Kalkar-Einsatzes vom 24.09.77, mit dem die BRD faktisch unter Ausnahmerecht gestellt wurde. Polizei- und BGS-Truppen besetzten damals über Nacht nahezu alle Verkehrsknotenpunkte – der Autobahnverkehr in weiten Teilen der Republik brach in der Folge völlig zusammen.

Maschinenpistolenbewehrte Posten kontrollierten jeden Reisenden, der auch nur entfernt nach Demonstrant aussah. Ganze LKW-Ladungen an vermeintlichen „Waffen“ in Form von Wagenhebern, Benzinkanistern, Motorradhelmen und Zitronen wurden beschlagnahmt. Tausende von Demonstrationswilligen konnten Kalkar nicht erreichen, weil sie, umgeben von einem dichten Polizeikordon, auf Autobahnparkplätzen stundenlang in ihren Bussen festgehalten wurden.

Auf Einladung Kittlaus‘ trafen sich daraufhin sämtliche Direktions- und Dezernatsleiter. Einziger Besprechungspunkt dieser mit Machtinteressen und Korpsgeist verschweißten Gruppe: die Gintzel-Kommission. Einmütig forderten die Polizeioberen – ein bislang einmaliger Vorgang – anstelle dieser fach- und sachkundigen Expertengruppe einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuß. „Die Obristenrevolte ist sofort niederzuschlagen“, soll Pätzold wütend geäußert haben, als ihm einen Tag später, der entsprechende Brief zugestellt wurde – und nun machte er Ernst. Eine Arbeitsgruppe wurde eingesetzt, die auf Grundlage des für die Polizeiführung geradezu vernichtenden Gintzel-Berichts sowie des polizeieigenen Auswertungsberichtes, den Polizeipräsident Schertz zeitgleich vorlegte, über Veränderungen im Polizeibereich nachdenken soll.

Eine Neugliederung der Führungsspitze ist im Senat (alliierte Zustimmung vorausgesetzt) bereits beschlossene Sache. Danach sollen im Zuge einer Strukturveränderung die bisherigen Stellen des Landespolizeidirektors und Landeskriminaldirektors zugunsten eines dann gleichberechtigten „Landesschutzpolizeidirektors“ und „Landeskriminalpolizeidirektors“ umgewandelt werden. Für Manfred Kittlaus ist dabei die neue Stelle des „Landeskriminalpolizeidirektors“ vorgesehen, was de facto seiner Entmachtung gleichkäme, da er der Befehlsgewalt über die Berliner Schutzpolizei verlustig ginge.

Solche Töne werden in der Polizei verstanden. Die Gewerkschaft der Polizei, in deren Reihen Kittlaus rapide an Rückhalt verliert, hat ihre Zustimmung zu den Plänen des Innensenators bereits bekundet. Lediglich CDU und Republikaner, sowie auf polizeilicher Seite die rechtsgewirkte „Deutsche Polizeigewerkschaft“ halten vorbehaltlos an ihm fest.

Auch Polizeipräsident Schertz hat inzwischen begriffen, auf welcher Seite nun sein Brot gebuttert wird; auch er befürwortet Veränderungen in der Führungsstruktur. Kittlaus selbst enthält sich klugerweise sämtlicher Kommentare; dem Vernehmen nach sucht er sein Heil im Klageweg. Wie auch immer eine solche mögliche Klage letztlich ausgehen mag, das Kainsmal wird er innerhalb seiner Mannschaften nicht mehr loswerden. Vielleicht erinnert sich der einst als erfolgreicher Terroristenjäger gefeierte Kittlaus dann ja wieder eines früher ausgeschlagenen Angebotes der Staatsschutzabteilung des BKA. Aber nein – auch dort liebt man eher die Sieger – und diesbezüglich ist dem Kommentar des bürgerlich-liberalen „Volksblatts Berlin“ nichts hinzuzufügen:
„Es war an der Zeit. Ein Polizeiführer, der mit großer Machtfülle und ebenso großem Ehrgeiz ausgestattet, massiven Einfluß auf die Innenpolitik auszuüben sucht, gehört in einem demokratischen Gemeinwesen ins hintere Glied zurückgestuft. Was den klugen Landespolizeidirektor Manfred Kittlaus auch immer bewegt haben mag, trickreich und zuletzt in recht aggressiver Manier die polizeilichen Mannen hinter sich zu scharen und gegen die politische Führung und gegen besonnene Kräfte innerhalb der Polizei zu Felde zu ziehen, sei dahingestellt. Fest steht: Er hat Schiffbruch erlitten, und recht geschiehts ihm“ (Volksblatt Berlin, 15.6.89).

Quellen:
Der Polizeipräsident in Berlin: Nachbereitung der Einsätze aus Anlaß der „Revolutionären 1.Mai-Demonstration“ und des „Straßenfestes am Lausitzer Platz“ am 1.Mai 1989
Gintzel, Kurt: Bericht der Arbeitsgruppe zur Entwicklung von Vorschlägen für polizeiliche Maßnahmen im Zusammenhang mit gewälttätigen demonstrativen Ak
tionen unter Berücksichtigung der Vorgänge am 1.Mai 1989, Berlin, 31.Mai 1989.
* Hochschulfreier Polizeiforscher in Berlin
** Mitarbeiter der TAZ

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