Der Auflösungsprozeß der Stasi – Chronologie einer erfreulichen Agonie

23.11. ’89: Der neu ernannte Leiter des in „Amt für Nationale Sicherheit“ (kurz: Nasi) umbenannten Staatssicherheitsdienstes (Stasi) der DDR, Schwanitz, kündigt die Reduzierung der Mitarbeiterzahl um 8.000 an. Zu diesem Zeitpunkt wird sie auf ca. 25.000 hauptamtliche und rund 80.000 Spitzel (sog. inoffizielle Mitarbeiter) geschätzt.

4.12.: Kurz vor Beginn der Montagsdemonstration in Leipzig, die wieder zum „Runden Eck“, dem Stasi-Hauptquartier, führen wird, begehren Vertreter des Demokratischen Aufbruchs, der Vereinigten Linken und des Neuen Forums dort Einlaß, erklären das Gebäude für besetzt und unter die Kontrolle eines Bürgerkomitees gestellt, das in Zusammenarbeit mit der Volkspolizei und Militärstaatsanwälten Räume versiegelt, um die weitere Vernichtung von Akten zu verhindern. In den folgenden Tagen dringen auch in Erfurt, Suhl, Gera, Cottbus, Dresden, Rostock und Neubrandenburg Tausende von Bürgern in die ört-lichen Stasi-Gebäude ein, entwaffnen Mitarbeiter und stellen die Gebäude unter Bürgerkontrolle.

7.12.: In Berlin tritt zum ersten Mal, moderiert von Vertretern der Kirche, der „Runde Tisch“ zusammen, in dem sich Vertreter der verschiedenen Volkskammerparteien und der neuen Oppositionsgruppen (SPD, Demokratie jetzt, Demokratischer Aufbruch, Neues Forum) bis zu Neuwahlen regelmäßig treffen sollen. Auch der FDGB und der Frauenbund erhalten nach längeren Kontroversen einen Sitz. In einem Kommuniqué heißt es: „Die Regierung der DDR wird aufgefordert, das Amt für Nationale Sicherheit unter ziviler Kontrolle aufzulösen und die berufliche Eingliederung der ausscheidenden Mitarbeiter zu sichern. Über die Gewährleistung der eventuell notwendigen Dienste im Sicherheitsbereich soll die Regierung die Öffentlichkeit informieren.“

6.12.: Schalck-Golodkowski, Stasi-Offizier und DDR-Devisenbeschaffer, stellt sich freiwillig den West-Berliner Justizbehörden und wird in U-Haft genommen.

14.12.: Der Ministerrat beschließt entsprechend der Forderung des „Runden Tisches“, das „Nasi“ aufzu-lösen. Ohne den „Runden Tisch“ zu informieren, wird zugleich beschlos-sen, einen Nachrichtendienst und ein Organ für den „Verfassungsschutz“ zu schaffen. Die Auflösung soll von einem Kontrollausschuß überwacht werden, in dem Vertreter der Partei-en, der Bürgerbewegungen des „Run-den Tisches“, der Staatsanwaltschaft und der Polziei vertreten sind.

26.12.: Am sowjetischen Ehrenmahl in Treptow kommt es zu neonazistischen Schmierereien. Die SED versucht, sich als die konsequente antifaschistische Kraft darzustellen, die entschieden den Kampf gegen neofaschistische Tendenzen in der DDR führt. Hierfür bedürfte es auch entsprechender staatlicher Einrichtungen.

27.12.: Der „Runde Tisch“ fordert die Regierung auf, die Bildung eines Nachrichtendienstes und eines Amtes für Verfassungsschutz bis zu Neuwah-len zurückzustellen.

2.1. ’90: Mit der Auflösung wird der Jurist Peter Koch, zuvor Leiter der Abteilung staatl. Notariate im Justizministerium, beauftragt.

3.1.: Die 8 Oppositionsgruppen des „Runden Tisches“ verlangen erneut von der Regierung, alle Schritte zum Aufbau eines Nachrichtendienstes und Amtes für Verfassungsschutz zu unterlassen. Sie verlangen eigene Vertreter zur Kontrolle der Auflösung des „Nasi“ und den Nachweis, daß die Mitarbeiter des in Auflösung befindlichen Nasi keinen Zugang zu ihren Waffen mehr haben. Der Regierungsvertreter hält an der Absicht fest, entsprechende Ämter noch vor Wahlen aufzubauen. Die Auflösung des Nasi läuft an, „mehrere Funktionen seien auf andere Institutionen wie dem Innen- und Verteidigungsministerium übergegangen“, ca. 400 Stasi-Objekte seien bereits für zivile Aufgaben übergeben worden – so der Regierungsvertreter gegenüber dem „Run-den Tisch“. Erstmals werden von Re-gierungsseite Zahlen genannt: von den ca. 85.000 hauptamtl. Mitarbeitern seien bereits 30.000 entlassen worden, 22.500 würden in die Volkswirtschaft, das Gesundheitswesen und die Volksarmee eingegliedert. Mit den ca. 109.000 sog. „inoffiziellen Mitar-beitern“ sei die Zusammenarbeit ein-gestellt. Die regionalen Bürgerkomitees, die die Auflösung des Stasi/ Nasi überwachen, erklären hingegen, nach ihrer Kenntnis sei die Zentrale in Berlin noch voll funktionsfähig.

5.1.: Leipzig: Ein nationales Treffen aller Bürgerkomitees zur Überwachung der Auflösung des Stasi verlangt u.a., die Weisung Modrows zur Bildung eines „Verfassungsschutzes“ auszusetzen. Neofaschistischen Akti-vitäten müsse man vowiegend poli-tisch begegnen; ansonsten solle die Kriminalpolizei und eine Abteilung Staatsschutz im Innenministerium ge-gen Neofaschisten vorgehen.

6.1.: Der Regierungsbeauftragte Peter Koch kündigt an, daß alle Waffen des Stasi, die derzeit unter Verschluß seien, aus den Ämtern des Stasi abgezogen und der Volkspolizei zum Verschluß übergeben würden.

8.1.: Oppositionsgruppen und Regierungsparteien des „Runden Tisches“ be-schließen, die Sitzung um eine Wo-che zu vertagen, nachdem die beiden Regierungsbeauftragen zur Nasi-Auf-lösung, Koch und Halbritter, nur un-befriedigende Antworten gegeben haben. Innerhalb des „Runden Tisches“ ist eine Arbeitsgruppe Sicherheit gebildet worden. Bekannt wird ein Telegramm von Mitarbeitern des Stasi-Amtes aus Gera, datiert vom 9.12.90 und gerichtet an andere lokale Stasi-Ämter, in dem aufgefordert wird, die Opposition zu „paralysieren“.

11.1.: Rund 20.000 Menschen demonstrieren in Ost-Berlin gegen die geplante Einrichtung eines Verfassungschutzes und eines Nachrichtendienstes. Auch in Erfurt und Gera demonstrieren Zehntausende, in Erfurt und Ost-Berlin kommt es zu Warnstreiks.

12.1.: Vor der Volkskammer revidiert Ministerpräsident Modrow seine Erklärung vom Tage zuvor (die Errichtung eines Verfassungsschutz-Amtes) und setzt den Neuaufbau aus. Daraufhin erklären CDU, LDPD und NDPD, die mit Rücktritt aus der Regierung gedroht hatten, ihre weitere Mitarbeit. Zugleich verkündet Mo-drow die Abberufung von Koch als bisherigem Regierungsbauftragten zur Stasi-Auflösung, da sich dieser „als nicht fähig und kompetent“ erwiesen habe.

15.1.: Modrow macht einen Goodwill-Besuch beim „Runden Tisch“, Innenminister Ahrendt (PDS) gibt einen Bericht zur Sicherheitslage. Der stellvertr. Leiter des Sekretariats des DDR-Ministerrates, Sauer, infor-miert den „Runden Tisch“ über die Auflösung der Stasi. Postüberwa-chung und Abhören von Telefonen seien im Nov. eingestellt worden (vgl. Dokumentation des Berichts in der FR vom 17.1.90). Am späten Nachmittag endet eine Demonstration in Ost-Berlin, zu der das Neue Forum aufgerufen hatte, im Sturm von Tau-senden auf die Stasi-Zentrale in der Normannenstr. Vertreter der Opposi-tionsbewegungen am „Runden Tisch“ rufen zur Gewaltlosigkeit auf, brechen die Sitzung ab und eilen in die Normannenstr. Menschen werden nicht verletzt. Es entstehen Zweifel, ob nicht Stasi-Mitarbeiter selbst insbesondere die Verwüstungen im Haus 18 angerichtet haben. Ab sofort wird das riesige Gelände von Bürger-komitees und Vopo kontrolliert.

30.1.: Auf einer Pressekonferenz des Bürgerkomitees in der Stasi-Zentrale Normannenstr., ein Komplex mit ca. 60 Gebäuden und ca. 3.000 Arbeitszimmern, in denen zuletzt rund 33.000 Stasi-Mitarbeiter tätig waren, wird ein erster Einblick gegeben. Ca. 100 Mitarbeiter des Bürgerkomitees beaufsichtigen hier die Auflösung, allein ca. 12 km laufende Akten sind vorgefunden worden. Nicht der Kontrolle durch die Bürgerkomitees unterworfen ist die Hauptbteilung Auf-klärung, der Auslandsspionage-Zweig der Stasi mit ca. 4.000 Mitarbeitern, der dito im Gebäudekomplex Normannenstr. sitzt. In Ost-Berlin sind bisher ca. 600 Stasi-Objekte identifiziert.

5.2.: Werner Fischer, Sprecher der Arbeitsgruppe Sicherheit des „Runden Tisches“, erklärt, daß das „Nasi“ nicht mehr arbeitsfähig sei, seine Strukturen seien zerschlagen.

8.2.: Der Ministerrat, der erstmals mit den 8 Ministern der Opposition tagt, beschließt die Bildung eines neuen staatlichen „Komitees zur Auflösung des ehemaligen AfNS“ unter Leitung von Günter Eichhorn, um die Stasi-Auflösung zu beschleunigen. Dieses Komitee ist dem Regierungsbeauftragten Generaloberst Fritz Peter und dem Dreieerkomitee, zwei Repräsentanten des „Runden Tisches“ (Werner Fischer und Georg Böhm), dem Regierungsbeauftragten Fritz Peter sowie mit beratendem Status Bischof Forck respektive seinem ständigen Vertreter (Ullrich Schröter), verantwortlich. Dieses Komitee soll einen Arbeitsstab von 50-60 Mitarbeiter erhalten. Die elektronisch gespeicherten Daten von ca. 6 Mio. Bürgern sollen möglichst schnell ge-löscht werden.

20.2.: Der „Runde Tisch“ beschließt, daß alle elektronischen Datenträger bis zum 8. März mechanisch zerstört werden sollen.

21.2.: Das Bürgerkomitee in Schwe-rin meldet für seinen Bereich die Auflösung aller Stasi-Dienststellen.

22.2.: Die „Berliner Zeitung“ meldet, daß in der DDR noch immer „Abtei-lungen, Einheiten oder Gruppen“ der Stasi im Untergrund arbeiten würden. Die Bürgerkomitees in Ost-Berlin kommentieren die Meldung mit Skep-sis. Der Leiter des „Regierungskomi-tees zur Auflösung des AfNS“, Eichhorn, kündigt an, daß sein Komitee von 15 auf 170 Mitarbeiter verstärkt werden soll. Knapp 70% der ehemals 33.000 Mitarbeiter der Stasi-Zentrale seien bereits entlassen.

5.3.: Dankward Brinksmeier, Studentenpfarrer deR ESG, Mitglied der AG Sicherheit des „Runden Tisches“, wird Regierungsbeauftragter im Ministerium für innere Angelegenheiten. Er wird in allen Fragen, die die Auflösung der Stasi betreffen, dem Innenminister Ahrendt „mit gleicher Kompetenz an die Seite gestellt“. Im Konfliktfall soll Ministerpräsident Modrow miteintscheiden. Anlaß sind „Unregelmäßigkeiten“ bei der Überführung von Stasi-Mitarbeitern ins Ministerium für innere Angelegenheiten.

8.3.: Die Regierung Modrow entpflichtet die ca. 109.000 „inoffiziellen Mitarbeiter“ der Stasi, so daß sie von ihrer Schweigepflicht entbunden sind. Das Ost-Berliner Bezirksamt für Nationale Sicherheit ist völlig aufgelöst, vom Personal der Stasi-Zentrale in der Normannenstr. sind knapp 90 % entlassen.

12.3.: In einem 26-seitigen Bericht, den Werner Fischer dem „Runden Tisch“ zur letzten Sitzung vorlegt, wird bemängelt, daß wesentliche Forderungen der AG Sicherheit bewußt umgangen worden sind. So seien insg. 3.140 Stasi-Mitarbeiter vom Ministerium für innere Angelegenheiten übenommen worden. Ganze Spezial-bereiche sind unter neuem Namen nahezu komplett verdeckt weitergeführt worden, so die Spezialabteilung für Spionage- und Sicherungstechnik. Auf Bezirksebene sind ca. 96% der Mitarbeiter entlassen.

18.3.: Wahlen in der DDR
Die Bürgerkomitees sollen bis zur Einsetzung eines Untersuchungsaus-schusses der neuen Volkskammer ihre Arbeit fortsetzen – so der von den neuen Volkskammerparteien auf Ini-tiative der Komitees gebilligte Auf-trag. Damit sind gleichzeitig die Be-triebe in der Pflicht, die für die Arbeit in den Bürgerkomitees freigesetzten Betriebsangehörigen weiter zu ent-lohnen.