Die „Erstreckung“: Auf dem Weg zur Gesamtberliner Polizei

Berlin war in der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte Sonderfall und Kuriosum zugleich. Zu Lebzeiten der alten DDR ein vorgeschobenes Bollwerk des freien Westens inmitten realsozialistischer Diaspora kommt es auch heute noch nicht dazu, eine ganz normale Millionenstadt in einem geeinten Deutschland zu werden.
Das Kuriosum ist zwar verschwunden, ein Sonderfall ist Berlin bislang jedoch geblieben.
Während die bundesdeutschen Flächenstaaten lediglich einen neuen Nachbarn erhalten haben, dem sie bei seiner Konsolidierung gelegentlich generös unter die Arme greifen können, sind die einst feindlichen Berliner Brüder nun gezwungen, sich gemeinsam einzurichten. Von einem Tag auf den anderen steht Berlin vor dem Problem, zwei völlig unterschiedliche Systeme und Verwaltungen miteinander zu verbinden.

Dies gilt selbstverständlich auch für die Berliner Polizei; aufgrund ihrer exponierten Stellung innerhalb des staatlichen Gefüges im Grunde noch stärker als bei anderen Behörden. So war denn auch die Westberliner Innenverwaltung gezwungen, Pläne zu entwickeln, die es ermöglichen, aus zwei nicht kompatiblen Polizeikörpern einen formen zu müssen, ohne daß dabei die Handlungsfähigkeit verloren gehen würde.

Das 1. Modell

Als ernsthafte Modelle kristallisierten sich in den polizeilichen Planspielen schließlich zwei Varianten heraus. Einmal die auf der Hand liegende Lösung, auf dem Gebiet Ostberlins drei neue Direktionen zu errichten.

Dieses von der Gewerkschaft der Polizei (GdP) favorisierte Modell hatte jedoch einen ganz entscheidenden Makel. Große Polizeidirektionen wie sie im zentralistischen Führungsmodell der Berliner Polizei üblich sind, erfordern zwangsläufig große Stäbe, um funktionsfähig zu sein. In den für drei neue Direktionen zu bildenden Stäben verschwänden auf diese Weise ca. 1.000 zusätzlich höhere Beamte. Darüber verfügte die Westberliner Polizei jedoch nicht. Entsprechende Planstellen waren nicht vorhanden und auch nicht vorgesehen. Schon aus diesem Grunde, mehr noch allerdings aus der nachvollziehbaren ideologischen Erwägung von Berlins Innensenator Erich Pätzold (SPD) kam eine Übernahme der Führungsebene der einstigen Volkspolizei nicht in Frage. Wie alle staatlichen Einrichtungen in der DDR, so hatte auch die Vopo ihren festen Platz im STASI-System. Karriere machen konnte dort nur derjenige, der seine Verbundenheit mit den Idealen des Sozialismus nicht nur durch einen einfachen Beitritt zur SED bekundet hatte. Um sich verdient zu machen, war es schon notwendig, besonders linientreu zu sein. Inwieweit dabei der Einzelne direkt in die STASI verstrickt wurde, braucht hier nicht weiter untersucht zu werden, kann aufgrund der STASI-Struktur im Regelfall aber unterstellt werden.

Daß diese Führungskader bei der Übernahme der Vopo in eine Gesamtberliner Polizei keine Chance haben würden, daran hatte Innensenator Pätzold nie einen Zweifel gelassen: „Wer beitritt, tritt einem anderen Staat zu dessen Maßstäben bei. Egal, ob einem das im einzelnen gefällt oder nicht“ (taz v. 31.08.90) und „Es wird in Berlin nur einen Polizeipräsidenten geben können – und der heißt Georg Schertz“ (VB v. 16.09.90) sind Aussagen, die an Deutlichkeit nichts vermissen lassen.

Das 2. Modell

Die zweite Überlegung, die daraufhin schließlich favorisiert und gegen den Widerstand der GdP umgesetzt wurde, sah vor, die Direktionen 1, 3 und 5 nach Ostberlin hinein zu erweitern, während die örtlichen Grenzen und Zuständigkeiten im Westteil zunächst erhalten bleiben sollten. Die Direktion 1 erhielt zusätzlich die Zuständigkeit für die Ostberliner Bezirke Pankow, Weißensee, Prenzlauer Berg, Hohenschönhausen, Marzahn und Hellersdorf. Die Direktion 3 wurde zuständig für den Bezirk Mitte und die Direktion 5 bekam die Bezirke Friedrichshain, Lichtenberg, Treptow und Köpenick zugeschlagen. Mit dieser „Erstreckung“ – wie die schnell gefundene Verwaltungsformel für die räumliche Ausdehnung lautet – und die historisch ihre Vorläufer in der Polizeistruktur von 1925 findet (damals gab es bei einem vergleichbaren Stadtgebiet eine Polizeigruppe Mitte, Nord, Süd, West und Ost), sind in Berlin nun „Mammutdirektionen“ entstanden, mit z.T. Zuständigkeiten für eine Bevölkerung bis zu einer Million Einwohner.

(Der Morgen v. 09.11.90)

Die 11, mit den Bezirksgrenzen identischen Ostberliner Polizeiinspektionen, wurden in „Abschnitte im Aufbau“ übergeleitet. Sie werden nach dem Muster der im Westteil vorhandenen 31 Abschnitte strukturiert. Die als Untergliederungen der Polizeiinspektionen vorhandenen 23 Polizeireviere bleiben zunächst als Nebenwachen erhalten. Rigoros abgeschafft wurden die Institutionen der bisherigen rund 500 Abschnittsbevollmächtigten. An ihrer Stelle wurden die in Westberlin üblichen Kontaktbereiche geschaffen.

Die Westberliner Standorte des Kripo-Sofortdienstes, dessen Angehörige stets die ersten Tatortermittlungen übernehmen, blieben bestehen. Um die Anfahrten zu verkürzen, wurden im Ostteil Berlins zwei weitere Standorte geschaffen. Schichtleiter dort sind Westberliner Beamte. Die „Direktion Spezialaufgaben Verbrechensbekämpfung“, zu der beispielsweise die Mordkommission, die Einbruchs-, Raub- und Rauschgiftdezernate gehören, wurde personell verstärkt und erhielt zusätzlich 28 Kommissariate. Die neuen Dienststellen wurden u.a. im ehemaligen Volkspolizeipräsidium an der Hans-Beimler-Straße untergebracht.

Ein solchermaßen organisatorisch aufgeblähter Apparat hat mit einer bürgernahen Polizei, wie sie von SPD und AL propagiert wird, selbstverständlich nichts mehr gemein. Andererseits entsteht Bürgernähe „nicht durch die Errichtung von drei neuen Polizeidirektionen. Deren Aufbau verbessert die Situation im Vergleich zur (…) Lösung (= 5 Direktionen) allenfalls vordergründig. Eher wäre die Einrichtung neuer Direktionen geeignet, den ggw. zentralisierten Zustand weiter zu verfestigen“, wie die Alternative Liste zu Recht argumentierte. Einig sind sich die beiden Koalitionspartner dann auch darin, daß „eine endgültige Gliederung der örtlichen Direktionen (…) erst in späterer Zeit möglich sein“ wird.

Zu fragen wäre zudem, ob die Einrichtung von drei neuen Direktionen – allen Bemühungen der GdP zum Trotz – im polizeilichen Innenverhältnis tatsächlich zu einer Entspannung geführt hätte. Sobald sich für die organisatorischen und sonstigen Abläufe in der Polizei auch nur entfernte Anzeichen der Veränderung andeuten, ist „die Polizei“ als Institution stets umgehend „beunruhigt“. Im vorliegenden Falle allerdings war die Berliner Polizei nicht nur beunruhigt, sie war hochneurotisch. Durchgängig durch alle Dienstgrade der Westberliner Polizei zog sich die Berührungsangst vor den neuen Kollegen – jenen, die in den zurückliegenden Jahren nicht einmal über die Mauer hinweg gegrüßt hatten, wenn man sich während des Streifens begegnet war. Die Mannschaftsgrade quälten sich darüber hinaus noch mit Ängsten, u.U. in der nächsten Zeit unter einem Vorgesetzten Dienst tun zu müssen, der das System „da drüben“ über Jahrzehnte mitgestützt hatte. Ähnliches gilt auch für die insgesamt 10.600 Polizeiangehörigen der ehemaligen Vopo, die neben ihrer Hauptsorge nach Übernahme ebenfalls keinen der „alten SED-Aufpasser“ mehr in Führungspositionen sehen wollten.

Vorgriffe

Im Vorgriff auf die Vereinigung begann die „Erstreckung“ dann zunächst einmal mit sog. Schnupperkursen für die Ostkollegen. Gegen Ende August nahmen die ersten 100 Volkspolizisten ihre Praktika im Westen auf. In ziviler Kleidung, unbewaffnet und ohne hoheitliche Befugnisse wurden sie als Begleiter in Streifenwagenbesatzungen eingegliedert.

Für den mittleren und den gehobenen Dienst richtete man an der Polizeischule Spandau vierwöchige Einweisungskurse ein. Gegenwärtig wird in der Innenverwaltung davon ausgegangen, solche Schulungen für einen Zeitraum von 2 – 2,5 Jahren anbieten zu müssen.

In Vorbereitung auf die Vereinigungsfeiern wurde schließlich auch auf der Führungsebene der bisher eher bescheidene Austausch von Verbindungsleuten intensiviert.
Parallel dazu forderte Innensenator Pätzold von seinem östlichen Amtskollegen, Innenminister Diestel, die Zuständigkeit für die Ostberliner Polizei bereits vor dem 03. Oktober auf die Westberliner Verwaltung zu übergeben. Nachdem alle vier alliierten Siegermächte ihre Zustimmung zu einem solchen Schritt erteilt hatten, gab Diestel seinen Widerstand auf und richtete ein dementsprechendes förmliches Ersuchen an den Westberliner Senat. Innensenator Pätzold entsprach dem noch am gleichen Tage. Mit Datum vom 01. Oktober 1990 fiel damit die Polizeihoheit für Gesamtberlin, die regulär erst am 03. Oktober um 0.00 Uhr an Westberlin übergegangen wäre – also mitten im Einsatz zur Sicherung der Feierlichkeiten – an den Momper-Senat. Westberlins oberster Schupo, Landesschutzpolizeidirektor Gottfried Heinze, übernahm umgehend die Befehlsgewalt über die entsprechenden Gliederungen der Vopo. Die Berliner Polizei hatte sich „erstreckt“.

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