Die STASI-Akten: Zeugnisse einer Jahrhundertlüge – Möglichkeiten und Grenzen der Einsicht in die Unterlagen des MfS

von Tina Krone

Seit dem 2. Januar 1992 ist es möglich, in den Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR zu lesen. Einem Geheimdienst wird sein Geheimnis entrissen. Der Mythos des bis vor gut zwei Jahren allgegenwärtigen Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) löst sich auf in Sachstandsberichte, Maßnahmepläne, Zersetzungsanweisungen, Beobachtungsprotokolle und andere bürokratische Details.

Die reibungslose Verflechtung zwischen SED, Staat und MfS wird beim Studium der Unterlagen schnell deutlich. Im ZOV1 „Wespen“, angelegt 1985 gegen die Ostberliner Gruppe „Frauen für den Frieden“, belegen Maßnahmepläne den zielgerichteten Einsatz von SED-Genossen und -Genossinnen gegen die Frauen am Arbeitsplatz oder im Wohngebiet. Die vorgefundenen Berichte zeigen, daß ein „guter Genosse“ nicht unbedingt eine Verpflichtungserklärung brauchte. Aufträge des MfS, wie etwa „Vertrauensverhältnisse aufbauen“, wurden auch so gewissenhaft erfüllt, die geforderten Auskünfte eingeholt und unter dem Klarnamen geliefert. Über den Erfolg der angewandten Zersetzungsmaßnahmen ließen sich u.a. der Genosse Schabowski als 1. Sekretär der Bezirksleitung Berlin der SED, das Politbüro und das ZK der SED unterrichten, wie eine Information vom 19.12.86 belegt. Die „Wirk-samkeit der gesellschaftlichen Einflußnahme“ – so wurden Diffamierung und Verleumdung bezeichnet, mit denen die Frauen unter Druck gesetzt worden waren – ließ allerdings noch Wünsche offen: „In einigen … Fällen wurden die betreffenden Parteiorganisationen und staatlichen Leiter ihrer Verant-wortung nicht in genügendem Maße gerecht, so daß verschiedentlich die an-gestrebte Zielstellung nicht erreicht werden konnte.“ Die politischen Inhalte standen nicht zur Diskussion, die SED hatte die Aufgabe, Ruhe im Land zu garantieren. Nachfragen bei solchen Genossen bringen heute erstaunliche Resultate: „Man sagte, du hättest eine schwarze Akte und ich solle mich um dich kümmern.“ Um nur ja nicht selbst als illoyal aufzufallen, wurden Erklärungen oder Begründungen meist gar nicht erst verlangt. Ob damit eine Personalakte oder sonstiges Material der Staatssicherheit gemeint war, ist u.a. deshalb bislang nicht geklärt, letztlich aber auch nebensächlich. Der Terminus besagte in jedem Falle, daß jemand negativ aufgefallen war.
Daß es daneben auch immer wieder Menschen gab, die sich diesem Mechanismus nicht unterwarfen, ist das Erfreuliche, was die Unterlagen an Überraschung beinhalten.

Feinde waren vogelfrei

Die ersten, die in ihre Akten sehen konnten, sind die Menschen, in deren Leben die STASI jahrelang massiv eingegriffen hat, die im Gefängnis saßen oder gegen die „operative Vorgänge“ (OV) angelegt wurden. In einem OV „bearbeitet“ wurde, wen man strafrechtlich relevanter Taten verdächtigte. Aber es ging nicht nur um das illegale Beschaffen von Beweismitteln. Wer einen OV bekam, war ein Feind, war vogelfrei. Bedenkenlos wurden Inoffizielle Mitarbeiter (IM) angesetzt. Nicht nur, um das politische Handeln in den Griff zu bekommen; Ziel war es, zu zersetzen, zu isolieren, die beruflichen und zwischenmenschlichen Beziehungen zu zerstören: „… wird … herangeschleust, zwischen beiden ein Intimverhältnis aufzubauen. Termin: Juli 1987“, heißt es in der Akte nicht nur eines Ehepaares. Das richtige Feindbild machte so etwas möglich. Abgeschlossen wurde ein OV mit folgenden Varianten:
„- Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mit bzw. ohne Haft,
– Überwerbung,
– Anwendung von Maßnahmen der Zersetzung,
– Verwendung des Vorgangsmaterials als kompromittierendes Material gegenüber Konzernen, Betrieben, staaatlichen Organen der BRD, anderer nichtsozialistischer Staaten bzw. Westberlins,
– Übergabe von Material über Straftaten der allgemeinen Kriminalität an an-dere Schutz- und Sicherheitsorgane,
– Öffentliche Auswertung bzw. Übergabe von Material an leitende Partei- und Staatsfunktionäre“2

Ersichtlich wird aus diesem Zitat auch, daß selbstverständlich auch Westbürger in einem OV „bearbeitet“ wurden. Wer Besucher aus der BRD zu Gast hatte, sieht nun in den Unterlagen, daß diese größtenteils bei einer der Hauptabteilungen des MfS erfaßt waren.

Suche nach der Wahrheit – als Hetzjagd diffamiert

Da die Öffnung der Akten nicht verhindert werden konnte, muß nun interpretiert werden, bis alle sich zaghaft zeigenden Konturen wieder völlig verwischt sind; müssen den von Lüge und Zersetzung Betroffenen unlautere Motive untergejubelt werden.

Hier, und nur hier werden die Grenzen des Vorgangs deutlich. Diese liegen aber weniger bei den noch vorzufindenden schriftlichen Unterlagen als vielmehr im Verhalten der an ihrem Zustandekommen Beteiligten und den politisch Mächtigen. Daß letztere ihr Wissen für eigene Interessen einsetzen würden, war zu erwarten. Deshalb forderte die Bürgerbewegung von Anbeginn die Offenlegung aller Vorgänge und Namen, denn Erpreßbarkeit und Instrumentalisierung sind dann sehr viel schwieriger zu realisieren.
Solange das Verlangen der Opfer nach Aufklärung mit der Unterstellung von Hysterie und Hexenjagd beantwortet wird, die Fakten allerdings im Nebel belassen oder in ihr Gegenteil verkehrt werden, ist Aufarbeitung ein mühsames Unterfangen, das z.T. kriminalistischer Fähigkeiten bedarf.

Wenn z. B. einem Oberst Reuter (Leiter der Abteilung 9 der Hauptabteilung XX zur Bekämpfung der „PUT“ – „politische Untergrundtätigkeit“) abgenommen wird, daß Unterlagen über Gregor Gysi allein deshalb den Decknamen „Gregor“ bekamen, weil er einen in der Parteihierarchie hoch angebundenen Vater (Staatssekretär für Kirchenfragen) hatte und daher niemand merken durfte, daß über den Sohn Informationen gesammelt wurden, dann wird nicht aufgeklärt, sondern verschleiert und auf das Unwissen Außenstehender vertraut: Eine Opferakte, d.h. ein OV oder eine OPK3 wurde zwar unter einem Decknamen geführt; die OPK Gysis trägt aber den Namen „Sputnik“. Was also verbirgt sich in der Akte „Gregor“?

Ähnlich verhält es sich mit der Erklärung, bestimmte IM-Berichte seien aus den unterschiedlichsten Quellen zusammengebastelt worden, um einen IM lediglich vorzutäuschen: Jeder Bericht weist eindeutig die Herkunft der Informationen aus. Entweder war es ein IM oder es handelte sich um Maßnahme A (Abhören des Telefons), B (Einbau von Wanzen), D (Videokamera) oder M (Postkontrolle). Hat ein Führungsoffizier das Gespräch mit seinem IM selbst zusammengefaßt, so ist das ebenso erkennbar wie die Abschrift eines Tonbandprotokolls. Zusammenfassungen mehrerer IM-Berichte sind gleichfalls als solche kenntlich gemacht. Sollte – beispielsweise bei Berichten an die „Organe“ der SED oder auch innerhalb des Ministeriums – die Quelle geheim bleiben, wird dies durch den Satz: „Inoffiziell konnte erarbeitet werden“ angedeutet und nicht etwa ein fiktiver Deckname eingesetzt. Um Geheimhaltung ging es und nicht um Irreführung. Wer sein Ministerium hintergehen wollte, mußte mit disziplinarischen Strafen bzw. Entlassung rechnen. Es soll einige wenige Fälle gegeben haben, wo hauptamtliche Mitarbeiter aus Wettbewerbs- und Karrieregründen fiktive IM in ihren Rechenschaftsberichten nannten oder „abgelegte“ IM ein Weilchen länger führten, als sie in Wahrheit für das MfS arbeiteten. Das dichte Kontrollnetz innerhalb der STASI hat indessen verhindert, daß solches Vorgehen über einen längeren Zeitraum möglich war. Die IM waren das wichtigste Arbeitsinstrument, die „Hauptwaffe im Kampf gegen den Feind“.4

Hoffnung

Die Unterlagen des MfS werden mehr als nur die Methoden eines Geheimdienstes ans Licht bringen. Über diese wichtigen Einblicke hinaus könnte es gelingen, das Funktionieren eines zentralistischen Regimes und die legitimatorische Rolle von Ideologie detailliert zu belegen. Das Zusammenspiel von SED, Staat und STASI werden viele in ihren Akten nachvollziehen können. Nur auf diese Weise konnte die Kontrolle so total werden.
Vielleicht könnte am Ende auch für den letzten Dogmatiker die Einsicht stehen, daß die Ostblockstaaten eben nicht die linke Alternative zum Kapitalismus darstellten, daß Mißtrauen, Entmündigung und permanente Kontrolle aller Lebensbereiche das pure Gegenteil eines gerechten Gesellschaftsmodells hervorbringen und daß das verachtende Menschenbild, auf dem die Ideologie dieser Erziehungsdiktatur fußte, der Utopie einer Befreiung der Menschheit diametral entgegengesetzt war.

Tina Krone, Mitarbeit in der unab-hängigen Friedensbewegung der DDR seit 1983, u.a. „Frauen für den Frie-den“, seit 1990 Redakteurin bei der Wochenzeitung „die andere“
1 Zentraler operativer Vorgang
2 Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit, geheime Verschlußsache des MfS
3 Operative Personenkontrolle
4 Mielke auf der Dienstkonferenz 9/84