von René Levy
Frankreich hat als erster Unterzeichnerstaat das Schengener Zu-satzabkommen ratifiziert. Die Nationalversammlung hat den Ver-trag am 3.6.1991 mit überwältigender Mehrheit gebilligt; am 27.6.1991 passierte er den Senat. Am 25.7.1991 schließlich hat der Verfassungsrat das Abkommen als verfassungskonform bestätigt, soweit es nicht die nationale Souveränität berührt.
Die zügige Ratifizierung zeigt, welche Bedeutung die sozialistische Regierung, allen voran der Präsident, dem Schengener Abkommen beimessen, das immer wieder zum Herzstück der europäischen Einigung erklärt wird.
Trotz der weitreichenden Bedeutung der Entscheidung hat die Verwirklichung von „Schengenland“ – so die Formulierung der „Libération“1 – keine große nationale Debatte hervorgerufen. Obwohl die Presse über den Verlauf der Schlußphase der Verhandlungen nach 1989 ausführlich berichtete, blieb die Diskussion auf einen kleinen Kreis von Spezialisten beschränkt. Dies liegt zum einen sicherlich am ausgesprochen fachspezifischen Charakter der Materie, zum andern vor allem aber auch daran, daß sie als Verschlußsache behandelt wurde.
Die politische Ausgangssituation
Die politische Rechte, heute in der parlamentarischen Opposition, war von 1986 bis 1988 an den Verhandlungen beteiligt. Sie konnte sich deshalb nicht plötzlich lautstark gegen die Verabschiedung wenden, zumal sie dabei von der streng pro-europäischen christlich-demokratischen Zentrumsfraktion allein gelassen worden wäre. Von den Parteien waren somit nur die nicht im Parlament vertretene extreme Rechte, ein Teil der parlamentarischen Rechten und die kommunistische Partei gegen die Verträge.
Des weiteren hat das Projekt Schengen verschiedene Menschenrechtsorgani-sationen auf den Plan gerufen.
Die Regierung ihrerseits hat versucht – nicht zuletzt auch wegen ihrer unsi-cheren Parlamentsmehrheit – beide Seiten zu beruhigen. Im Lager der Gegner zeigen sich im wesentlichen zwei Positionen, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Den Rechtsextremen und einem Teil der Konservativen (vor allem den Gaullisten) gilt das Schengener Abkommen als unerträglicher Angriff auf die nationale Souveränität Frankreichs, weil es am Ende dazu führe, daß Ein- und Ausreise von ausländischen Mächten kontrolliert würden. Darüber hinaus werde das Land einer ganzen Reihe von Katastrophen ausgesetzt: vom Verlust der nationalen Identität über die unkontrollierte Einwanderung und den Terrorismus bis hin zum Überschwappen einer Drogenwelle aus den Niederlanden. Die Hauspostille der Front Nationale (NF), „Présent“, titelte dementsprechend am 21.6.1990 anläßlich der Unterzeichnung des Abkommens: „Europa wird mit offenen Türen der Einwanderungsinvasion ausgeliefert“. Die NF hat denn auch bereits erklärt, das Schengener Abkommen umgehend aufzukündigen, sobald sie die Macht antrete. Die Haltung der Gegner des Abkommens aus der parlamentarischen Rechten hat einer ihrer Abgeordneten am deutlichsten mit den Worten umrissen: „Ich für meinen Teil sage, ehe man die Polizei abschafft, muß man die Kriminalität ausrotten. Ehe man den Zoll und die Grenzen abschafft, muß zunächst festgelegt werden, wie man den Krieg gegen die Geißel Droge – und es ist ein Krieg – führen will.“2
Der anderen Seite gilt „Schengen“ als das Symbol eines Europas hermetisch geschlossener Grenzen und omnipotenter Polizeien, wachsender polizeilicher Kooperation, lückenloser Erfassung und der Einschränkung des Asylrechts: Ein Europa, das sich gegen den Süden organisiert. Für die Liga der Menschenrechte etwa „versucht das Schengener Abkommen, Europa zu einer von Ausländern belagerten Festung zu machen, die es um jeden Preis zu verteidigen“ gelte.3 Amnesty international hält eine allgemeine Visapflicht für unvereinbar mit dem Recht auf Asyl.4 „L’humanité“, die Zeitung der kommunistischen Partei, beschwört ebenfalls „die Bedrohung durch Schengen“. Der Vertrag mache „Ausländer“ zum Sündenbock; durch die Gründung einer Euro-Polizei, deren Machtzentrum das BKA sein werde, würden auch die Freiheitsrechte der Europäer selbst gefährdet.5
Die Argumente der Regierung
Angesichts dieser Bandbreite der Kritik hat die Regierung bei der parlamen-tarischen Aussprache versucht, darzulegen, daß „den französischen Unter-händlern vor allem die Aufrechterhaltung der nationalen Souveränität am Herzen lag“6 und es ihr gelungen sei, Schutzmaßnahmen für die bürgerlichen Freiheitsrechte durchzusetzen. Schengen bringe den Bürgern der Unterzeich-nerstaaten ein mehr an Freiheit, da sie sich in Zukunft ohne jede Einschrän-kung innerhalb der beteiligten Länder bewegen könnten; dasselbe gelte für Bürger aus Drittländern mit anerkannter Aufenthaltserlaubnis, die ihren Wohnsitz im „Schengenland“ haben. In bezug auf den Datenaustausch innerhalb des ‚Schengen-Informationssystem‘ (SIS) wird betont, Frankreich habe erreicht, daß die französischen Datenschutzvorkehrungen als die fortschrittlichsten in Europa von allen übernommen würden, so daß bestimmte Unterzeichnerstaaten (wie Belgien und die Niederlande) nun gezwungen seien, hier gesetzliche Regelungen zu schaffen. Auch das Asylrecht sei nicht bedroht, weil Frankreich aufgrund der eigenen Gesetzgebung immer noch Asyl gewähren könne, selbst dann, wenn der Asylantrag von einem anderen Unterzeichnerland bereits abgelehnt worden sei und somit eigentlich für alle Schengen-Staaten gelten würde. Zusammenfassend erklärte der frühere Innenminister Pierre Joxe 1989 im Senat anläßlich einer Debatte zur Einwanderung: „Das Europa der freien Reisebewegungen ist keine Festung, abgeschottet vom Rest der Welt und wird es auch nicht werden. (…) Allerdings wird es auch nicht das Europa der unkontrollierten Einwanderung und noch weniger das der Unsicherheit und der Unordnung“.7
In Sachen „nationale Souveränität“ ist an die diversen Modalitäten erinnert worden, die es jedem Land erlauben, sich den eingegangenen Verpflichtungen notfalls auch zu entziehen. Grenzkontrollen z.B. könnten wieder eingerichtet werden, wenn die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder die Sicherheit des Landes bedroht seien. Auch eine Ausschreibung im SIS sowie die Festnahme könnten verweigert werden. Ebenso wurden die Restriktionen hervorgehoben, die fremden Polizeien innerhalb des französischen Territoriums auferlegt wurden – so etwa niemanden selbsttätig festnehmen zu können.
Die Früchte von Schengen
Am 1. Januar 1993 wird das Schengener Abkommen in Kraft treten. Erste Auswirkungen sind schon jetzt zu spüren, insbesondere im Bereich der Ge-setzgebung. So arbeitet die französische Regierung z.B. an einer Gesetzesi-nitiative, nach der gegen Transportunternehmen, die Ausländer ohne gültiges Visum auf französisches Territorium befördern, Sanktionen verhängt werden können. Die Unternehmen sollen verpflichtet werden, diese Personen auf eigene Kosten wieder zurück zu transportieren und zusätzlich eine Geldbuße von 10.000 Francs je illegal einreisendem Ausländer zu zahlen.8 Vergleichbare Gesetze gibt es bereits in anderen Ländern. Dadurch soll erreicht werden, daß die Transportunternehmen selbst ihre Passagiere vor der Abreise kontrollieren. Nach einem Plan der Flughafen- und Grenzpolizei (Police de l`air et des frontières – PAF) soll das Personal der Fluggesellschaften eine spezielle Ausbildung erhalten, um falsche Ausweispapiere etc. erkennen zu können. Des weiteren sollen Beamte der PAF auf bestimmten Flügen französischer Gesellschaften als „technische Berater“ mitfliegen oder im Ausland stationiert werden, um unerwünschte Personen gleich vor Ort aussondern zu können. Die Gewerkschaft des Flugpersonals und die Menschenrechtsorganisationen befürchten, daß diese Maßnahmen das Ende des bisherigen Asylrechts bedeuten.
In Verbindung mit dem Schengener Abkommen9 steht auch eine Debatte um die Verrechtlichung der „kontrollierten Lieferungen“ von Drogen und der In-filtration von Drogenhändlerringen durch die Polizei, die Gendarmerie und den Zoll. Nach einem Beschluß, der von der Nationalversammlung einstimmig gefaßt wurde, werden Verdeckte Ermittler (unter Kontrolle der Justiz) nun Drogen ankaufen, sicherstellen und sich an ihrem Transport beteiligen dürfen. Damit wird dann ein Schlußpunkt unter eine Reihe von Gerichtsverfahren gesetzt, bei denen Polizei- und (insbesondere) Zollbeamte der Anstiftung zu Straftaten beschuldigt wurden.
Resumée
Die ersten sichtbaren Auswirkungen des Schengener Abkommens scheinen den Befürchtungen jener Recht zu geben, die darin nichts anderes sehen als eine Ausweitung polizeilicher Befugnisse zur freien Verfügung der Polizei. Erst 1993 wird man sich überzeugen können, ob es wirklich den versprochenen neuen Freiheitsraum für die Mehrheit der Bürger von Schengenland darstellt.