Literatur, Rezensionen und Hinweise

Literatur zum Schwerpunkt
Die aktuelle Asyldiskussion in der BRD hat eine Vielzahl von Veröffentlichungen hervorgebracht, von denen zwei zur Demonstration der höchst unterschiedlichen Brauchbarkeit vorgestellt werden:

Appel, Roland; Roth, Claudia (Hg.): Die Asyl-Lüge. Ein Handbuch gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, Köln (Volksblatt-Verlag) 1992, 280 S., DM 19,80
Ludwig, Ralf u.a. (Hg.): Fluchtpunkt Deutschland, Marburg (Schüren) 1992, 176 S., DM 19,80
Das Buch von Appel/Roth kommt aus dem Umkreis der Organisationen und Gruppen, die praktische Solidarität mit Flüchtlingen und MigrantInnen leisten: Themen sind u.a. die offizielle Zahlengaukelei mit der Asylstatistik, der Flüchtlingsbegriff, die Diskussion um den Art. 16, Situation von Flüchtlingsfrauen, ausländische Prostituierte, Gewalt und Rassismus, Handlungsmöglichkeiten für Bürgerrechts- und Flüchtlingsgruppen (Adressenteil im Anhang). Unter den vielen aktuellen Veröffentlichungen eine der brauchbarsten.

Sowohl für die Debatte wie auch die praktische Arbeit sehr viel weniger nützlich ist das Buch von Ludwig u.a.. Im Anhang nicht die Adressen von Initiativen und themenbezogenen Arbeitsgruppen, sondern der Ausländerbeauftragten und (wozu?) der Rechtsanwaltskammern. Artikel und Interviews von unterschiedlicher Güte: ein verwaschener multi-kulti-Beitrag von Peter Glotz, eine wenig informative Übersicht über die Art. 16-Debatte (Klees), ein geschwätziges Interview mit Regine Hildebrand einerseits und andererseits präzise Thesen zur Flüchtlings- und Migrationspolitik von Trittin und Grenz, Artikel über eine thüringische ZAST (Linke/ Ness) und über die psychosoziale Situation von Flüchtlingen (Brück u.a.) stehen sich gegenüber. Insgesamt sehr durchwachsener Versuch des Verlages, bei einem aktuellen Thema mitzumischen.
Asyl- und Ausländerrecht in der EG
Im allgemeinen sind die Diskussionen und Beschlüsse aus den Zirkeln der EG-Kommission, der ‚Ad-hoc-Gruppe Einwanderung‘ oder der Schengener Verhandlungsgruppen nicht öffentlich und tauchen nur in Vorlagen für den Innenausschuß des Bundestages u.ä. meist sehr dünn sprudelnden Quellen auf. Regelmäßige Informationen finden sich hingegen in Statewatch (PO Box 1516, London N 16 OEW) und Migration Newssheet (Churches‘ Committee for Migrants in Europe, 174, rue Joseph II, B-1040 Brüssel).

Europäisches Parlament: Bericht im Namen des ‚Ausschusses für Recht und Bürgerrechte‘ zu den Fragen des Asylrechts, Berichterstatter: Heinz Oskar Vetter, 23.2.1987 – PE Dok A 2-227/86/B
Nach wie vor spannende Zusammenstellung der Asylproblematik in den EG-Staaten, Ansätze für eine humane Asylpolitik (EG-weites Grundrecht auf Asyl, Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs auf Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge vergleichbar der afrikanischen Flüchtlingskonzeption etc.). Die zugehörige Resolution des Parlaments ist abgedruckt im Amtsblatt der EG, Nr. C 99 vom 13.4.1987, S. 167-171. Der Vetter-Bericht wurde von der EG-Kommission und den „für Einwanderungsfragen zuständigen Minister“ der EG-Staaten ignoriert.

Gilsdorf, Peter: Die Kompetenz der Gemeinschaft zur Angleichung asylrechtlicher Bestimmungen in der EG, in: Europarecht 1990, H. 1, S. 65-71
überarbeitete Fassung eines bei der ‚Konrad-Adenauer-Stiftung‘ 1989 gehaltenen Vortrages. Der EG-Kommissions-Jurist erläutert die Intentionen der Kommission mit dem Entwurf einer Asyl-Richtlinie 1988. Der Richtlinienentwurf ging in dieselbe Richtung wie das spätere Dubliner Abkommen, scheiterte aber an Kompetenzstreitigkeiten mit den nationalen Regierungen.

Wilke, Axel: Vollendung des EG-Binnenmarktes und Asylrecht. Zum Vorentwurf einer EG-Asylrichtlinie, in: Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 1989, H. 6, S. 225-229
Asylbewerberzahlen in der EG, der Richtlinienentwurf, Kompetenzen der EG-Kommission.

Barwig, Klaus; Lörcher, Klaus; Schumacher, Christoph (Hg.): Asylrecht im Binnenmarkt. Die europäische Dimension des Rechts auf Asyl, Baden-Baden (Nomos) 1989, 363 S., DM 48,–
Zusammenstellung der Beiträge der 1989er ‚Hohenheimer Tage zum Ausländerrecht‘, die jährlich von der Diözese Rottenburg-Stuttgart der katholischen Kirche veranstaltet werden (vorhergehende Tagungen: Familiennachzug, Ausländerwahlrecht, soziale Situation etc. – ebenfalls bei Nomos). Obwohl seit 1989 die Entwicklung rund um Schengen und die EG erheblich fortgeschritten ist, ist der Band nach wie vor ein Steinbruch für Argumente. Im Vordergrund steht die Auseinandersetzung zwischen Ex-BMI Wolfgang Schäuble, der die Abschaffung des Art. 16 fordert (BRD als „Reserveasylland“ der EG), und Berthold Huber, der den Art. 16 u.a. gegen den Richtllinienentwurf der EG-Kommission verteidigt. Ferner: Beiträge über Asylrecht in anderen europäischen Ländern und zur Diskussion im Rahmen von EG und Europarat.

Hailbronner, Kay: Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Koordinierung des Einreise- und Asylrechts, Baden-Baden (Nomos) 1989, 232 S.
(Konservativer) deutscher Vertreter beim ‚Ad-hoc-Komitee des Europarats für das Asylrecht (CAHAR)‘, befürwortet seit geraumer Zeit die Streichung des Art. 16 GG sowie die Einführung des Prinzips der einmaligen Chance, das in Schengen und Dublin und zuvor in einem vorläufigen Entwurf des CAHAR für ein Europaratsabkommen (vgl. Anhang) enthalten ist. Siehe auch:
ders.: Ziele und Schranken einer europäischen Asylrechtskoordinierung, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1989, H. 4, S. 303-310

Wollenschläger, Michael; Becker, Ulrich: Harmonisierung des Asylrechts in der EG und Art. 16 Abs. 2, S. 2 GG, in: Europäische Grundrechte-Zeitung 1990, H. 1/2, S. 1-10
Der Richtlinien-Entwurf vor dem Hintergrund des Art. 16.

Weichert, Thilo: Drittausländer in der Europäischen Gemeinschaft, in: Informationsbrief Ausländerrecht 1990, H. 9, S. 257-268
Weicherts Beitrag ist die erste umfassendere Darstellung der asyl- und ausländerrechtlichen Konsequenzen des Schengener Abkommens in der juristischen Literatur.

Yurttagül, Ali: Festung Europa – Grenzen dicht für Flüchtlinge, in: Bürger kontrollieren die Polizei/ Bürgerrechte & Polzei/CILIP / Straßenmedizin (Hg.): Die Bullen greifen nach den Sternen, Hamburg 1990, S. 24-28
Kommentar zu den nationalen Asylpolitiken und der Vereinheitlichung durch die EG-Innenminister und das Schengener Abkommen (in der Broschüre dokumentiert).

Meijers, H. u.a.: Schengen. Internationalisation of central chapters of the law on aliens, refugees, security and the police, Amsterdam (Kluwer) 1991, 202 S.
Englische Version einer Sonderausgabe des Nederlands Juristenblad mit Aufsätzen zum Asylrecht gem. Schengen und Dublin, zu den Sanktionen gegen Luftfahrtunternehmen, zur Bewegungsfreiheit und Einreise von Nicht-EG-BürgerInnen, Visumspolitik u.a.; im Anhang beide Abkommen in englisch.

EG-Kommission: Mitteilung der Kommission an den Rat und das europäische Parlament zur Asylfrage, Brüssel 11.10.91 (SEK 91-1857 endg.) sowie Mitteilung … zum Thema Einwanderung, Brüssel 23.10.1991 (SEK 91-1855 endg.)
Mit diesen Texten versuchte sich die Kommission erneut in die Debatte um die asylrechtliche Harmonisierung einzubringen. Forderungen: schnelle Ratifizierung des Dubliner Abkommen, weitere Harmonisierung (Länderlisten, Abschieberegelungen etc.). Die Mitteilungen sind vor dem Hintergrund des Maastrichter Gipfels zu betrachten.
Folgen des Maastrichter Vertrages
Nanz, Klaus-Peter: Der „3. Pfeiler der Europäischen Union“: Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik, in: Integration 1992, Nr. 3 (Beilage zur Europäischen Zeitung 1992, H.7-8), S. 126-139
Hailbronner, Kay: Perspektiven einer europäischen Asylrechtsharmonisierung nach der Maastrichter Gipfelkonferenz, in: Zeitschrift für Ausländerrecht 1992, H. 2, S. 51-59
Während Nanz sich vor allem mit formellen und Kompetenzfragen des Vertrages auseinandersetzt, erhebt Hailbronner Forderungen nach Listen sicherer Länder, Schnellverfahren u.a. Bürgerkriegsflüchtlinge dürften keinen eigenen Rechtsanspruch erhalten.
Neuere kritische juristische Literatur
Huber, Bertold: Asyl- und Ausländerrecht in der Europäischen Gemeinschaft, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1992, H. 7, S. 618-626
Materialreicher Überblick über die rechtlichen Entwicklungen im EG-Rahmen.

Marx, Reinhard: Das Europa der Innenverwaltungen, in: Demokratie und Recht 1992, H.3, S. 243-247
Kritischer Kommentar zur Politik der EG-Innenminister und zur Asylrechtsänderung von 1992, deren vorbestimmtem Scheitern, Prognose weiterer Verschärfungen.
ders.: Anforderungen an ein europäisches Asylrecht, in: Kritische Justiz 1992, H. 4, S. 405-426

Immigration Law Practioners‘ Association: Ausländer und Asylverfahrensrecht in den 12 Mitgliedstaaten der EG. Ein Bericht von Jim Gillespie, London 1993, 37 S. (ILPA, 115 Old Street, London EC 1V 9JR)
Übersicht über bestehende Regelungen und Vorschläge für Mindestnormen zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes.
Beiträge aus (dem Umfeld) der Polizei
Lintner, Eduard: Möglichkeiten der politischen Steuerung des Zustroms von Asylbewerbern und des Ausländerzuzugs unter Berücksichtigung des Aspekts des Abbaus der Grenzkontrollmaßnahmen innerhalb Europas, in: Die Polizei 1992, H. 11, S. 262-267
Der Autor ist Staatssekretär im BMI. Asylsuchende als Wirtschaftsflüchtlinge, bundesdeutsche Asyl(abschaffungs)politik, Schengen, Vertragspolitik mit Osteuropa etc. Der Artikel erschien in einem Schwerpunktheft der Polizei über „Gewalt gegen Asylbewerber und andere Ausländer“!

Die Polizei: Polizeiliche Zusammenarbeit mit Osteuropa, Die Polizei 1993, H. 6 (Schwerpunktheft)
Wiedergabe von Beiträgen eines Fachkongresses der IMK im März 1993, Themen u.a. Grenzsicherung, Folgen der Grenzöffnung in Osteuropa.

Robertson, Myles: Die Auswirkungen der Kriminalität in Osteuropa auf die EG, Referat auf einer von Siemens/Nixdorf organisierten Tagung „Polizei und moderne Kommunikation“ (10.-12.5.93 in Bremen)
Der Autor ist Mitglied des ‚Research Institute for the Study of Conflict and Terrorism‘. „Migration ist natürlich kein Verbrechen. Illegale Migration oder Menschenschmuggel ist ein Verbrechen.“ (S.73)

Halt, Adalbert: Stationen einer bitteren Reise, in: Deutsche Polizei 1993, H. 7, S. 19-27
Bisher waren kritische Schilderungen der Situation an der deutschen Ostgrenze nur in der Presse zu finden. Der Beitrag von Halt, Erfahrungsbericht einer Informationsreise zu den BGS-Standorten an der deutschen Ostgrenze, ist frei von der üblichen Kriminalisierung derjenigen, die die ‚Grüne Grenze‘ illegal überschreiten, und schildert statt dessen eindringlich die „erbärmliche Situation“, die Flüchtlinge im BGS-Gewahrsam erwartet, die Arbeitssituation der BGS-Beamten, die Motivation der neu eingestellten Hilfskräfte u.ä.

Expertenkommission Grenzpolizeiliche Personenkontrolle (Schweiz): Schlußbericht, Bern 1993 (für SFr 25,– erhältlich beim Komitee Schluß mit dem Schnüffelstaat, Postfach 6948, CH-3001 Bern)
Die vom Justizministerium eingesetzte Kommission fordert eine Beteiligung an den europäischen Klüngeln der polizeilichen und ausländerpolitischen Zusammenarbeit.

Morié, Rolf u.a (Hg.): Auf dem Weg zu einer europäischen Polizei, Stuttgart (Boorberg) 1992, 229 S.
Rupprecht, Reinhard u.a.: Innere Sicherheit im Europäischen Binnenmarkt. Strategien und Optionen für die Zukunft Europas – Grundlagen, Bd. 10, Gütersloh (Bertelsmann Stiftung) 1992, 392 S.
Beide Bände befassen sich nur mittelbar und am Rande mit Fragen des Asylrechts und der Einwanderung in der EG. Rupprecht/Hellenthal entwerfen ein „Programm für eine Europäische Gemeinschaft Innerer Sicherheit (EGIS)“, das die bestehende Richtung administrativer und polizeilicher „Harmonisierung“ im Rahmen von TREVI und Schengen ausdehnen will zu einem einheitlichen Konzept, das deutlich nach deutschem Vorbild gezimmert ist. Dazu holen sie sich Kommentare, u.a. von Wollenschläger, der sich mit den Konsequenzen für das Asylrecht auseinandersetzt. In dem Band von Morié u.a. dürften insb. die Beiträge von Siegele, der eine Zusammenfassung der europäischen Polizei- und Sicherheitskooperation gibt („Von TREVI bis Europol“) sowie von Storbeck (Leiter des Europol-Aufbaustabes in Straßburg) interessieren.
Broschüren und Reader aus dem Spektrum der KritikerInnen:
Bundesarbeitsgemeinschaft Flüchtlinge der Grünen u.a.: Im Fadenkreuz Europas. Asylpolitik und Innere Sicherheit der EG, Bonn 1993 (Bezug über Bundesgeschäftsstelle der Grünen, Ehrental 2-4, 53332 Bornheim)

Leuthard, Beat: Im elektronischen Spinnennetz gefangen, Zürich (Rotpunkt) erscheint voraussichtlich September 1993, SFr 37,– (Vorbestellungen bei Komitee Schluß mit dem Schnüffelstaat, Adresse s.o.)

Statewatch: Statewatching the new Europe, London – a Handbook of the European State, London (vorauss. August) 1993, £ 4,50 (incl. Versand, Bestellungen bei Statewatch, Adresse s.o.)
Nach Ländern gegliederter Überblick über Polizeistrukturen, Geheimdienste, Rassismus, Asyl und Migration.
(sämtlich: Heiner Busch)

Neuerscheinungen „organisierte Kriminalität“
Freiberg, Konrad; Thamm, Berndt Georg: Das Mafia-Syndrom. Organisierte Kriminalität: Geschichte – Verbrechen – Bekämpfung, Hilden (Verlag Deutsche Polizeiliteratur) 1992, 320 S., DM 39,80
Leyendecker, Hans; Rickelmann, Richard; Bönisch, Georg: Mafia im Staat. Deutschland fällt unter die Räuber, Göttingen (Steidl) 1992, 320 S., DM 24,–
Roth, Jürgen; Frey, Marc: Die Verbrecher-Holding. Das vereinte Europa im Griff der Mafia, München, Zürich (Piper) 1993 (4. Aufl.), 436 S., DM 38,–
Scherer, Peter: Das Netz. Organisiertes Verbrechen in Deutschland, Frankfurt/M., Berlin (Ullstein) 1993, 236 S., DM 19,90
O’Brien, Joseph F.; Kurins, Andris: Ehrenwerte Männer. Das FBI und der Pate von New York, Frankfurt/M. (S. Fischer) 1992, 384 S., DM 39,80

Organisierte Kriminalität ist eines der beliebtesten innenpolitischen Themen der letzten Jahre. Seit letztem Jahr versprechen nun einige Monographien (in der Regel von Journalisten verfaßt) einer breiteren Öffentlichkeit Aufklärung über das Phänomen „OK“.

Symptomatisch für Anspruch und Wirklichkeit dieser Publikationen ist der Klappentext der zuletzt erschienenen Veröffentlichung von Scherer: „Das erste Buch, das umfassend das Phänomen der organisierten Kriminalität in Deutschland darstellt.“ Im Text finden wir dann die bekannten Quellen und Fälle: das Lagebild OK ’91 des BKA (s. Freiberg/Thamm S. 123 ff.), die Frankfurter Gaststätte ‚Pirandello‘ (Roth/Frey S. 182), die deutsche Spur im Mordfall Livantino (s. Leyendecker u.a. S. 286 ff.; Freiberg/Thamm S. 140), Falcones Vortrag beim BKA (s. Leyendecker u.a. S. 308 ff.) etc. Aber Wiederholungen sind kein Privileg des zu spät Gekommenen. Der ausführlich von Roth/Frey (S. 120 ff.) vorgestellte Cuntrera-Caruana-Klan fehlt nicht in der Aufzählung von Leyendecker u.a. (S. 270). Ohne die berühmte Allgäu-Mafia kommen weder Freiberg/Thamm (S. 137) und Leyendecker u.a. (S. 278) noch Roth/Frey (S. 178) aus. Die Beispiele könnten beliebig fortgesetzt werden: die polnische Prostituierte Jadwiga, die verschwundene Deutsche Carmen, die Dormagener Pizzeria … spätestens beim zweiten Buch kommt einem alles irgendwie bekannt vor. Sollte sich organisierte Kriminalität in Deutschland auf so wenige Phänomene beschränken, daß immer wieder dieselben als Beleg herangezogen werden müssen?

Die Autoren würden die Frage als blinde Ignoranz zurückweisen – sie kennen das Credo der OK-Bekämpfung: „Organisiertes Verbrechen, das man erkennen kann, ist schlecht organisiertes Verbrechen“ (Roth/Frey, S. 25). Folglich ist OK tendenziell überall, und die jeweils geschilderten Deliktsbereiche scheinen beliebig: Rauschgift, Autoschieberei und die „Italienische organisierte Kriminalität“ finden sich in allen Veröffentlichungen. Je nach Vorlieben, so scheint es, werden andere Bereiche einbezogen: Korruption, Glücksspiel, die gesamte Milieukriminalität, Mülltransport, Atomhandel, Scheckbetrug, Geldfälschung, Transferrubelbetrug, internationaler Waffenhandel … Daß die Autoren zwar viel (be)schreiben, sie aber eigentlich nicht wissen, wovon sie reden, macht der Umgang mit der leidigen OK-Definition deutlich: Offensiv bekennen sich einzig Roth/Frey (S. 28) dazu, daß sie sich um die Definitionsfrage nicht scheren: die Gefahr sei so groß, daß keine Zeit bleibe zu bestimmen, worin sie denn bestehe. Die anderen Autoren erwähnen die beiden letzten bundesdeutschen offiziellen Definitionen; einzig Freiberg/Thamm (S. 109 ff.) setzen sich mit ihnen auseinander. Dies muß im Vergleich schon als Vorzug angesehen werden – auch wenn Freiberg/Thamm nicht mehr zu Wege bringen als eine vollkommen unproblematisierte Auslegung.

Die Schilderung exemplarischer Fälle und die Fallzahlen reichen den Autoren nicht, die Bedrohung durch organisierte Kriminalität deutlich zu machen. Roth/Frey sind offensichtlich um die halbe Welt (Venezuela, Kolumbien, USA, Spanien, Hongkong …) geflogen, um der OK auf die Spur zu kommen. Andere begnügen sich mit den Aussagen von Kriminalisten oder Zitaten aus internen Polizei- und Geheimdienstpapieren. Verbunden wird diese Mischung dann mit beliebig scheinenden OK-Indikatoren: bei Roth/Frey (S. 37) die steigende Straßenkriminalität oder die Banküberfälle in der Ex-DDR (S. 41), bei Leyendecker u.a. (S. 118) die Lira-Schwäche im letzten Jahr, bei Scherer (S. 211) eine aus Italien stammende Pistole eines hessischen Bürgermeisters oder der hohe Ausländeranteil (S. 202). Wo es um Ausländer geht, nimmt das Differenzierungsvermögen noch weiter ab. Soll eine Auflistung aller Gefangenen einer Justizvollzugsanstalt (Scherer S. 203 ff.) ein Indiz für ausländische OK sein? Soll der Russen-Anteil an der Bevölkerung ehemaliger UdSSR-Republiken und anderer Staaten (Freiberg/Thamm S. 187) ein Indiz für die Ausbreitung der „Russen-Mafia“ sein? Glauben Leyendecker u.a. (S. 305) dem von ihnen zitierten LKA-Chef, der behauptet: „Überall, wo Sizilianer leben, gibt es Mafia-Verbindungen“?

Die Autoren werden diese Fragen alle bejahen. Leyendecker u.a. (S. 236) kennen eine Autoschieberbande, die „in jeder deutschen Großstadt“ eine Filiale hat. Und: „Bayern ist bis in den letzten Winkel seiner tiefsten Provinz … ein Aktionsfeld der Mafia geworden.“ (S. 278) Scherer spricht vom „marodierenden Berufsverbrechertum“ (S. 188) und von der „Eiterbeule der Organisierten Kriminalität“ (S. 213). Bei so viel Gleichklang in der Diagnose verwundern die geographischen Vergleiche: „Palermo liegt überall“ (Freiberg/Thamm S. 319), „Frankfurt ist nicht Palermo, und es liegt knapp 1500 Kilometer weiter nördlich“ (Roth/Frey, S. 32), „Berlin ist ein Stück Medellín, … und ein Stück Palermo“ (Leyendecker u.a. S. 51) oder etwa: „Frankfurt ist überall“ (Scherer S. 212).

Nach der Lektüre dieser Bücher wissen LeserInnen nicht mehr über organisierte Kriminalität als vorher. Einzig für Freiberg/Thamm muß eine Einschränkung gemacht werden. Das Buch gibt zumindest den polizeilichen Erkenntnisstand wieder, ohne ihn durch journalistische Effekthascherei zu entwerten. Die Ohnmacht gegenüber ihrem Gegenstand teilen die Autoren jedoch mit ihren Kollegen. Welche Beziehungen etwa zwischen dem ersten Teil ihrer Darstellung (Entstehungsgeschichte z.B. von Triaden, Yakuza, Mafia etc.) und dem zweiten Teil (OK heute) bestehen, wird nicht deutlich. Die polizeiliche Wahrnehmung und Interpretation „organisierter Kriminalität“ wird an keiner Stelle in Frage gestellt.

Alle Veröffentlichungen enthalten Aussagen zur Verbesserung der OK-Bekämpfung. Das Schwergewicht liegt auf repressiven Maßnahmen. Die Debatte um die Legalisierung von Rauschgiften wird auch aufgegriffen: Freiberg/Thamm (S. 261 ff.) beschränken sich auf eine bloße Wiedergabe der Positionen, Scherer (S. 127 ff.) lehnt jede Legalisierung ab, und Roth/Frey (S. 371 ff.) machen sich die herrschende Bekämpfungsstrategie mit einer moralisch-zivilisationskritisch daherkommenden Argumentation zu eigen. Lauschangriff und milieubedingte Straftaten verdeckter Ermittler (VE) werden diskutiert. Freiberg/Thamm (S. 226 u. 236) beschränken sich auch hier auf die sehr kurze Aufzählung der Argumente. Leyendecker u.a. (S. 241) wie Roth/Frey (S. 401) zitieren übereinstimmend als offensichtlich besonders unverdächtigten Protagonisten den ehemaligen Bundesdatenschutzbeauftragten und ggw. schleswig-holsteinischen Innenminister Bull, demzufolge der Lauschangriff eine soziale Last darstelle, die man als Bürger hinnehmen müsse. Scherer macht sich nicht nur die Forderung von BKA-Präsident Zachert zu eigen, der VE-Einsatz sei von Straftatenkatalog und Richtervorbehalt zu befreien (S. 179), sondern fordert auch, den Lauschangriff bis in den „engste(n) Intimbereich des Schwerstkriminellen“ auszudehnen (S. 198). Nur so könne das Ausweichen für Verbrechensplanungen in diese Räume verhindert werden! Der Mann ist wenigstens logisch konsequent und ehrlich.

Über die Realität des polizeilichen Lauschangriffs berichten die beiden ehemaligen FBI-Agenten O’Brian und Kurins. Belauscht wurde das damalige Oberhaupt einer der fünf New Yorker Mafia-Familien, Paul Castellano. Die Autoren beschreiben ausführlich nicht nur das New Yorker Mafiamilieu, die Macht der Familien und deren „Tätigkeitsbereiche“, sondern auch detailliert die praktischen und technischen Schwierigkeiten ihres Lauschangriffs. Das Buch ist zwar als spannende Kriminalgeschichte (ohne happy end) geschrieben, es enthält darüber hinaus aber interessante Aspekte, die für die deutsche Diskussion über organisierte Kriminalität von Interesse sind. Dies gilt für das Phänomen OK selbst: es wird deutlich, daß „organized crime“ in den USA sich nach wie vor qualitativ von „organisierter Kriminalität“ in Deutschland unterscheidet. Dies gilt für das Instrument Lauschangriff: die Wanze wird in der Küche plaziert, und Intimitäten werden belauscht, weil sie den moralischen Verfall des Paten dokumentieren sollen. Und dies gilt für die Effektivität des Lauschangriffs: Zwar ermöglichten die belauschten und aufgezeigten Gespräche einen umfangreichen Mafia-Prozeß. Castellano starb jedoch vor Prozeßbeginn durch einen von John Gotti beauftragten Killer. Gotti, als Nachfolger Castellanos Chef der Gambino-Familie, wurde später aufgrund von geheimen Tonbandaufzeichnungen angeklagt und verurteilt. Die Paten werden belauscht und gehen – aber die Mafia bleibt. Ist vom Lauschangriff mehr zu erwarten? In deutschen OK-Veröffentlichungen sucht man eine Antwort vergebens.
(Norbert Pütter)