Italien als Einwanderungsland – Migrationspolitik und Grenzkontrollen im europäischen Kontext

von Massimo Pastore

Bis Ende der 70er Jahre kamen mehr als 75% der in Italien lebenden AusländerInnen aus Ländern der Europäischen Gemeinschaft (EG) oder den USA. Es waren StudentInnen oder hochqua-lifizierte Beschäftigte. Die Rekrutierung von Arbeitsimmigran-tInnen stellte ein eher randständiges Phänomen dar. Zehn Jahre später hatte sich die Situation völlig verändert: 1990 war der Anteil der in Italien lebenden AusländerInnen aus einem der ‚entwickelten‘ Ländern von 75% auf 40% gesunken. Gleichzeitig hatte sich die Zahl der AusländerInnen mit einer unbegrenzten Aufenthaltserlaubnis von 300.000 auf 632.527 erhöht. Die Statistiken des Innenministeriums zeigen einen weiteren Anstieg: In Italien leben demnach z.Zt. 927.807 AusländerInnen mit unterschiedlichem Aufenthaltsstatus. Davon sind 146.918 EG-BürgerInnen und 780.889 Nicht-EG-BürgerInnen.

In der zweiten Hälfte der 70er Jahre – als die meisten europäischen Länder einen Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte verfügten – entwickelte sich Italien infolge der Umleitung der Migrationsströme zum ersten südeuropäischen ‚Empfängerland‘ für eine große Anzahl von ArbeitsmigrantInnen, vor allem aus Nord- und Zentralafrika. In der ersten Periode betrachteten viele dieser MigrantInnen Italien nur als ‚Transitland‘ auf dem Weg in die traditionellen Wunsch- und Zielorte Nordeuropas. Zu dieser Zeit war es recht einfach, die italienischen Grenzen zu überwinden: Die meisten Neuankömmlinge reisten mit Touristenvisa ein und blieben über die erlaubten drei Monate hinaus im Lande. Da es ihnen zumeist nicht gelang, in ein anderes europäisches Land weiterzuwandern, blieb die Mehrzahl in Italien. Allerdings bot sich den so Eingewanderten keinerlei Möglichkeit, eine offizielle Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis zu erlangen. So begannen sie, als „illega-le“ ArbeiterInnen die Arbeitsplätze einzunehmen, die von den Einheimischen abgelehnt wurden. Durch zwei aufeinanderfolgende „Amnestie-Programme“ der italienischen Regierung (1987 und 1990) erhielten ca. 350.000 dieser EinwanderInnen einen regulären Aufenthaltsstatus und eine Arbeitserlaubnis. Auf diese Weise entwickelte sich Italien im Laufe von weniger als zehn Jahren vom einstigen Auswanderungsland schließlich zum Einwanderungsland. Andere südeuropäische Länder haben ähnliche Prozesse durchlaufen. Als Konsequenz hat sich die Trennungslinie zwischen Sende- und Empfängerländer immer weiter nach Süden verschoben und stimmt nunmehr mit der südlichen Außengrenze der EG überein. Folglich steht Italiens Einwanderungspolitik stärker als in der Vergangenheit im Zentrum innereuropäischer Auseinandersetzungen und unter zunehmendem Druck der EG- und Schengenstaaten, sich an die gemeinsame Praxis der Grenzkontrollen anzupassen.

Die Gesetze von 1986 und 1990

Infolge des starken Einwanderungsdrucks in den 80er Jahren und der neuen Verpflichtungen als Außenposten der EG sieht sich Italien seit 1986 dazu ge-zwungen, Regulierungsformen für Einwanderung und Aufenthalt von Nicht-EG-BürgerInnen zu übernehmen. Den ersten Versuch stellte das Gesetz Nr. 943 von 1986 dar, mit dem illegale EinwanderInnen „amnestiert“ und erstmals Regelungen zur Einwanderungskontrolle sowie zur Beschäftigung und Behandlung von Nicht-EG-BürgerInnen erstellt wurden. Dasselbe Gesetz regelt die Familienzusammenführung, die in Fällen erlaubt ist, in denen reguläre Beschäftigungsverhältnisse der in Italien ansässigen Familienmitglieder sowie weitere Voraussetzungen für eine ’normale‘ Lebensführung der nachziehenden Ehepartner oder Kinder nachgewiesen werden können. Die Ziele dieses Gesetzes sind jedoch nur zum Teil erreicht worden: Das gilt vor allem für das Legalisierungsprogramm (105.000 neu erteilte Aufenthaltsgestattungen lagen deutlich unter den Erwartungen) und das sehr komplizierte Verfahren der Erteilung von Arbeitserlaubnissen an einreisewillige AusländerInnen.

Ende 1989 startete die Regierung ein neues Legalisierungsprogramm. Von Januar bis Juni 1990 meldeten sich daraufhin 240.087 illegale Nicht-EG-BürgerInnen bei der Polizei, fast 230.000 neue Aufenthaltstitel wurden erteilt. Diese zweite Amnestie geschah im Rahmen des Gesetzes Nr. 39 von 1990 – dem sog. „Martelli-Gesetz“. Zum einen sollte damit den Bedürfnissen des offiziellen Arbeitsmarktes Rechnung getragen werden, da in vielen Bereichen der Wirtschaft ein Bedarf an billigen ausländischen Arbeitskräften bestand. Andererseits waren Maßnahmen zur Identifizierung und Registrierung einer größtmöglichen Zahl bislang unbemerkt im Lande lebender Nicht-EG-BürgerInnen durch die Staatspolizei Bestandteil einer weitergehenden Politik. Mit ihr wurde auf die Anforderungen der anderen europäischen Staaten (insb. der Schengen-Gruppe) nach strengerer Kontrolle der Einreise und Einwanderung eingegangen. So sah das Gesetz u.a. die Einrichtung eines neuen zentralen Computersystems in Rom zur Erfassung aller eingereisten AusländerInnen vor. Weiterhin wurden zusätzliche administrative Maßnahmen eingeführt, die auf die Abschottung Italiens vor EinwanderInnen aus Nicht-EG-Staaten abzielten: Visazwang, Strafandrohung für Flug- und Transportgesellschaften, neue Befugnisse für die Grenzpolizei.

Der Verabschiedung des „Martelli-Gesetzes“ war eine Dramatisierung des Einwanderungsproblems in den Medien und in politischen Reden vorausgegangen. Die Forderung nach staatlicher Beschränkung und Kontrolle von Migrationsbewegungen wurde in Italien – ähnlich wie in anderen Ländern Europas – immer populärer. Die Anwort in Form eines ‚Law- und Order-Modells‘ ließ daher nicht lange auf sich warten. Nach der Verabschiedung des Immigrations-Gesetzes ging die italienische Regierung sogar noch einen Schritt weiter und begann eine Diskussion über den Einsatz der Armee, um an den Grenzen illegale Einwanderung zu verhindern. Die Umsetzung des „Martelli-Gesetzes“ wurde von den europäischen Partnern begrüßt und im November 1990 war es so weit: Italien durfte Mitglied der Schengen-Gruppe werden.

Die Folgen der Einwanderungskontrolle

Die Umsetzung des „Martelli-Gesetzes“ hatte schwerwiegende Auswirkungen: Die Zahl der abgewiesenen AusländerInnen, die in ihr Herkunftsland zurückgeschoben wurden, erhöhte sich von 39.977 im Jahr 1989 auf 61.813 im Jahr 1990, während die Zahl der Abschiebungsurteile im gleichen Zeitraum von 845 auf 12.473 stieg. In den folgenden Jahren setzte sich dieser Trend fort. Während des ersten Vierteljahres 1991 sind 42.453 AusländerInnen von der Grenzpolizei zurückgewiesen worden. Hinzu kommen ca. 23.000 albanische StaatsbürgerInnen, die von Juni bis August 1991 mit Gewalt an der Einreise gehindert wurden. 1992 haben die Behörden wegen Verstößen gegen die Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen und/oder wegen strafrechtlicher Verurteilungen insgesamt 30.573 Abschiebungen verfügt. Gemäß den Ausweisungsbstimmungen des „Martelli-Gesetzes“ stellt die Abschiebung die automatische Strafe für ein breites Sprektrum „illegalen“ und „irregulären“ Verhaltens von Nicht-EG-BürgerInnen dar. Es unterscheidet weder zwischen AusländerInnen mit einem legalen oder illegalen Aufenthalt noch berücksichtigt es familiäre oder kulturelle Bindungen. Folglich hat sich die Zahl der Ausweisungsverfügungen konstant erhöht: Mit dem Ergebnis, daß nur ein Bruchteil tatsächlich vollstreckt werden kann und der Anteil der in die Illegalität Gedrängten ständig wächst. Zur Lösung dieses Problems hat die Regierung 1992 und 1993 versucht, einen Erlaß zu verabschieden, der eine unverzügliche Abschiebung aller inhaftierten AusländerInnen vorsieht und die faktische Abschaffung der ohnehin mangelhaften Rechtsgarantien für AusländerInnen bedeutet hätte. Beide Versuche wurden jedoch vom Parlament vereitelt.

Auf der anderen Seite hat sich die Zahl der zur Einreise und Arbeitsaufnahme Zugelassenen auf einem sehr niedrigen Niveau eingependelt, was mit büro-kratischen Bestimmungen zur Erteilung einer Arbeitserlaubnis zusammenhängt. Seit Ende 1991 existiert speziell für ausländische Hausangestellte und Kindermädchen jedoch ein weniger kompliziertes Verfahren. Seither nimmt ihr Anteil an der Gesamtzahl der ArbeitsmigrantInnen ständig zu: Von ca. 21.000 erteilten Arbeitserlaubnissen und Visa im Jahre 1992 entfielen hierauf mehr als 15.000.
Trotz einzelner Versuche, das Verfahren der Familienzusammenführung zu beschleunigen und effizienter zu gestalten, gelingt es der Mehrheit der Immi-grantInnen noch immer nicht, alle verlangten Voraussetzungen zu erfüllen. Die faktischen Probleme bei der Beschaffung der notwendigen Dokumente und die Verzögerungen zwischen Antrag und Erteilung von Visa führen häufig zu ‚de facto-Nachzügen‘, ohne daß eine Erlaubnis vorliegt. Ein immer größer werdender Teil der Illegalen besteht somit heute aus nachgereisten Ehepartnern und Kindern.
Für AsylbewerberInnen gilt, daß sie trotz der Abschaffung des sog. „geographischen Vorbehalts“ – der vorsah, lediglich Flüchtlingen aus Europa Asyl zu gewähren – kaum Aussicht auf Erfolg haben. Nach Schätzungen des Innenministeriums vom Januar 1993 leben in Italien 7.435 Flüchtlinge und 8.570 AsylbewerberInnen. Mit extrem niedrigen Anerkennungsquoten (1992 = 4,88%), bürokratischen Schikanen und zahlreichen Rechtsunsicherheiten wird versucht, Flüchtlinge von der Inanspruchnahme politischen Asyls abzuhalten. Hinzu kommen soziale Diskriminierungen: AsylbewerberInnen erhalten nur für eine kurze Übergangszeit staatliche Unterstützung. Danach können sie zwar für die Dauer ihres Verfahrens im Lande bleiben, dürfen jedoch nicht arbeiten und haben keinerlei Zugang zum Sozial- und Gesundheitssystem. Lediglich die Politik gegenüber Bürgerkriegsflüchtlingen aus Somalia und Ex-Jugoslawien hat die italienische Regierung vor kurzem geändert: Ihnen wird aus humanitären Gründen ein begrenzter Aufenthalt zugesichert. Sie können in Italien bleiben und arbeiten, bis sich die Situation in ihrem Heimatland entspannt hat. Flüchtlinge aus Bosnien stehen jedoch weiterhin vor extremen Schwierigkeiten, eine Einreiseerlaubnis zu erhalten und die strengen Grenzkontrollen der Slowenischen Behörden zu überwinden.

Abschließende Bemerkungen

Italien hat innerhalb weniger Jahre die wichtigsten Kontroll- und Regulie-rungsformen anderer europäischer Staaten übernommen: Einführung admini-strativer Maßnahmen zur Verhinderung der Einreise von unerwünschten AusländerInnen, Verschärfung der Grenzkontrollen, Restriktionen in den drei zentralen Bereichen der Migrationspolitik (Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften, Familienzusammenführung, Asylgewährung), Durchsetzung von Deportationsgesetzen und Verschleppung von Maßnahmen zur Förderung des legalen Status von Nicht-EG-BürgerInnen. Diese zügige Anpassung resultiert u.a. aus der Bedeutung, die der Harmonisierung von Migrationspolitik und Grenzkontrollen in bezug auf die europäische Integration und die geplante Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft zukommt. In diesem Kontext fällt Italien besondere Verantwortung für die Überwachung einer der wichtigsten und exponiertesten EG-Außengrenzen zu. Die vielfältigen Anstrengungen der letzten Jahre, die illegale Einwanderung zu stoppen, haben sich dabei als sehr kostspielig aber ineffektiv erwiesen. Es wird zunehmend offensichtlich, daß die neuen Gesetze – statt irreguläre Migration zu beenden – wesentlich zu ihrer Ausweitung beigetragen haben. Der Anstieg des illegalen Bevölkerungsanteils unter den neuen MigrantInnen ist so weit fortgeschritten, daß sich eine große Mehrheit des italienischen Parlaments bereits veranlaßt sah, eine neue Amnestie für all jene zu fordern, die eine Beschäftigung – auch auf irregulärer Basis – nachweisen können. Solch eine Entscheidung – wenn in ihrer Zielsetzung auch beschränkt – könnte ein erster Schritt in Richtung auf eine Umkehr der europäischen ‚Law- und Order-Politik‘ sein. Geschieht eine solche Abkehr nicht, werden sich die bereits jetzt sichtbaren „nichtintendierten“ Folgen dieser Politik weiter ausbreiten und verstärken: Zunahme einer Bevölkerung europäischer ‚Parias‘ ohne jegliche Bürgerrechte, Teilung der europäischen Bevölkerung in „ingroups“ von EG- und „outgroups“ von Nicht-EG-BürgerInnen sowie – nicht zuletzt – ein alarmierender Anstieg von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit überall in der Europäischen Gemeinschaft.

Massimo Pastore ist Dozent für Kriminologie an der Universität in Turin sowie Mitglied der ASGI (Associ-azione per gli studi giuridici sull’immi-grazione = Vereinigung für einwanderungsrechtliche Studien) und Redaktionsmitglied von ‚ASPE Migrazioni‘

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