Polizei auf dem Lande – Erfahrungen aus 15 Dienstjahren

von Johann Wein

Die Grenzen der Dienstbereiche bayerischer Polizeiinspektionen sind im Regelfall den Grenzen der politischen Landkreise angelehnt. Teilweise sind größere Landkreise aber auch auf zwei Inspektionen aufgeteilt, da die polizeiliche Präsenz durch zu große Entfernungen sonst nicht gewährleistet wäre. Je nach Größe ihres Dienstbereiches haben die Polizeiinspektionen in der Regel eine (Soll-)Stärke von 30 bis 80 BeamtInnen. Die nächsthöhere Ebene nach den Inspektionen bilden die Polizeidirektionen (PD). Sie sind für mehrere Landkreise zuständig. Die PDs wiederum sind dann den Polizeipräsidien (Bezirken) eingegliedert. Auffallend sind die relativ großen Entfernungen. So ist die jeweilige Polizeidirektion auf dem Lande oft mehr als 60 Kilometer von der Inspektion entfernt. Dieses vorneweg, um die organisatorischen Besonderheiten aufzuzeigen.

Speziell in Bayern kommen viele Nachwuchsbeamte aus den ländlichen Bereichen. Einer von vielen Gründen hierfür liegt sicher in den beruflichen Möglichkeiten, die sich auf dem Lande für Absolventen mit mittlerem Bil-dungsabschluß ergeben. In früheren Jahren wurde noch gezielt an den Schulen geworben, heute muß eine BewerberIn schon selbst aktiv werden und den Einstellungsberater bei der Polizeidirektion aufsuchen. Das zeigt deutlich, wie sich die jeweils aktuelle Arbeitsmarktsituation auch auf die Zahl und die Qualifikation der künftigen Polizeibeamten und -beamtinnen auswirkt.

Junge BeamtInnen werden nach der Ausbildung überwiegend in den Großstädten eingesetzt. So kommen dann die jungen PolizistInnen mit ihren Le-benserfahrungen aus dem ländlichen Bereich in ein für sie oftmals grell-bun-tes Großstadtleben. Viele Beamte lassen während der Zeit in der Großstadt ihre Beziehungen in die ländliche Heimat jedoch nicht abreißen. So steht der Versetzungswunsch über Jahre hinweg an vorderster Stelle, obwohl der Dienst in der Großstadt meist als spannend und erlebnisreich empfunden wird. Gelingt es dann – meist erst nach mehreren Jahren – in einen ‚heimatnahen‘ Bereich oder gar an die Wohnortdienststelle versetzt zu werden, ändert sich die berufliche Tätigkeit und damit auch das Berufsbild vielfach radikal.

Spannungen I

In der Vergangenheit ergab sich auf den ländlichen Dienststellen oftmals ein spürbarer Mißklang zwischen den neu in diese Reviere versetzten Beamten und den dort ’schon immer‘ diensttuenden. Letztere waren häufig als sog. ‚Altbewerber‘ nach einer vorherigen anderweitigen Berufsausbildung erst spät in den Polizeidienst gewechselt. Sie verfügten zwar über Lebenserfahrung, jedoch über eher wenig Dienst- und zumeist gar keine Großstadterfahrung. Den ‚Neulingen‘, im Vergleich zum Stammpersonal meist relativ jungen Beamten, deren Berufserfahrung in vielem sicherlich höher war, nahm man dies jedoch nicht ab. Auch wurden mangelnde Lebenserfahrung und ‚forsches Auftreten‘ unterstellt.

Dieses traditionelle Konfliktfeld hat sich aufgrund der Alterstruktur inzwi-schen jedoch verändert. Heute war die Mehrzahl der Beamten bereits in Bal-lungsgebieten eingesetzt, und entsprechend zurückgedrängt ist die Zahl der Altbewerber. Oftmals wird jedoch immer noch ’nicht verziehen‘, daß diese mit stark verkürzter Ausbildung, wenig Drill bei der Bereitschaftspolizei und ohne den Umweg über die Großstädte direkt an die Heimatdienststellen kamen, und diesen Beamten auch die Dienstzeit bei der Bundeswehr oder anderen staatlichen Behörden angerechnet wurden. Dies stößt bei vielen Kollegen, die durch den jahrelangen Aufenthalt in der Großstadt mit hohen Fahrtkosten oder Mieten belastet waren, auf Unverständnis.

Auf der anderen Seite ist durch die Versetzung vieler jüngerer Beamter aus Großstädten in ländliche Bereiche und dem Ausscheiden vieler ‚altgedienter Landgendarmen‘, wie diese lange Zeit auch in der Bevölkerung genannt wurden, eine Änderung im Arbeitsstil eingetreten.

Polizeiliche Tätigkeit auf dem Land

Der tägliche Dienst unterscheidet sich in vielem von der Tätigkeit auf einem (groß-)städtischen Revier. Statt ‚Erstzugriff‘ und Übergabe auch kleinerer Delikte an Fachdienststellen steht bei den Landdienststellen die ‚eigene Sachbehandlung‘ oder Endsachbearbeitung im Vordergrund. Jeder Beamte muß, nachdem er eine Bearbeitung übernommen hat, in der Regel den Vorgang so lange bearbeiten, bis er an die Staatsanwaltschaft abgegeben wird. Dies führt zu einer stärkeren Identifikation und sicherlich auch zu genauerer und gewis-senhafterer Bearbeitung, da sich Versäumnisse bei den Ermittlungen unmit-telbar und spürbar auf das eigene Arbeitsergebnis auswirken. Auf der anderen Seite führt das Mehr an Verantwortung auch zu mehr Bestätigung, wenn etwa durch eigene Ermittlungen eine Unfallflucht geklärt oder ein Straftäter überführt werden kann.

Der polizeilichen Tätigkeit wird aber auch im persönlichen Umfeld Aufmerk-samkeit zuteil, wenn sich z.B. in einer Kleinstadt oder einem Dorf ein schwerer Verkehrsunfall ereignet hat und man selbst die Sachbearbeitung übernommen hat. Neben Veröffentlichungen in der örtlichen Presse, tragen dann auch viele Gespräche, oft buchstäblich beim Bäcker oder am Stammtisch, dazu bei, die eigene Arbeit als sinnvoll und ‚wichtig‘ erscheinen zu lassen. Problematisch wird es jedoch dann, wenn bei einem Vorfall Freunde, Nachbarn oder Bekannte betroffen sind. Formal wird dies dadurch ‚gelöst‘, daß ein Kollege die Sachbearbeitung übernimmt. Ein Rest an Problemdruck (Bemühen um Unabhängigkeit) bleibt dennoch immer bestehen. Dies gilt auch für den Umgang mit lokalen Honoratioren, einflußreichen Geschäftsleuten, Abgeordneten, Bürgermeistern usw., die allein durch ihre Bekanntheit die Unabhängigkeit der Beamten strapazieren können. Dann muß auch bei eigentlichen Standardmaßnahmen wie z.B. Blutentnahmen nach Trunkenheitsfahrten unter Umständen Zivilcourage gezeigt werden.
Einen starken Gegensatz hierzu bilden die sog. ‚einfachen Bürger‘, die von den durch ihre früheren Erfahrungen mit großstädtischem, kritischem Publikum vorsichtig gewordenen Beamten in der Regel als ‚brav‘ und ‚gesetzestreu‘ empfunden werden.

Schwerpunkte polizeilicher Arbeit auf dem Land sind Verkehrsunfälle, mit oft tragischem Ausgang. Daneben sind es vor allem Bagatelldelikte wie Diebstähle, Sachbeschädigungen und ‚Delikte rund um das Kraftfahrzeug‘. Verstöße wie Fahren ohne Fahrerlaubnis und sonstige Verkehrsdelikte runden das gewöhnliche Tätigkeitsfeld ab.

Mit wenig personellen und logistischen Reserven muß die gesamte Palette polizeilichen Handelns abgedeckt werden. Anders als in Großstadtbereichen hat der Beamte vielfach ein – dann allerdings auch entsprechend flaches – All-roundwissen. So können teilweise spektakuläre Vorkommnisse und Lagen, die entsprechend selten und daher stets unvorbereitet auftreten, bei der geringen Einsatzstärke der Wachbesatzungen oft nur schwer handhabbar sein. Anders als in Großstädten, wo die Einsatzzentrale binnen weniger Minuten eine Vielzahl von Fahrzeugen und BeamtInnen an den Einsatzort dirigieren kann, bleiben Landpolizisten längere Zeit auf sich allein gestellt, wenn eigentlich dringend Hilfe und Unterstützung notwendig wären. Dies gilt z.B. auch bei größeren Auseinandersetzungen und Raufereien. Entsprechend vorsichtiges, behutsames und deeskalierendes Einschreiten ist für die Beamten deshalb schon im Interesse der eigenen Sicherheit notwendig, da es oft mehr als 20 bis 30 Minuten dauern kann, ehe ein zweites Fahrzeug, manchmal von einem Nachbarrevier, eintrifft. Völlig unverständlich für viele auf dem Land einge-setzte Beamte ist auch die gerade im Fernmeldebereich immer noch mangelhafte Ausstattung, die ein echtes Sicherheitsproblem darstellt. Während in den Städten fast jeder Quadratmeter durch Funkverbindungen abgedeckt ist, kann auf dem Land durch topografische Besonderheiten und mangelhafte Technik die Einsatzzentrale oder die Inspektion vielfach nicht erreicht werden. Im Zeitalter von Mobilfunk und Handy ruft dieser Zustand stets Verärgerung im Kollegenkreis hervor.

‚Entschädigt‘ werden die Beamten bei ihrer Arbeit jedoch durch eine noch als intakt empfundene Umwelt in einer auch sonst attraktiven Landschaft, was auch bewußt so wahrgenommen wird. Bei den Fahrten über Land mit häufig sehr langen Anfahrtszeiten zum Einsatzort, ergeben sich immer wieder Gespräche ‚über Gott und die Welt‘. Auch dies wird als Entlastung für die Widrigkeiten des Dienstes und vieler, gerade interner Reibungen empfunden. ‚Achtzig Prozent der Probleme bei der Polizei sind interner Art‘, lautet das entsprechende Schlagwort. Dazu gehören in erster Linie Probleme mit Vorgesetzten, kleinliche und bürokratische Auslegung von Vorschriften, Überregulierung in allen Bereichen und eine zum ‚Wasserkopf‘ mutierte Verwaltung, die ‚in Friedenszeiten den Feind ersetzt‘, so ein beliebter Ausspruch. Solche Probleme interner Art treten auf dem Lande deutlicher zutage, da vom ‚polizeilichen Gegenüber‘ weniger Arbeit, Kritik und Beschwerden zu erwarten sind. So befaßt sich der Apparat hier öfter und mehr mit sich selbst.

Spannungen II

Durch das geltende Beurteilungs- und ‚Leistungssystem‘ werden Anpasser und ‚Radfahrer‘ bevorzugt und auf der Karriereleiter nach oben gehievt. Dies wird auf Landdienststellen ebenfalls stärker spürbar, da hier nicht, wie in großstädtischen Revieren überwiegend, jüngere und somit eher ranggleiche KollegInnen miteinander Dienst verrichten. Für alle in der Polizei Beschäf-tigten gilt jedoch, daß Sekundärtugenden wie Fleiß, Disziplin und Ordnung, über alles gestellt werden – Primärtugenden wie Zivilcourage, ‚aufrechter Gang‘ u. ä. sind dagegen auf dem Weg nach oben eher hinderlich. Dies führt – durch die immer noch stark ausgeprägte Hierarchie in der Polizei – zu starken Frustrationen unten und einer Zunahme zwar formell, aber menschlich nicht ausreichend qualifizierter Vorgesetzter. Machtstreben und Machtzeigen gehören zu beliebten Ritualen. Nicht umsonst wird aus den berühmten ‚Gelben Socken zur Uniform‘ ein ’schwerer‘ Verstoß gegen die Bekleidungsordnung, dem oft mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird als den Sorgen und Nöten der BeamtInnen.

Gerade im Bereich des mittleren Dienstes, der auf den Basisdienststellen im-mer noch (gerade im Schichtdienst) den Großteil der Arbeit leistet, wird auch die ungenügende Beförderungssituation kritisiert. So haben bei den Landin-spektionen zahlreiche Beamte trotz zwanzigjährigem Schichtdienst (in Groß-städten kaum vorstellbar) immer noch Obermeister, wenig Perspektive auf eine Beförderung zum Hauptmeister. Da aber durch die zwischenzeitlichen Änderungen in der Laufbahnstruktur jetzt viele neue Beamte und Beamtinnen auf die Inspektionen kommen, die bereits höher eingestuft sind, empfinden die Beamten dies als unverständlich und ungerecht. So lautet der Rat, den viele junge und ehrgeizige Beamte beherzigen: ‚Hier auf dem Land kannst du nichts werden!‘
Neben wenig Karriereaussichten bei den Inspektionen stellt auch die geringe Zahl von Tagesdienstposten – im Gegensatz zu Stadtbereichen – ein Problem dar. Nach 20 oder mehr Jahren Schichtdienst wird dies für viele Beamte zu einer existentiellen Frage. So bleibt für viele auch gesundheitlich etwas angeschlagene Beamte keine andere Wahl, als weiterhin Schichtdienst zu leisten oder den Dienstort zu wechseln. Vielleicht erklärt auch dies den teilweise dramatisch hohen Anteil der vorzeitigen Pensionierungen. Der Druck auf die wenigen Posten im Tagesdienst schürt Neid und Mißgunst. Für die Inspektionsleiter ist es schwierig, diese Stellen richtig zu besetzen und allen gerecht zu werden.

Das polizeiliche Gegenüber

Nicht nur nach innen ergibt sich für Polizisten auf dem Land ein etwas ande-rer Blick. Auch das sog. polizeiliche ‚Gegenüber‘ zeigt sich anders. Nicht Anonymität, sondern Bekanntheit steht im Vordergrund. Dies gilt für beide Seiten. Alkoholprobleme etwa, Arbeitslosigkeit und sozialer Abstieg lassen sich auf dem Land kaum verbergen. Dieses Nebeneinander von Kennen und Gekanntwerden kann Konflikte zwischen Beamten und BürgerInnen zwar vielfach entschärfen, insbesondere wenn auch die Vorgeschichte oder ein Schicksal im familiären Bereich bereits aus früheren Einsätzen bekannt ist. Allerdings führt dieses Kennen auch zu Schablonendenken. So hat man hier die Möglichkeit, sich seine Vorurteile täglich neu bestätigen zu lassen, wie man es sarkastisch formulieren könnte. Das gilt insbesondere für den Umgang mit AusländerInnen und Randgruppen. Gerade diese finden in den kleinstädtischen und dörflichen Strukturen bei zumeist stramm konservativem Hintergrund wenig Akzeptanz. Die Probleme und Ursachen, z.B. Gründe für Flucht oder Migration, werden unbewußt oder bewußt nicht wahrgenommen. Leider sind auch fremden- und ausländerfeindliche Tendenzen in der Polizei stark vertreten. Durch pseudowissenschaftliche Statistiken über ‚Ausländerkriminalität‘, die auch Gegenstand interner Dienstbesprechungen sind, werden solche Tendenzen eher verstärkt. Eine Erklärung von Kriminalität als Problem mit sozialen Ursachen unterbleibt. Gerade im ländlichen Bereich wird diese Haltung durch das konservative Weltbild zementiert.

Nicht verschwiegen werden soll in diesem Zusammenhang deshalb auch, daß es schon problematisch ist, sich im ländlichen Bereich als Polizist politisch zu engagieren (wenn es nicht gerade bei der CSU geschieht). So ist etwa die Betätigung in einer Bürgerinitiative, bei den GRÜNEN oder gar bei den ‚Kritischen Polizisten‘ (hier durchaus auch als Steigerung zu verstehen) rasch bekannt und wird durch Vorgesetzte und durch die Führungsdienststellen argwöhnisch beäugt. Hier geht dann die Fehlertoleranz des ‚Dienstherrn‘, die zugebilligt wird, schnell gegen Null.

Trotz allem läßt sich dennoch sagen, daß der Polizeialltag auf dem Lande – bei etwas Zivilcourage – immer noch eher die Möglichkeit bietet, Dienst für den Bürger, nicht für den Staat zu leisten.

Johann Wein ist Polizeihauptmeister und seit ca. 15 Jahren Beamter auf einer ländlichen Polizeiinspektion in Bayern; Mitglied der ‚Bundesarbeits-gemeinschaft Kritischer Polizistinnen und Polizisten‘ e. V.