Literatur zum Schwerpunkt
Seit Horst Herold als BKA-Präsident in den 70er Jahren der Polizei der alten BRD einen Modernisierungs- und Computerisierungsschub verordnete, waren die neuen, der Technik abgerungenen Möglichkeiten wegen der damit verknüpften bürgerrechtlichen Folgen Gegenstand politischer Debatten. Diese Auseinandersetzungen haben sich auch in vielfältiger Weise publizistisch niedergeschlagen, vor allem von Ende der 70er bis etwa Mitte der 80er Jahre. Neben einer Vielzahl von Beiträgen in Magazinen und Fachjournalen gab es eine Reihe von Buchveröffentlichungen, die auch heute noch lesenswert sind: Zum einen, weil sich die darin verwendeten Argumente noch keinesfalls in ihrer Gänze verbraucht oder überlebt hätten; zum anderen, weil sie im historischen Rückblick belegen, mit welcher Emphase noch vor einer Generation gegen einen durch die Technik ermöglichten (mutmaßlichen) präventivpolizeilichen Zugriff auf Personen und soziale Strukturen gestritten wurde. Heute wird dies von einer breiten bürgerlichen Mehrheit mehr oder weniger klaglos hingenommen, wenn nicht gar befürwortet. Der ‘verdatete Bürger’, der ‘gläserne Mensch’ – das waren damals gängige semantische Münzen der öffentlichen Diskussion. Hier seien nur einige bekanntere der vielen Publikationen beispielhaft in Erinnerung gerufen:
Bölsche, Jochen: Der Weg in den Überwachungsstaat, Reinbek 1979 (Rowohlt), 193 S.
Das Buch basiert auf einer SPIEGEL-Serie zum Thema und ist mit kritischen Stellungnahmen von prominenten Datenschützern und Politikern angereichert.
Gruppe, Torsten: Der gespeicherte Bürger. Auf dem Weg in den Computer-Staat, München 1979 (Wirtschaftsverlag Langen-Müller/Herbig), 237 S.
Der Autor verbindet die digitalisierten Fahndungsvisionen Herolds mit dem Verfall der Vorstellung von Privatsphäre und einer damals durchaus salonfähigen allgemeinen Technikskepsis.
Meyer-Larsen, Werner (Hg.): Der Orwell-Staat 1984. Vision und Wirklichkeit, Reinbek 1983 (Rowohlt), 189 S.
Die Artikelsammlung des SPIEGEL-Mitarbeiters enthält u.a. einen Beitrag zur Möglichkeit der Videofahndung, die damals unter der Bezeichnung ‘Aktion Paddy’ geprobt wurde.
Pötzl, Norbert F.: Total unter Kontrolle. Computerausweis, Volkszählung, Verkabelung, Reinbek 1985 (Rowohlt), 188 S.
Kutscha, Martin; Paech, Norman (Hg.): Totalerfassung. ‘Sicherheitsgesetze’, Volkszählung, Neuer Personalausweis, Möglichkeiten der Gegenwehr, Köln 1986 (Pahl-Rugenstein), 230 S.
Die Autoren beider Bände zeigten sich von der unmittelbar bevorstehenden Realisation des Überwachungsstaates überzeugt.
Eine Quelle, bei der man sich über die jüngere Entwicklung der Überwachungstechnologien kundig machen kann, ist die Polizei selbst, z.B. in Veröffentlichungen des Bundeskriminalamts:
Bundeskriminalamt (Hg.): Technik im Dienste der Straftatenbekämpfung (BKA-Vortragsreihe, Bd. 35), Wiesbaden 1990, 292 S.
Das Bundeskriminalamt hat im Laufe der Zeit immer wieder die Technik zum Thema ihrer Fachtagungen gemacht. Im November 1989 lautete das Motto „Technik im Dienste der Straftatenbekämpfung“. Der Tagungsband enthält eine Reihe interessanter Beiträge von polizeioffiziellen (Zachert) bzw. quasi regierungsamtlichen (Schäuble) Stellungnahmen zu gegenwärtiger Nützlichkeit und geplanter Verwendung avancierter Polizeitechnik bis zu kritischen Beiträgen mit datenschutz- bzw. bürgerrechtlicher Relevanz (z.B. von Roßnagel). Bemerkenswert ist auch der Artikel von Helmut Brandt, der sich mit dem durch die Technisierung ausgelösten „Kulturschock“ innerhalb der Polizeiränge beschäftigt und dem Mythos der „High-Tech“-Truppe die banalen, aber nachhaltigen Widrigkeiten des (Organisations-)Alltags gegenüberstellt.
Bundeskriminalamt (Hg.): Aktuelle Methoden der Kriminaltechnik und Kriminalistik (BKA-Forschungsreihe, Bd. 32), Wiesbaden 1995, 307 S.
Dieser Band stellt eine Fortsetzung der Bestandsaufnahme polizeilich verfügbarer Technik dar. Präsentiert werden sowohl die Plenumsbeiträge der BKA-Herbsttagung von 1994 als auch Kurzbeschreibungen kriminaltechnischer Vorzeigeprojekte wie technische Detektion von Rauschgiften, forensische Sprechererkennung, Mustererkennung durch ‘künstliche Intelligenz’ usw. Die Vorträge beschäftigen sich im großen und ganzen mit dem Umbruch in der Kriminaltechnik, die gleichsam ihre ‘manufakturielle Episode’ hinter sich läßt und in die ‘Phase der industriellen Automation’ eintritt. So wird auch in den Beiträgen von Schmitz und Hauptmann zumindest implizit die Frage aufgeworfen, wo bei aller Perfektionierung des kriminaltechnischen Sachbeweises am Ende die Intuition des Kommissars bleibt. Mit dem Beitrag von Nogala und Sack zu den „Folgerungen für die polizeiliche Arbeit aus der Technikausstattung“ ist auch diesmal wieder eine (kritikgeneigte) polizeiexterne Perspektive in dem Band vorhanden.
Gwodzek, Michael: Lexikon der Video-Überwachungstechnik, Heidelberg 1997 (Hüthig), 326 S., DM 98,–
Ein Beispiel dafür, wie ausdifferenziert inzwischen das – vor allem praxisbezogene – Wissen über bestimmte Kontrolltechnologien ist, stellt dieses stark technisch orientierte Lexikon zu Videoüberwachungsanlagen dar. Vom Verleger plaziert als „ein unentbehrliches Hilfsmittel bei Planung, Beratung und Installation entsprechender Systeme für alle Einsteiger, Fachleute und Anwender im Bereich der Sicherungstechnik“, erläutert der Autor im lexikalischen Teil vor allem Stichworte aus Optik, Elektronik und Datenverarbeitung und befriedigt damit in erster Linie (und auf hohem, aber noch verständlichen Niveau) den Wissensbedarf von IngenieurInnen und professionellen BastlerInnen. Nur ganz vereinzelt kommen Stichworte, wie ‘Bankensicherheit’, ‘Tankstellensicherheit’ oder ‘Videobewegungsmelder’ vor, die auch für Nicht-TechnikerInnen von Interesse sind, da sie Einblick in die Logik alltäglich werdender Kontrollstrategien und Sicherheitskonzepte bieten – wobei auch beim sorgfältigen Lesen die prinzipiellen präventiven wie technisch-organisatorischen Grenzen deutlich werden. Das Buch enthält eine Vielzahl von Bildern, Grafiken, Illustrationen und Tableaus, die veranschaulichen helfen, was sich hinter den Anglizismen und technischen Abkürzungen eigentlich verbirgt. Auch das kleine deutsch/englische Wörterbuch der Fachbegriffe ist ganz nützlich. Allerdings stößt man öfter auf eingestreute Werbeseiten, was dem seriös-soliden Eindruck, den die Aufmachung insgesamt macht, entgegenwirkt und auf das Zielpublikum des Verlages verweist, in dem auch die Fachzeitschrift „Wirtschaftsschutz & Sicherheitstechnik“ (W&S) erscheint. Zwar darf man von einem Lexikon der Videoüberwachungstechnik nicht allzuviel kritische Reflexion der Anwendungskonsequenzen des dargelegten technischen Know-hows erwarten. Aber der gelegentliche Hinweis auf Akzeptanzfragen und die Abhandlung ‘Rechtlicher Aspekte bei der Video-Überwachung’ auf faktisch einer Seite sind doch etwas zu spärlich – das Stichwort Datenschutz sucht man im lexikalischen Teil vergeblich. Insgesamt ist dieses Lexikon wohl nur für SpezialistInnen eine lohnende Lektüre.
Backslash; Hack-Tic; Jansen & Janssen; AutorInnenkollektiv Keine Panik (Hg.): Der kleine Abhörratgeber. Computernetze, Telefone, Kameras, Richtmikrofone (incl. Diskette), Berlin 1996 (Edition ID-Archiv), 143 S., DM 20,–
Ganz anders hingegen diese kleine, praxisorientierte Publikation mit subversivem Flair, die sich an die (potentiell) Überwachten richtet. Es ist die deutsche Übersetzung und Adaptation eines zuerst 1994 in den Niederlanden erschienenen, der Hackerkultur verpflichteten Bändchens, das sich an all jene wendet, „die sich das Recht herausnehmen wollen, unzensiert und unbeobachtet vom ‘Großen Bruder’ zu kommunizieren“. Das AutorInnenkollektiv will „statt Verschwörungstheorie und Technikfeindlichkeit“ zu bedienen, Wissen über verschiedene moderne Überwachungstechniken und Tips zum (individuellen) Schutz dagegen vermitteln. Behandelt werden in anschaulicher und verständlicher Art Funktionsweise und Abhöranfälligkeiten von Kommunikation in Räumen (‘Wanzen’), drahtgebundene und mobile Telefone und Funkempfänger sowie Computer und Datennetze. Darüber hinaus werden Verschlüsselungsverfahren für Sprache und Daten sowie Überwachungskameras behandelt. In einem interessanten Nachwort skizziert Otto Diederichs die staatliche Verwendung der verschiedenen Lauschoptionen. Den AutorInnen gelingt es, die komplexe Materie auch für LaiInnen nachvollziehbar zu erläutern, und sie vergessen auch nicht, auf die zwangsläufige ‘Halbwertszeit’ ihrer Ausführungen angesichts des rapiden technischen Fortschritts hinzuweisen. Obwohl dieser „Ratgeber“ eindeutig aus der und für die ‘Szene’ geschrieben ist, hält er sich nicht mit politischen Reflexionen über ‘das Abhören’ auf. Er ist in der Schwemme der Ratgeberliteratur vielleicht einer der aufgeklärtesten und daher zu empfehlen.
Tinnefeld, Marie-Theres; Philipps, Lothar; Weis, Kurt (Hg.): Die dunkle Seite des Chips. Herrschaft und Beherrschbarkeit neuer Technologien (Neue Techniken und Recht, Bd. 1), München, Wien 1993 (Oldenbourg), 180 S., DM 58,–
Akademischer, philosophisch tiefschürfender und (politisch) ‘ausgewogener’ sind die Beiträge, die in diesem, auf eine Veranstaltung der Thomas-Dehler-Stiftung im Oktober 1992 zurückgehenden Band versammelt sind. Im Vordergrund nahezu aller Aufsätze stehen Überlegungen, wie die neuen, durch Technik ermöglichten Handlungsoptionen sozial- und rechtsverträglich ‘beherrscht’ werden könnten. Zu den erwähnenswerten Beiträgen gehören unter anderem der knappe aber informative Einleitungstext von Philipps über die datenschutzrechtliche Wende in der deutschen Rechtsinformatik, ein gelehrter Essay von Weis, der der Frage nachgeht, ob „die Chips als Wegbereiter neuer sozialer Kontrolle“ aufzufassen sind, eine kriminologische Abhandlung von Kaiser über ‘durch Technik geschaffene’ neue Tatgelegenheiten und neue Tätertypen sowie ein Statement der damaligen Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger zum Thema ‘Abhören in Wohnungen’.
Leuthardt, Beat: Leben online. Von der Chipkarte bis zum Europol-Netz: Der Mensch unter ständigem Verdacht. Reinbek 1996 (Rowohlt), 223 S., DM 14,90
Weniger wissenschaftlich als journalistisch-kritisch behandelt der Schweizer Jurist und Publizist Beat Leuthardt die Thematik moderner Überwachungstechniken. Obwohl der Haupttitel zuerst an eine der zuhauf erscheinenden Anleitungen, wie man mit dem Computer ins Internet kommt, denken läßt, legt der Autor eine tour d’horizon der aktuellen Anwendungsfälle von Überwachungstechnologie im westlichen Europa vor. Er behandelt dabei in erster Linie die staatlichen Kontrollregimes, widmet sich aber auch den überwachungstechnisch aufgerüsteten ‘Privatmanagements’. Zur Sprache kommen die meisten Überwachungstechnologien, die jeweils in ihrem politisch-sozialen Kontext erläutert werden. Man gewinnt dadurch einerseits einen realitätsnahen Eindruck von der Vielfalt und Allgegenwärtigkeit dieser Systeme in unserem Alltag, erfährt andererseits auch eine Menge über die in dieser Entwicklung involvierten Interessen. Weil es im Reportagestil geschrieben und aufgemacht ist, ist dieses Büchlein eingängig lesbar, obwohl dadurch ein systematischerer Überblick etwas zu kurz kommt. In gewisser Weise setzt Leuthardt mit diesem durchaus informativen Buch die Tradition der eingangs skizzierten ‘Warn- und Alarmierungsliteratur’ der späten 70er Jahre fort. Allerdings mit dem Unterschied, daß nicht mehr so sehr auf das Bild des ‘Big Brother’ abgehoben wird, sondern – durchaus auf der Höhe der Diskussion – die Erkenntnis verarbeitet wird, daß sich die Überwachungsprozeduren längst ‘zwanglos’ in den Alltag eingepaßt haben. Abgesehen von dezidiert wissenschaftlichen Arbeiten stellt Leuthardts Buch gegenwärtig den informiertesten deutschsprachigen monographischen Überblick zum Stand und zur Anwendung von Überwachungstechnologien dar.
Die deutschsprachige Diskussion über Funktion, Optionen und politisch-soziale Folgen der staatlichen wie nicht-staatlichen Anwendung von modernen Überwachungstechnologien wurde bislang vor allem national geführt. ‘Importe’ von außerhalb blieben sehr selten. Dies stößt aber in Zeiten verschärfter Internationalisierung, gar Globalisierung sozialer und wirtschaftlicher Beziehungen an ihre Grenzen: Nicht nur, daß Überwachungstechnologien auch in anderen Ländern zur normalen Infrastruktur avancieren und die Sicherheitsindustrie seit langem schon international operiert – auch die Kontrollsysteme selbst gewinnen globusumspannende Dimensionen, wenn man nur an Satellitennutzung sowie Daten- und Bildübertragungen denkt. Insofern kann die Rezeption vor allem englischsprachiger Literatur von großem Nutzen für lokale oder nationale Diskussionszusammenhänge sein. Im folgenden werden dazu einige Empfehlungen gegeben.
Marx, Gary T.: Undercover. Police Surveillance in America. Berkeley etc., 1988 (University of California Press), 283 p., $ 15.95 (Paperback)
Gary Marx zählt in den USA zu den bekanntesten bürgerrechtlich orientierten Sozialwissenschaftlern, der sich im Laufe seiner Forschung über Polizei eingehend mit dem durch die Technik beförderten Phänomen – der von ihm so genannten – ‘New Surveillance’ beschäftigt hat. Dieses Buch befaßt sich in der Hauptsache empirisch mit polizeilichen Undercover-Praktiken in den USA. In seinem abschließenden Kapitel werden Bedeutung und Konsequenzen der neuen technischen Optionen für Polizeistrategien und für soziale Kontrolle im allgemeinen diskutiert. Der Autor erläutert die spezifischen Eigenschaften von Überwachungstechnologien und warnt vor dem Entstehen einer „maximum-security society“. G. Marx hat in einer Reihe weiterer Veröffentlichungen die in diesem Buch dargelegten Grundgedanken zum Charakter der Überwachungstechnik erläutert, vertieft und für bestimmte Bereiche konkretisiert. Aus meiner Sicht gehört dieses Buch nicht zuletzt unter bürgerrechtlichem Aspekt zu den (internationalen) Klassikern der Thematik.
Lyon, David: The Electronic Eye. The Rise of the Surveillance Society, Minneapolis, London 1994 (University of Minnesota Press), 270 p. $ 18.95 (Paperback)
Der Autor (Soziologieprofessor in Kanada) versucht vor allem die soziologischen Aspekte der ‘neuen technikgestützten Überwachung’ auf dem Hintergrund einer Theorie der Moderne herauszuarbeiten. Die Praxis der Überwachung wird von ihm im historischen Kontext verortet, wobei die neuen Technologien letztlich als Konsequenz einer entwickelten Moderne erscheinen. Nach einer (kritischen) Diskussion der Szenarien vom Großen Bruder (Orwell) und der Gesellschaft als Panopticon (Foucault) widmet sich Lyon einzelnen Entwicklungen in den gegenwärtig relevanten Überwachungsbereichen: Überwachungsstaat, Transparenz der Arbeit(erInnen), VerbraucherInnen im Visier. Im dritten Teil wird es theoretisch sehr interessant: Lyon relativiert die unausweichliche Bedrohlichkeit von Überwachung in der Gegenwartsgesellschaft und argumentiert vor allem gegen den paranoiden Affekt, mit dem Kontrolltechnologien oftmals analytisch abgehandelt worden sind. Aus seiner Sicht bilden sowohl Datenschutzgesetzgebung als auch soziale Bewegungen Gegengewichte zur Inszenierung einer total überwachten Gesellschaft. Lyon sieht und problematisiert zwar die Relevanz und die sozialen Konsequenzen von Überwachungspraktiken, er wendet sich aber unter Hinweis auf die ‘zwei Gesichter’ der Überwachung (man könnte auch von deren ‘Dialektik’ sprechen) gegen einseitig negative Analysen und Interpretationen. Mit der Ausrufung der Totalüberwachung wird nach seiner Auffassung nur Paranoia genährt und politische Opposition dagegen entmutigt.
Lyon, David; Zureik, Elia (eds.): Computers, Surveillance, and Privacy, Minneapolis, London 1996 (University of Minnesota Press), 285 p., $ 18.95 (Paperback)
Dieser Sammelband präsentiert die Beiträge zu einem ‘strategic research workshop’, der an der Queen’s University, Ontario, 1993 unter Beteiligung fast aller namhaften, auf diesem Gebiet ausgewiesenen ExpertInnen des nordamerikanischen Kontinents stattfand. Die insgesamt 12 Artikel thematisieren neben der Einleitung die Bereiche Arbeitsplatz, Markt, Kultur und Regelungsverfahren. Es geht dabei u.a. um genetische Tests am Arbeitsplatz (Regan), datentechnische Ausbeutung von VerbraucherInnendaten (Gandy) und um einen internationalen Vergleich von Datenschutzregelungen (Bennett). Die beiden herausragenden Beiträge kommen von Marc Poster und dem schon erwähnten Gary Marx. Poster entwickelt die interessante These, daß in postmodernen Gesellschaften sich die Identitätsbildung bzw. -zuschreibung von den direkten Interaktionen weg zur Zirkulation der gespeicherten Personendaten verlagert: wer jemand ist (bzw. als wer er/sie gilt), werde nun stärker vom Datenschatten als von der lebendigen Person bestimmt. Ein Lesevergnügen ist die Abhandlung von Marx über die Spiegelung zeitgenössischer Überwachungstechniken und -praktiken in verschiedenen Zweigen der Popkultur wie Musik, Karikaturen, Anzeigen u.ä.
Hoffman, Lance J. (ed.): Building in Big Brother. The Cryptographic Policy Debate, New York etc. 1995 (Springer), 560 p., $ 39.95 (Paperback)
Wer sich ein präzises Bild über Anfang, Verlauf und Diskussionsstand der (US-amerikanischen) Kryptographiedebatte machen will, kann mit dieser Zusammenstellung auf eine erstklassige Dokumentation zurückgreifen, die viele der zentralen Artikel und Texte zum Thema „Überwachung von Telekommunikation“ bündelt. Manche der Beiträge sind allerdings auch über das Internet verfügbar. Grundlagenliteratur für AbhörgegnerInnen und VerschlüsselungsenthusiastInnen!
Davies, Simon: Big Brother. Britain’s Web of Surveillance and the New Technological Order, London 1996 (Pan Books), 294 p., £ 5,99
Simon Davies ist ein inzwischen international bekannter Datenschutz-Aktivist und Gründer sowie Direktor von ‘Privacy International’, einer Organisation, die sich internationalen Bürgerrechtskampagnen in bezug auf Überwachungstechnologien widmet. Somit kann Davies für seine journalistische Abhandlung aus einer sprudelnden Informationsquelle schöpfen und die aktuellen Anwendungen avancierter Überwachungstechnologien Revue passieren lassen. Vorgestellt werden in lockerem Journalstil u.a. Videoüberwachung, biometrische Identifizierungsverfahren, Abhörsysteme und die Verbreitung von Chipkarten. So gut wie keine relevante Kontrolltechnik wird ausgelassen. Die Publikation ähnelt stark dem Buch von Leuthardt. Was der für den westeuropäischen Raum zustande gebracht hat, leistet Davies für den internationalen anglo-amerikanischen Horizont: eine aktuelle und kritische Bestandsaufnahme avancierter Kontrolltechniken.
Wright, Steve: An Appraisal of Technologies of Political Control. Working Document, Luxemburg 1998 (European Parliament, Scientific and Technological Options, Working Document PE 166499; http://jya.com/stoa-atpc.htm)
Das aktuellste und für den unmittelbaren ‘politischen Gebrauch’ geschriebene Übersichtsdokument zur Entwicklung diverser Überwachungstechnologien ist das schon in seinem Heftbeitrag skizzierte Papier für den STOA-Ausschuß des europäischen Parlaments. Das komplette Dokument kann auch im Internet abgerufen werden.
Norris, Clive; Moran, Jade; Amstrong, Gary (eds.): Surveillance, Closed Circuit Television and Social Control, London etc. 1998 (Aldershot), 304 p., £ 67,95
Der Band bilanziert die Erfolge und die Konsequenzen der Videoüberwachung des öffentlichen Raumes aus sozialwissenschaftlicher Perspektive.
Weitere umfangreiche Literaturhinweise zum Thema finden sich auch in den Arbeiten des Rezensenten, auf die abschließend hingewiesen wird:
Nogala, Detlef: Polizei, avancierte Technik und soziale Kontrolle. Funktion und Ideologie technikbesetzter Kontrollstrategien im Prozeß der Rationalisierung von Herrschaft. Pfaffenweiler 1989 (Centaurus Verlagsgesellschaft), 203 S.
Ders.: Social Control Technologies. Verwendungsgrammatiken, Systematisierung und Problemfelder technisierter sozialer Kontrollarrangements. Berlin 1998 (Dissertation, FU-Berlin), 519 S.
(sämtlich: Detlef Nogala)
Sonstige Neuerscheinungen
Hübner, Klaus: Einsatz. Erinnerungen des Berliner Polizeipräsidenten 1969-1987, Berlin 1997 (Jaron Verlag), 440 S., DM 44,–
Klaus Hübner hat seine Autobiographie vorgelegt. Autor und Buch versprechen spannende Lektüre. Berlin in den 70er und 80er Jahren, das waren Studentenbewegung und Demonstrationen, Terrorismus und Anti-Terrorismus, Hausbesetzungen und Friedensbewegung. Und Klaus Hübner war ein Polizeipräsident mit einer eigenen Handschrift, der sich nicht von jeder Politik vor den Karren spannen ließ, sondern ein eigenes Konzept von der Rolle der Polizei in der bundesrepublikanischen Gesellschaft verfocht. Tatsächlich liefert Hübner eine Berliner Polizeigeschichte aus der spezifischen Sicht eines führenden Insiders. Wer allerdings gehofft hat, mehr oder neues über die Berliner Polizei zu erfahren, wird enttäuscht. Auch wer auf die kritische Reflexion eines der bekanntesten Polizisten der Republik spekulierte, sucht auf den mehr als vierhundert Seiten vergeblich. Klaus Hübner bleibt sich in diesem Buch treu: Er stellt sich als einer jener typischen sozialdemokratischen Polizeireformer der 70er dar, die den Polizeimuff der Nachkriegsjahre beseitigten, eine modern organisierte und geführte Polizei schaffen wollten. Kooperativen Führungsstil eingeführt zu haben, rechnet sich Hübner deshalb ebenso als bleibendes Verdienst an, wie sein frühes Plädoyer für Strategien der Deeskalation gegenüber Protestaktionen oder der Patenschaft für die „Berliner Linie“ gegenüber den Hausbesetzungen. Insofern war Hübner weder politisch beliebig biegbar, noch ein „Hardliner“, was ihm schließlich den Job gekostet hat. Je länger man in den Hübnerschen Erinnerung liest, desto mehr verstärkt sich jedoch der Eindruck: Auch ein aufgeklärter Polizist bleibt Polizist. Die Verrechtlichung des polizeilichen Todesschusses wird gefordert (S. 258); mit Rücksicht auf die Empfindlichkeiten der BeamtInnen wird deren Kennzeichnung abgelehnt (S. 324); gegenüber Demonstrationen vertritt er die Devise „der Szene ihre Helden nehmen“ (S. 315); HausbesetzerInnen seien ähnlich organisiert gewesen wie organisierte Kriminalität (S. 345). Als Indizien für die eigenen Erfolge werden beliebige Daten herangezogen: etwa die rapide gesunkene Zahl unfriedlich verlaufender Demonstrationen (S. 96) oder gesteigerte Aufklärungsquoten durch die Polizeireform (S. 242). Obwohl Hübner seit zehn Jahren den Ruhestand genießt, läßt er jede Distanz zu seinem früheren Amt vermissen. Was damals richtig erschien, ist für ihn heute nicht weniger richtig. Daß die Modernisierung der Polizeien deren Eingriffsmöglichkeiten erhöhte, daß die moderne Polizei zum Feindbild-Lieferant für die Politik geworden ist, daß die organisatorische Zentralisierung jene „Bürgerferne“ beförderte, die gegenwärtig mühevoll abgebaut werden soll, das darf die Hübnersche Erfolgsbilanz nicht verdunkeln. Schade.
Velten, Petra: Transparenz staatlichen Handelns und Demokratie. Zur Zulässigkeit verdeckter Polizeitätigkeit, Pfaffenweiler 1996 (Centaurus-Verlagsgesellschaft), 215 S., DM 78,–
Bei der vorliegenden Veröffentlichung handelt es sich um eine staatsrechtliche Abhandlung, die nachzuweisen sucht, daß – so der Schlußsatz – „die Ermächtigungen zum Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel im Rahmen der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung (…) in ihrer jetzigen Ausprägung verfassungswidrig“ sind. Gegenstand der Untersuchung sind die demokratietheoretischen und verfassungsrechtlichen Anforderungen, die an staatliches Handeln zu stellen sind. Den Zentralbegriffen moderner Staatlichkeit gelten die analysierenden Kapitel des Buches: Öffentliche und nicht-öffentliche Staatsgewalt, demokratische Legitimation, Repräsentation, Minderheitenrechte. Verdeckte polizeiliche Handlungen werden in diesen Zusammenhängen als extremes Beispiel „demokratieexempter Tätigkeit“ betrachtet, die mit dem in Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes postulierten Demokratieprinzip in Konflikt stehe. Das eingangs zitierte Fazit begründet die Autorin insbesondere durch die fehlende Öffentlichkeit als Voraussetzung demokratischer Kontrolle (S. 92). Als Minimum fordert sie eine nachträgliche Informationspflicht über verdeckt erhobene Daten. Diese dürfe nicht durch die bekannten Klauseln durchlöchert werden. Im Strafverfahren ergebe sich hieraus die „Pflicht zu Aktenvollständigkeit“, d.h. es dürfe von keiner Information offenbleiben, woher sie stammt (S. 192f.).
Velten versucht, staatsrechtliche Pflöcke gegen die weitere Vergeheimdienstlichung der Polizeien zu setzen. Ob dieser Weg erfolgreich ist, darf bezweifelt werden. Ihrer juristischen Argumentation werden „herrschende Meinung“ und herrschende Staatspraxis nicht folgen. Ihre Behauptung, daß „geheime Polizeitätigkeit (…) nicht zu den Traditionen demokratischer Staaten“ gehört (S. 177), ist mehr Wunschdenken als Wirklichkeitsbeschreibung. Der von ihr geforderte lückenlose Quellennachweis ist zudem allenfalls geeignet, die bürgerrechtlichen Folgen verdeckter Polizeiarbeit zu mildern. Denn die Begrenzung gilt nur, sofern es zum Strafprozeß kommt. Das Demokratieprinzip erstreckt sich auch auf die polizeiliche Datenverarbeitung, der Grundrechtseingriff findet bereits durch den Verdeckten Ermittler in meiner Wohnung statt und nicht erst durch den späteren Prozeß, und die Sanktionen können andere als strafrechtliche Formen annehmen. Die Demokratieprobleme beginnen nicht erst bei der Verwertung verdeckt erhobener Daten, sondern bereits bei deren Erhebung.
(beide: Norbert Pütter)
Lange, Hans-Jürgen u.a.: Memorandum zur Entwicklung der Inneren Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland, Regensburg 1998 (Verlag S. Roderer), 71 S., DM 19,80
„Die in diesem Memorandum formulierten Gestaltungsempfehlungen“, so formulieren die kompetenten und renommierten Autoren dieses Memorandums gegen Ende (S. 55), „sind durchweg ohne Grundgesetzänderungen realisierbar. Im Kern geht es also darum, auf der Grundlage der bewährten bundesstaatlichen Strukturen eine inhaltlich anders ausgerichtete Politik der Inneren Sicherheit zu erreichen. Diese Politik legt ein bürgerrechtliches Verständnis zugrunde.“ In dieser eigenen Zusammenfassung ihrer Absichten und Prämissen bezeichnet die Memorandumsgruppe die Vorzüge und gleichfalls die Grenzen dessen, was sie zur „Inneren Sicherheit“ vorgelegt haben.
Zum ersten: Schon in der Vorbemerkung verheißen sie sympathisch eine „bürgerrechtliche Stellungnahme“, die „aus der wissenschaftlichen Arbeit“ hervorgegangen sei. Freilich: diese „bürgerrechtliche“ Qualität bzw. Grundlage wird an keiner Stelle präzisiert. Also bleibt es weithin bei einer wohlgefälligen Attitüde, einem Maßstab, der nicht ausgepackt wird, dessen Markierungen nur geahnt werden können. Nur ab und an sind die Markierungen klar und deutlich erkenntlich. Auch dort, wo sie dies sind, etwa dann, wenn grundrechtlich einschlägige Verfassungsgerichtsentscheidungen emphatisch hervorgehoben werden, wie beispielsweise das „Volkszählungsurteil“ oder das „Brokdorfurteil“, werden diese Bürgerrechte nur apostrophiert. Sie werden weder analytisch, noch durchsichtig in den Vorschlägen der Verfasser angewandt. So fehlt etwa im Zusammenhang der Kür des „informationellen Selbstbestimmungsrechts“ durch das Bundesverfassungsgericht jeder Hinweis auf die harten Grenzen dieses neuen Grundrechts. Es hapert auch an aller Erörterung der nach 1983 im Lichte des „informationellen Selbststimmungsrechts“ geradezu systematisch gegen dasselbe renovierten Gesetze, die die Institutionen der „Inneren Sicherheit“ betreffen. Angefangen vom Bundesverfassungsschutzgesetz, über das MAD-Gesetz bis hin zum BGS-Gesetz.
Zum zweiten: Wie das Eingangszitat ausweist, setzen die Autoren das gegebene Sicherheitssystem voraus. Demgemäß gebrauchen sie auch distanzlos den 1972 in die deutsche Sprache als Eigennamen eingeführten Begriff Innere Sicherheit bzw. des Systems Innerer Sicherheit. Vorausgesetzt wird die etatistische, wenn auch föderale Organisation der Polizei; vorausgesetzt werden das gesamte Geflecht der Institutionen und Prozeduren der sicherheitspolitisch zuständigen Organe: „die bewährten bundesstaatlichen Strukturen“. Demgemäß konzentriert sich das Memorandum auf eine „inhaltlich anders ausgerichtete Politik“, ohne auch nur einen Augenblick lang zu bedenken, was mit ihren meist zartfühlend neu formulierten „Inhalten“ geschieht, wenn die bestehenden Formen bleiben, wie sie sind. Seltsam, daß reformwillige Sozialwissenschaftler und kenntnisreiche Juristen so einäugig sein können. Hätten die Vorschläge eine Chance, die offizielle Politik zu beeinflussen, wäre das Beste, was allenfalls passieren könnte, ein anderer symbolic use of good intentions and purposes.
Zum dritten: Vielem von dem, was wertend und vorschlagend im Memorandum gesagt wird, ist zuzustimmen. Daß „die bisherige Entwicklung der Europäischen Inneren Sicherheit“ den „bürgerrechtlichen Aspekt nahezu vollständig“ ausgeblendet habe (S. 9); daß die „Flexbilisierung“ der sicherheitspolitischen Instanzen und Verfahren infolge des Amsterdamer Vertrags die bürgerliche Rechtssicherheit gefährde und dem demokratischen Verfassungsauftrag entgegenstehe; daß in europäische Polizeibehörden die Rahmenbedingungen – freilich nicht nur, wie die Autoren vorschlagen, die rechtlichen – zu berücksichtigen sind; daß die Leitungs- und Kontrollfunktionen „der politischen gegenüber den polizeilichen Gremien“ „hervorzuheben und zu stärken“ sind. Usw. usf. Nur, das, was die geschätzten Autoren vorbringen, um diese Absichten in Kritik und Vorschlag umzusetzen, ist, ich bitte um Verzeihung, reichlich dürftig. Diese Qualifizierung gilt für das europäische Lieblingskind des Memorandums, „das Modell eines ‘trisektoralen’ Förderalismus“ mit dem üblichen, nahezu konsequenzlosen Subsidiaritätsprinzip garniert ebenso, wie, um aus Platzgründen zu springen, mit der im V. Abschnitt vorgeschlagenen verbesserten „Kontrolle der Inneren Sicherheit“. Außer Vorschlägen, die das gegenwärtig systematisch überforderte Parlament zusätzlich überfordern, und einer schwächlichen, sozusagen extraterritorialen „Institutionalisierung von Polizeibeauftragten“ fällt den Reformern nichts ein. Verständlicherweise, denn sie setzen zu viele Prämissen, zu viel als so gegeben, so hinzunehmen, ja so gut voraus. Auch die reichlich summarische und trotz ihrer thesenhaften Bezifferung eher diskursiv konturlose Kritik der „Sicherheitsbehörden des Bundes“ (S. 21) wirkt wie mit eingezogenen kritischen und das heißt zugleich bürgerrechtlichen Krallen geschrieben. Dort, wo sich die Autoren kritisch und vorschlagshaft den etablierten Institutionen und Praktiken zuwenden, tun sie dies in einem um der Sache halber zuweilen schwer erträglichen betulichen Stil. Da „ließe“ sich der BGS, der nur halbstark kritisiert wird, so und so modifizieren; beim BKA „sollte“ „im Sinne klarer Aufgabenabgrenzungen“ eine Vermischung mit dem BGS „unterbleiben“. Beim Verfassungsschutz, den die Autoren trotz anfänglich richtig angesetzter Kritik nicht als abschaffungsbedürftig zu bezeichnen wagen, werden mit der Formel „es wäre denkbar“ halbgare Reformvorschläge aufgetischt. In Sachen „Sicherheitsbehörden der Länder“ (S. 29) wird jeder bürgerrechtlich angemessenen Kritik schon dadurch ein Riegel vorgeschoben, daß pauschal festgestellt wird: „Die Polizeihoheit der Länder ist gerade im Zuge des forcierten Prozesses der Europäisierung zu erhalten, weil die dezentrale Organisation in landespolitisch verantwortliche Polizeien am ehesten die Gewähr bietet, eine Exekutivgewalt mit bürgerrechtlichen Ansprüchen und demokratischen Kontrollverfahren zu vereinbaren.“
Die Memorandumsgruppe hat zu viel und zu wenig auf einmal gewollt. Zu viel, indem sie das gesamte europäisch erweiterte Spektrum innerer Sicherheit behanden wollte und so unvermeidlich viel zu oberflächlich, viel zu punktuell bleiben mußte. Ein, zwei, drei durchgespielte Beispiele wären mehr gewesen. Zu wenig haben die Autoren gewollt, weil sie ohne ihre eigenen Kriterien zureichend darzulegen und zuzuspitzen, mit ihrer bürgerrechtlichen Kritik und sacht erwogenen isolierten Vorschlägen das Muster des inneren Sicherheits-Spiels nur zart mit einem Reformsahnehäubchen versahen.
Schade. Daß Sozialwissenschaftler und Politikwissenschaftler endlich das staatliche Gewaltmonopol im Innern als ihr Thema entdecken und sich hierbei mit Juristen zusammentun, die über den Tellerrand ihres Fachs hinauszuschauen vermögen, hätte eine prächtige Chance eröffnet. Wenn diese Wissenschaftler die für jede Erkenntnis notwendige Distanz eingehalten, wenn diese Bürgerrechtler sich zu einem prägnanteren Verständnis der Bürgerrechte hätten durchringen, hätten trauen können.
Lindenberger, Thomas: Straßenpolitik. Zur Sozialgeschichte der öffentlichen Ordnung in Berlin 1900 bis 1914, Bonn 1995 (Verlag J.H.W. Dietz Nachfolger), 431 S., DM 62,–
Seitdem jüngst der Kölner Oberstadtdirektor „die Würde des Platzes“ polizeilich großzügig um den Kölner Dom herum hat sichern lassen, wird man die Aktualität von Thomas Lindenbergers alles in allem ausgezeichnete Dissertation kaum abstreiten können (vgl. dazu im einzelnen und mit Belegen: W.-D. Narr: Die Herrschaft der kommunalen Exekutive(n). Mit dem Mittel zweckentfremdeten Rechts und polizeilicher Gewalt gegen die mobilen Wagenburgen, in: Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.): Auf zur grundrechtlichen Verteidigung der Wagenburgen, Köln 1998, S. 29-41). Steht doch die Verteidigung der herrschenden Raumwürde gegen die Menschenwürde ungezogener Jugendlicher in einem dichten Zusammenhang mit gerade in den letzten Jahren zunehmenden städtischen Verordnungen und gefahrenabwehrenden Gesetzen. Letztere sollen nicht genehme Menschengruppen vor allem aus den Innenstädten hinaussäubern lassen. Gewiß: von einem „Steinzeitalter der Polizeitaktik“ kann man heute nicht mehr sprechen. Heute hat die Polizei längst „Dialogkommandos“ eingerichtet und vermag ihr Mittel der Gewalt ungleich differenzierter einzusetzen. Sie kennt selbst im Zweifelsfalle mehr als „blankziehen“ und “einhauen“ (S. 15). Und doch ist neben der nicht zu übersehenden Diskontinuität des Verhältnisses ‘Polizei und Öffentlichkeit’ heute und damals die Kontinuität überraschend stark.
Thomas Lindenberger, der vor allem daran interessiert ist, herauszufinden, inwieweit „die Straßenpolitik neben oder sogar an die Stelle von Aktionen in den überlieferten Politikarenen der Arbeiterbewegung“ getreten ist (S. 23), behandelt im 3. Kapitel vor allem die Straßen-Polizei und deren Versuch, Ordnung aufrechtzuerhalten, vielmehr herzustellen. Hierbei sind Straße und Straßenpolitik männlich dominiert. „Von der Beteiligung her gesehen, war Straßenpolitik also im wesentlichen ‘Männersache’, in der zwar immer wieder die Legitimität des staatlichen Gewaltmonopols und seiner bürokratisch-militärischen Ausübung, nie aber dessen Funktion für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Vormachtstellung der Männer in Frage gestellt wurde“ (S. 71). Erst allmählich entstand eine eigenartige Straßenpolizei, die einerseits militärisch organisiert war, im Verhältnis zum Publikum aber andererseits Ermessensspielräume ermöglichte (S. 77).
Im 4. Kapitel beschreibt Lindenberger den Kleinkrieg zwischen Publikum und Polizei, im 5. gibt er einen Überblick über die Nutzung der Straße durch Streiks und die allgemeinen polizeilichen Reaktionen. Noch im Zusammenhang der alltäglichen Querelen faßt Linderberger zusammen: „Die Unterschichten stellten nicht nur absolut gesehen ca. zwei Drittel der erfaßten Zivilpersonen, die in Straßenereignisse verwickelt waren, sie waren in den gewaltsamen Auseinandersetzungen vor allem mit Polizisten deutlich überrepräsentiert, an den gewaltlosen Interaktionen hingegen unterrepräsentiert. Das gewerbliche Kleinbürgertum wurde in überdurchschnittlichem Ausmaß Opfer gewalttätiger Menschenmengen“ (S. 119). Hierbei wäre es, Lindenbergers auch quantitativ soweit wie möglich erhärtetem Überblick gemäß falsch, nur einseitige Konfrontationen „Unterschichten“ – Polizei wahrzunehmen. Vielmehr wurde die Polizei je nach Situation und Handlungsrichtung von diversen Gruppierungen unterstützt. „Nicht daran, ob Ordnung wünschenswert und zu gewährleisten sei, entzündeten sich die Konflikte, sondern welche Ordnung und wie diese herzustellen sei“ (S. 133).
Das 6. Kapitel, das am anschaulichsten geraten ist, gilt den Moabiter Unruhen von 1910. Bürgerkriegsartige Auseinandersetzungen beherrschten die Szene. Die Gerichte spielten in all ihrer Ambivalenz eine gewisse eigenständige Rolle, die organisierte Arbeiterbewegung in Form der Sozialdemokratie agierte furchtsam im Sinne ihrer organisatorischen Logik. Sie orientierte und agierte vor allem wahlpolitisch. Bevor Thomas Lindenberger im 8. Kapitel eine Summe seiner Arbeit zieht und über „die Straße als Ort des Klassenhandelns“ räsoniert, gibt er im 7. Kapitel einen Überblick über die Straßendemonstrationen, der bei den nationalistisch kriegsbegeisterten Demonstrationen 1913 und 1914 endet. Dieses Ende seines historischen Überblicks belegt schon in der Frühgeschichte der Demonstrationen den inhaltlich allemal je nach Kontext ambivalenten Charakter dieser „urdemokratischen“ Form.
Thomas Lindenbergers geschichtswissenschaftliche Wiederentdeckung der Straßenpolitik ist unter mehrfacher Perspektive spannend zu lesen. Sein Fallbeispiel Berlin und in seinem Fallbeispiel das Exempel „Moabiter Unruhen“ reizen außerdem dazu, seine spezifische Studie in vergleichender Perspektive zu nutzen. Zusammenfassen ließe sich die materialreiche, ihre Informationen zuverlässig präsentierende und interpretierende Arbeit mit dem Schlagwort: Der Kampf um die Ordnung im Übergang zur Massengesellschaft, zum Massenstaat. Und in diesem Kampf spielt die Auseinandersetzung zwischen einer nötigenfalls rücksichtslos eingesetzten Polizei und einer organisiert-unorganisierten ‘Masse’ aus ihrerseits diversen Angehörigen der Unterschichten die entscheidende Rolle. In diesem letztlich einseitigen Kampf entscheidet sich nicht nur die soziale und politische Qualität der betreffenden Ordnung. Dieser Kampf zeigt auch, welche klassenpolitische oder soziale Definitionsmacht das Gewaltmonopol im Innern besaß und besitzt. Vor allem belegt der Kampf in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts, welche enorme Wirkung dasselbe auch noch zu Zeiten besitzt, da sich so viel quantitativ und qualitativ soziökonomisch und politisch verändert hat. Wirkungen in Richtung des institutionellen Musters der Polizei und ihres Orts in der Öffentlichkeit, ja – siehe das Demonstrationsrecht und seine Praxis bis heute – gegen die Öffentlichkeit; Wirkungen in Richtung der habituellen Prägung der Bürgerinnen und Bürger.
(beide: Wolf-Dieter Narr)
Diedrich, Thorsten; Ehlert, Hans; Wenzke, Rüdiger (Hg.): Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR, Berlin 1998 (Christoph Links Verlag), 720 S., DM 48,–
An seiner Gewaltfähigkeit und -bereitschaft entscheidet sich das Verhältnis eines Staates sowohl zu seinen Nachbarn wie zu den eigenen BürgerInnen. Die stets international zur Schau gestellte Bereitschaft der DDR-Führung zu einer Politik der Abrüstung und Entspannung hatte somit schon angesichts der Situation an ihren Grenzen immer einen schalen Beigeschmack. Sie ging zudem einher mit steten Bemühungen, die innere Überwachung und Repression zu vervollkommnen. Daß sich diese Aufgaben nicht allein auf die Staatssicherheit beschränken würden, ließ sich zumindest erahnen. Aussagekräftige Belege waren hingegen eher rar. Selbst während der Wende und nach der deutschen Vereinigung war es im wesentlichen die Stasi, auf die sich die Aufmerksamkeit konzentrierte. Die Polizei zog lediglich während der Demonstrationen im Herbst 1989 aufgrund ihres brutalen Vorgehens kurzfristige Blicke auf sich. Mit der Übertragung des westdeutschen Polizeisystems auf die neuen Bundesländer verschwand die Deutsche Volkspolizei so nachhaltig aus dem öffentlichen Bewußtsein, als habe es sie nie gegeben.
Das vorliegende Buch widmet dem Ministerium für Staatssicherheit lediglich rund 50 von 720 Seiten. Die übrigen gelten der Nationalen Volksarmee/NVA (S. 423-536), der Zivilverteidigung (S. 153-200, 282-338, 551-576) und in überwiegendem Maße dem Polizeisystem der DDR (S. 69-152, 201-280, 339-370, 537-550). Das ist gut so. Das Ausgangsmaterial für ihr Handbuch fanden die Autoren des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Potsdam hauptsächlich im Koblenzer Bundesarchiv; entstanden ist daraus ein voluminöses Werk mit einer Vielzahl bisher unbekannter Details zu Personalfragen, Einsatzprinzipien, Strukturen, Bewaffnung und Ausrüstung der DDR-Sicherheitsorgane. Möglich wird damit erstmals auch ein direkter Vergleich zwischen den beiden deutschen Nachkriegspolizeien – und der weist, bei aller Unterschiedlichkeit der (politischen) Systeme, eine Menge Parallelen auf. Gaben in der DDR der 50er Jahre aus Westdeutschland eingesickerte bewaffnete Banden die Bedrohungsmuster und Übungsszenarien der Bereitschaftspolizei ab, so waren es auf BRD-Seite kommunistisch infiltrierte Arbeiteraufstände. Häuserkämpfe hatten so auf beiden Seiten bei der Ausbildung ihren festen Platz. 1956 wurde die NVA aus der Kasernierten Volkspolizei rekrutiert, im Westen die Bundeswehr aus dem Bundesgrenzschutz; wird im Osten die Deutsche Grenzpolizei schrittweise Bestandteil der Grenztruppen, spiegelt sich das im Westen im Kombattantenstatus des Bundesgrenzschutzes im Kriegsfalle wider (bis 1994). Die Beispiele ließen sich fortsetzen, die verfeindeten beiden deutschen Systeme waren bei aller Unterschiedlichkeit an diesem Punkt so verschieden eben doch nicht. Damit keine Mißverständnisse aufkommen, mit Gleichsetzung hat ein solcher Vergleich nichts zu tun. Die polizeiliche und (paramilitärische) Durchdringung des Alltags in der DDR war ohne Zweifel erheblich umfassender und spielte bei der Sozialisation und Integration insbesondere der männlichen Bürger eine zentrale Rolle. Doch gerade an den Polizeien der beiden ungleichen Brüder zeigt sich, wie ähnlich die Regierungen im Umgang mit der Machtabsicherung im Innern dennoch waren.
„Im Dienste der Partei“ ist ein längst überfälliges Buch, das seinem Charakter als Handbuch auf allen Ebenen gerecht wird. Die notwendigen Rahmendaten liegen damit vor und warten auf ihre weitere Aufarbeitung und Interpretation. Vielleicht ließe sich diesem neuen Buch des Christoph-Links-Verlages über einen solchen Umweg dann eine breitere öffentliche Wahrnehmung bescheren, die ihm derzeit wohl wegen seiner spezialisierten Thematik und der wissenschaftlichen Darstellung versagt bleibt.
(Otto Diederichs)
Kube, Edwin; Schneider, Hans; Stock, Jürgen (Hg.): Vereint gegen Kriminalität. Wege der kommunalen Kriminalprävention in Deutschland, Lübeck, Berlin, Essen, Wiesbaden 1996 (Schmidt-Römhild), 331 S., DM 49,–
Präventionsräte auf kommunaler Ebene schießen seit einigen Jahren wie Pilze aus dem Boden. 150 derartiger Gremien hat das Bundeskriminalamt mittlerweile gezählt. Die Renaissance der Präventionsidee erklären die Herausgeber des Sammelbandes mit der sich zunehmend durchsetzenden Überzeugung, daß der Kriminalitätsentwicklung mit herkömmlichen, eher repressiv ausgerichteten Strategien nicht beizukommen sei (S. 7). Als „Wegweiser“ für Polizei, Ordnungsbehörden, soziale Dienste, KommunalpolitikerInnen, BürgerInnen und WissenschaftlerInnen will der vorliegende Band vor allem an konkreten Projekten zeigen, wie sich kommunale Kriminalprävention vor Ort umsetzen läßt. In vier Kapiteln zu (1) Grundfragen der kommunalen Prävention, (2) vier Projekten mit jeweils verschiedenen Ansätzen (Solingen, Baden-Württemberg, Gießen und Osnabrück), (3) Einzelstrategien der Prävention (Nutzung von EDV, Städteplanung, Integration von MigrantInnen) sowie (4) zur Privatisierung von Sicherheitsaufgaben beschreiben an den verschiedenen Projekten Beteiligte ihr Vorgehen und ihre Erfahrungen.
Hierin zeigt sich bereits das Dilemma, in dem viele Veröffentlichungen über kommunale Kriminalprävention in Deutschland stecken: Ausschließlich die AkteurInnen der Präventions-Projekte selbst bestimmen die öffentliche Diskussion. Auch die Herausgeber Schneider und Stock sind Gründungsmitglieder des Vereins Kriminalprävention Gießen e.V. Vom Präventions-Paradigma durchdrungen, ist es ihr Anliegen, die kommunalen Strategien eher zu fördern, als sie kritisch zu beleuchten. Probleme, seien es bislang fehlende Erfolge oder unerwünschte Nebenfolgen, werden überwiegend ausgeklammert. Eine Ausnahme bildet der Aufsatz von Becker/Boers/Kurz: Die AutorInnen sehen durch Präventionsräte die Gefahr des „Netwidening“ mit der Folge verstärkter sozialer Kontrolle und polizeilicher Überwachung (S. 101). Probleme sieht auch Koetzsche (Kommunale Kriminalprävention im Ausland) bei der Forderung nach einer möglichst breiten Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen. Erfahrungen aus dem Ausland zeigten, daß aufgrund von Sachzwängen ethnische und geschlechtsspezifische Probleme meist nicht berücksichtigt und auch die Betroffenen nicht beteiligt würden (S. 52f.).
Um sich zu einzelnen Projekten, ihren Strategien und Maßnahmen umfassend zu informieren, ist der Sammelband nur bedingt geeignet. Die Beiträge bleiben zumeist auf der programmatischen Ebene, wollen für ihr Projekt oder die Präventionsidee auf kommunaler Ebene als solche werben und kommen eher wie eine PR-Schrift daher. Leider zeigt sich dies nicht im Layout. Überfüllte Seiten und willkürlich gesetzte Absätze verleiden das Lesen.
(Martina Kant)