von Fabien Jobard
Ein französischer Polizist hat einen marokkanisch-stämmigen Niederländer während des Polizeigewahrsams gefoltert, so erklärte die Europäische Menschenrechtskommission in einem seltenen und daher besonders bedeutenden Urteil Ende vergangenen Jahres.[1]
Vom Anti-Folter-Ausschuß des Europarats wurde die französische Polizei wiederholt der Körperverletzung und erniedrigenden Behandlung von Festgenommenen beschuldigt.[2]
Polizeigewalt und insbesondere Schußwaffengebrauch sind in Frankreich Gegenstand ständiger Konflikte und Polemiken. Der Autor hatte Zugang zu vertraulichen Akten der Police Nationale, die zwar keine abschließende Analyse der politischen und sozialen Hintergründe ermöglichen, wohl aber exaktere Daten über den Schußwaffeneinsatz und seine Folgen liefern.
Ähnlich wie in Italien, Spanien oder Belgien ist auch die französische Polizeilandschaft zweigeteilt: In den Städten über 10.000 Einwohnern sorgt die zum Innenministerium gehörende Police Nationale für die „innere Sicherheit“. Die dem Verteidigungsministerium organisatorisch unterstellte Gendarmerie ist nur für den ländlichen Raum zuständig. Die hier vorgestellten Daten beziehen sich ausschließlich auf die Police Nationale, der insgesamt ca. 120.000 Beamten angehören. Davon arbeiten 18.000 in Paris und den drei ebenfalls der Pariser Polizeipräfektur unterstellten umliegenden Departements.
Die rechtlichen Grundlagen für den polizeilichen Schußwaffeneinsatz in Frankreichbestimmen, daß Polizisten (und Gendarmen) grundsätzlich nur in Fällen der Notwehr und Nothilfe auf Personen schießen dürfen. Zur Drohung abgegebene Schüsse, Schüsse auf Flüchtende oder zur Wiederergreifung einer Person sind unzulässig. Eine gesetzliche Regelung über den „finalen Rettungsschuß“ wie im deutschen Polizeirecht gibt es in Frankreich nicht. Bei Geiselnahmen oder ähnlichen Fällen kann es zwar dazu kommen, daß die Sondereinheit R.A.I.D. auf Anordnung schießt und dabei mit ziemlicher Sicherheit die betreffende Person tötet. Derartige Einsätze werden aber als Nothilfe gerechtfertigt und sind selten. Die meisten Schüsse werden im alltäglichen Einsatz abgegeben.
Die veränderte Rolle der Polizei
Die Rolle der Polizei bei der Regulierung alltäglicher Konflikte ist in den vergangenen Jahren aus mehreren Gründen problematischer geworden: Zum einen bekommt die Polizei es mit den Folgen der gaullistischen Stadtplanung aus den 60er und 70er Jahren zu tun. Deren Resultat war die Konzentration der verarmten Familien von eingewanderten Arbeitern in den Wohnsilos der Vororte, wo Konflikte und Gewalt durch die räumliche Dichte und die Wirtschaftskrise noch verstärkt wurden. Die Kriminalpolizei, aber vor allem die uniformierte Polizei sieht sich häufig mit bedeutenden ‘Ordnungsstörungen’ – von kollektiven Sachbeschädigungen über gewaltsame Konflikte zwischen Personen bis hin zur Gewalt gegen Repräsentanten des Staates – konfrontiert. Sie prägen das alltägliche Leben der „banlieues“. [3]
Einen zweiten Aspekt bildet die „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“. Demonstrationen sind ein zentrales Mittel der politischen Beteiligung in Frankreich. Die in Paris zentralisierte politische Macht reagiert jedoch äußerst sensibel auf jede Form der gewaltsamen Infragestellung, so unbedeutend die dabei angewendete Gewalt auch sein mag. Für die Polizei resultiert daraus die Verpflichtung zu zahlreichen und kostspieligen Einsätzen, bei denen der kleinste Fehler unvorhersehbare politische Konsequenzen nach sich ziehen kann. [4]
Zu diesen beiden Faktoren kommt die Problematik des Rassismus hinzu. Sowohl in der Gesellschaft als ganzer, als auch in der Polizei taucht das Phänomen Rassismus nicht erst in den letzten Jahren auf. Im Laufe des Prozesses gegen den früheren Pariser Polizeipräfekten Maurice Papon bestätigten sich die seit langem vorhandenen Berichte, daß die Pariser Polizei am 17. Oktober 1961 mehr als 150 Algerier tötete. Dieses Massaker ist bisher nicht Gegenstand gerichtlicher Untersuchungen gewesen. Der Algerien-Krieg von 1954-62 hat den Rassismus in der Tat massiv befördert. [5] In der aktuellen Diskussion um Einwanderung und die Situation in den Vorstädten erhält die Problematik des Rassismus ein neues Gewicht.
Ballungsraum Paris und Provinzstädte
Zwar wird bei der französischen Polizei bei jedem einzelnen Schußwaffeneinsatz eine Akte angelegt, diese ist allerdings vertraulich. Statistiken und Presseerklärungen, wie sie die Innenministerkonferenz in Deutschland jährlich vorlegt, gibt es in Frankreich nicht. Die im folgenden präsentierten Daten entstammen internen Dokumenten der Police Nationale, um deren Einsicht der Autor zweieinhalb Jahre gekämpft hat. Im Gegenzug mußte er ein Papier unterschreiben, das ihn verpfichtet, die Dokumente nicht weiterzugeben und auch nicht zu zitieren. Diese Art der Geheimhaltung ist typisch für den Umgang der Polizeibehörden mit Wissenschaftlern und der Öffentlichkeit im allgemeinen. [6]
Die Daten beziehen sich auf Schußwaffeneinsätze der Police Nationale außerhalb der Pariser Präfektur von 1990 bis 30.9.1996 sowie in der Region Paris in der Zeit von 1989 bis 31.3.1994. Außerhalb der Region Paris schossen Polizeibeamte durchschnittlich dreimal pro Monat. Das ergibt einen Jahresdurchschnitt von 0,25 Schüssen pro 1.000 Beamte.
Im Gebiet der Pariser Polizeipräfektur gaben Polizeibeamte im Untersuchungszeitraum durchschnittlich 3,65 Schüsse pro Monat ab. Berechnet auf 1.000 Beamte ergibt dies einen Jahresdurchschnitt von 0,6 Schüssen. Die Häufigkeit des polizeilichen Schußwaffeneinsatzes liegt damit in Paris und Umgebung mehr als doppelt so hoch wie in der Provinz.
Auch die Folgen sind gravierender: In der Provinz waren 1990-96 2% der polizeilichen Schüsse tödlich und 5% führten zu Verletzungen von Personen (insgesamt 48 Tote und 121 Verletzte). In der Region Paris dagegen ergaben sich 1989 bis 1994 Quoten von 4,35% Toten und 50% Verletzten (insgesamt 10 Tote und 128 Verletzte).
Bevölkerungsgröße und Zahl der Polizeibeamten in Rechnung gestellt zeitigen Schüsse aus Polizeiwaffen in den USA 15-20mal häufiger tödliche Folgen als in Frankreich. Vergleicht man die hier für Frankreich präsentierten Daten mit denen, die die IMK für Deutschland veröffentlicht, so zeigt sich zunächst ein vergleichbares Niveau beider Länder in bezug auf die Häufigkeit des Schußwaffeneinsatzes. Die Todesrate von 0,5% in Deutschland liegt allerdings viermal niedriger als in der französischen Provinz. Der Unterschied zwischen den französischen Provinzstädten und dem Ballungsraum Paris – mit einer doppelt so hohen Häufigkeit des Schußwaffeneinsatzes, einer doppelt so hohen Mortalität und einer zehnfach größeren Gefahr der Verletzung – wird dadurch nur um so deutlicher.
Da die Daten aus derselben Verwaltung stammen, kann diese Differenz nicht auf einen unterschiedlichen Erfassungsmodus zurückgeführt werden. Die größere Bevölkerungsdichte der Region Paris und die damit verbundene höhere registrierte Kriminalität ist ohne Zweifel ein wichtiger Faktor der Erklärung, der allerdings vor dem Hintergrund sozialer, ethnischer und räumlicher Bedingungen gesehen werden muß.
Straftäter als Opfer – Kriminalität als Legitimation?
Die überwiegende Mehrzahl der Schüsse wird in Situationen abgegeben, bei denen die Polizei eine Straftat aufdeckt oder verhindern soll. Geschossen wird auf Personen, die an einer solchen Situation beteiligt sind. Aus polizeilicher Sicht ist es daher in der Tat die Kriminalität, die den Schußwaffengebrauch durch Polizeibeamte erklärt. Allerdings produziert die Polizei sowohl die Daten über Straftaten und -täter, als auch die über den polizeilichen Schußwaffengebrauch. Es stellt sich daher die Frage: Schießen Polizeibeamte auf Straftäter, weil sie von ihnen bedroht wurden oder sich bedroht fühlten –oder greifen sie im Gegenteil im Vorhinein zur Waffe, wenn sie es mit einer bestimmten Gruppe von Straftätern zu tun haben?
In der Mehrzahl aller Fälle polizeilichen Schusswaffengebrauchs sind es uniformierte Polizisten, die schießen. Drei Viertel der in den untersuchten Dokumenten der Pariser Präfektur festgehaltenen Schußwaffeneinsätze ereigneten sich in der Nacht, am Wochenende und im öffentlichen Raum. Sie richteten sich gegen Männer im Alter von 30-40 Jahren. Dies allein sagt aber noch nichts über die Legitimität der eingesetzten Gewalt aus. Die Dokumente der Polizeipräfektur zeigen jedoch ebenfalls,
- daß 18% der Polizisten ihre Waffen außerhalb der Dienstzeit benutzt haben; das heißt noch nicht, daß der Gebrauch der Waffe nicht legitim war, bedarf jedoch einer Erklärung;
- daß außerdem 5% der Schußwaffeneinsätze innerhalb von Polizeiwachen stattfindet; auch dies ist nicht in jedem Fall ein Beleg für nachlässige Sicherheitsvorkehrungen oder für bewußten Einsatz von Gewalt;
- schließlich, daß Polizistinnen im Verhältnis zu ihrem Anteil am Polizeipersonal erheblich seltener zur Waffe greifen, als ihre männlichen Kollegen.
Nach Angaben der betreffenden Polizisten waren 71% der Opfer im Augenblick des Schußwaffeneinsatzes bewaffnet. Jedoch nur in einem Drittel der Fälle war diese Waffe eine Schußwaffe. Damit eine gewaltsame Handlung aber als Notwehr gewertet werden kann, muß sie der Gefahr angemessen sein. Die Präfektur wertete 80% aller polizeilichen Schüsse als gerechtfertigt. Die polizeieigenen Daten belegen jedoch auch, daß 10% der Schüsse zur Warnung oder Einschüchterung abgegeben wurden und weitere 5% „Unfälle“ waren. Mindenstens diese 15% waren damit juristisch gesehen ungerechtfertigt. Dieser Anteil erhöht sich, wenn man die Fälle von unangemessenen Reaktionen hinzurechnet, bei denen Angriffe mit einem Messer durch den Einsatz der Schußwaffe abgewehrt werden sollten.
Justitielle und polizeiliche Dokumente sind mit Vorsicht zu genießen, vor allem wenn die Akteure der Behörden selbst Gegenstand von Ermittlungen sind. Dennoch erscheinen die hier ausgewerteten Quellen relativ zuverlässig. Zum einen wurden die Dokumente für den internen Gebrauch und nicht für die Rechtfertigung nach außen erstellt. Zum andern halten sie auch einem Vergleich mit Pressemeldungen stand, denn nur ein Bruchteil der in den polizeilichen Dokumenten aufgeführten Fälle fand Eingang in die überregionalen Zeitungen.
Verletzte und Tote aufgrund polizeilicher Schüsse in Paris 1989-93
Jahr | Nationale Presse | Polizeidokumente |
1989 | 1 | 34 |
1990 | 4 | 24 |
1991 | 2 | 27 |
1992 | 1 | 31 |
1993 | 2 | 26 |
Die ethnische Seite der polizeilichen Gewalt
Obwohl Presseberichte nur eine reduzierte Zahl von Fällen aufgreifen, geben sie dennoch Hinweise auf die ethnische Zugehörigkeit der Opfer polizeilicher Todesschüsse. Diese Information ist in Polizeiberichten nur dann enthalten, wenn das Opfer keinen französischen Paß hatte. Denn im Unterschied zu Deutschland besitzen Personen, die in Frankreich geboren wurden, grundsätzlich die französische Staatsangehörigkeit. Eingebürgerte Immigranten und deren in Frankreich geborene Kinder fallen daher in Polizeiberichten nicht auf. In Presseartikeln kann dagegen sehr wohl vermerkt sein, daß das Opfer beispielsweise maghrebinischer Herkunft ist. Der Hinweis auf die Staatsangehörigkeit fehlt hier dagegen häufig.
Eine Analyse der überregionalen Presse von 1986-1993 ergibt, daß Immigranten und Immigrantensöhne (keine Töchter!) überproportional unter den Opfern der gemeldeten polizeilichen Todesschüsse vertreten sind. In 30 Fällen – das ist ein Drittel aller Todesschüsse (Paris und Provinz) – enthalten die Presseberichte Hinweise auf ausländische Abstammung oder Nationalität. Die größte Gruppe bilden mit elf Fällen die Personen arabischer Herkunft. Dieser hohe Anteil von Immigranten unter den Todesschuß-Opfern entspricht weder ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung, noch an der Zahl der wegen Gewaltdelikten verurteilten Personen. [7] Zwar ergeben die Pressemeldungen nur eine dünne statistische Basis. Die Tatsache jedoch, daß die gemeldeten Fälle meist besonders bedeutsame oder dramatische sind, verstärkt den Eindruck, daß polizeiliche Gewalt und ethnische Diskriminierung zusammen gesehen werden müssen.
Quantitative Auswertungen über den Schußwaffengebrauch der Polizei und besonders seine tödlichen Folgen haben nur eine begrenzte Aussagekraft, zum einen weil es sich bei den in Frage stehenden Vorgängen und ihrer Bewertung nicht um feststehende statistische Größen handelt, zum andern weil – glücklicherweise – die Zahl der Todesschüsse verhältnismäßig gering ist. Für genauere qualitative Aussagen braucht es nicht nur mehr Forschung, sondern vor allem ein Ende der Geheimhaltung.