Rot-grüne Politik „Innerer Sicherheit“ – Fortsetzung der alten Politik mit anderen Personen

von Martina Kant und Norbert Pütter

Sechzehn Jahre christlich-liberale Koalition liegen hinter uns. Sechzehn Jahre, in denen das Strafrecht permanent verschärft, die Kompetenzen der Sicherheitsapparate ausgebaut und BürgerInnenrechte empfindlich beschnitten wurden. Nahtlos konnte die Regierung Kohl in Fragen der Inneren Sicherheit an das Helmut Schmidtsche „Modell Deutschland“ anknüpfen; neu waren damals lediglich die Bedrohungsszenarien („Organisierte Kriminalität“ statt Terrorismus) sowie Ausmaß und Geschwindigkeit, in denen der Polizei und den Geheimdiensten zu „ihrem“ Recht verholfen wurde. Die neue Regierungsmehrheit im Bundestag ist mit diesem in Jahrzehnten des rechts- und polizeipolitischen Rückschritts errichteten „System Innerer Sicherheit“ konfrontiert. Was wird sie tun?

Daß die Politik „Innerer Sicherheit“ von einer rot-grünen Regierung neu erfunden werden würde, daß es in diesen Fragen zu einem radikalen Wandel kommen würde, das konnte angesichts der Programmatik der neuen Partner nicht erwartet werden. Zu sehr hatte die SPD in den letzten Jahren versucht, die Union als Law and order-Partei in den Schatten zu stellen – von der geforderten Beweislastumkehr bis zur Zustimmung zum Großen Lauschangriff. Und trotz durchaus bürgerrechts-freundlicherer Absichten hatten sich Bündnis 90/Die Grünen in der jüngeren Vergangenheit den realpolitischen Zwängen derart gebeugt, daß allenfalls gradueller Wechsel erwartet werden durfte.

Die neue Regierung ist erst kurz im Amt. An ihren Taten kann sie noch nicht gemessen werden. Was gegenwärtig im Bereich der Inneren Sicherheit vorliegt, sind insbesondere die Koalitionsvereinbarung [1] und die Regierungserklärung [2]. Beide sind notwendigerweise eher allgemein gehalten; Grundlinien sind ersichtlich, aber nicht die Details zukünftiger Politik. Ihrer Natur nach müssen diese Übereinkünfte und Ankündigungen konkretisiert werden. In welche Richtung das geschehen wird, lassen die schriftlichen Dokumente vielfach offen; insofern bestehen hier große politische Spielräume. Allerdings haben einige führende Regierungsmitglieder in öffentlichen Äußerungen bereits deutlich den Weg markiert, den sie zu beschreiten gedenken.
Die vorläufige Einschätzung der neuen Regierung muß beides berücksichtigen. Wer nur „alles besser“ machen wollte, muß zunächst daran gemessen werden, ob ihm dies angesichts seiner Pläne und Absichtserklärungen gelingen kann. Betrachtet man unter dieser doppelt eingeschränkten Perspektive den Koalitionsvertrag, der die Arbeit der Regierung für die nächsten vier Jahre strukturieren soll, dann lassen sich drei Ausrichtungen der zukünftigen „Inneren Sicherheitspolitik“ ausmachen: die Prävention, also die Verhütung von Kriminalität und ihrer Ursachen; der Schutz von Kriminalitätsopfern und schließlich die Kriminalitätsbekämpfung.

Prävention

Die rot-grüne Politik Innerer Sicherheit verspricht, „Sicherheit für alle (zu) gewährleisten“, indem sie „entschlossen gegen Kriminalität und entschlossen gegen ihre Ursachen“ vorgehen will. Da das Strafrecht die „Ursachen von Kriminalität nicht beseitigen“ könne, seien „eine gute Beschäftigungs- und Sozialpolitik wie auch eine an humanen Werten orientierte Gesellschaftspolitik unabdingbar“. Gleichzeitig setzt die Regierung auch auf „Ursachenbekämpfung mit kriminalpräventiven Instrumenten“. Ein „Deutsches Forum für Kriminalprävention“ soll ins Leben gerufen werden, um deren Entwicklung voranzutreiben. In welche Richtung die Koalitionäre hier denken, zeigt der anschließende Verweis auf die Sicherheits- und Ordnungspartnerschaften zwischen „Bund, Ländern und Gemeinden“ sowie die kriminalpräventiven Räte, die „nachhaltig“ unterstützt werden sollen. Wie wenig hier an ursachenbezogenes Engagement gedacht wird, macht das Beispiel deutlich, das Bundeskanzler Schröder in seiner Regierungserklärung wählte: Erwerbslose, die als zusätzliches Sicherheitspersonal im öffentlichen Personennahverkehr patrouillieren. Mit der Erwähnung des „Bundes“ wird nebenbei auch das Kanthersche „Sicherheitsnetz“ abgesegnet. [3]
In drei Problemfeldern verspricht der Koalitionsvertrag mehr Prävention. Das erste betrifft „Gewalt gegen Frauen“. Die Regierung kündigt an, einen „Nationalen Aktionsplan“ aufzulegen, dessen Ziel es sein soll, „Gewalt gegen Frauen vorzubeugen und von Gewalt betroffenen Frauen größtmöglichen Schutz und Hilfe zu gewähren“. Es folgen Bemerkungen zum verbesserten Opferschutz, die mit der Forderung enden, die Täter konsequent zu bestrafen. Worin jenseits der Strafandrohung für die Männer die Vorbeugung bestehen kann, wird noch nicht einmal angedeutet. Das zu bestimmen, bleibt offenkundig ganz dem „Aktionsplan“ vorbehalten, von dem weder gesagt wird, wer ihn erarbeiten soll, noch wann er „aufgelegt“ werden wird.
Der zweite Komplex, in dem Prävention direkt angesprochen wird, ist die „Drogenbekämpfung“. Die Regierung verspricht eine „vernünftige, wirksame und menschliche Drogen- und Suchtbekämpfungspolitik“. Sie umfasse „die Elemente Aufklärung, Prävention und Hilfe für Drogenabhängige sowie Strafverfolgung des kriminellen Drogenhandels“. Die Hilfsangebote für Süchtige (Gesundheitsräume als Modellversuche und Substitutionsprogramme) werden zutreffend als medizinisch gebotene Maßnahmen beschrieben. Als erwünschte Nebenwirkung wird auf die voraussichtlich sinkende Beschaffungskriminalität verwiesen. Hinweise auf eine eigenständige Drogen- und Suchtprävention sucht man in Koalitionsvereinbarung und Regierungserklärung vergeblich.
Noch vager bleiben schließlich die präventiven Versprechen bei der „Bekämpfung des Rechtsextremismus“. Der gegenwärtig „größten Gefahr“ (Minister Schily) [4] will die Regierung durch ein „Bündnis für Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt“ begegnen. Das Bündnis soll der „Umsetzung der Werte und Garantien unseres sozialen und demokratischen Rechtsstaates“ dienen. Wie dies bewerkstelligt werden soll, bleibt offen. Der Wortlaut läßt allerdings unweigerlich an eine Mischung aus Seminaren zur politischen Bildung und der bekannten „Fairständnis“-Kampagne der Innenministerkonferenz denken.
Die kriminalpräventiven Akzente der neuen Regierung verlassen in der Regel nicht die Ebene trivialer Einsichten und unverbindlicher Bekenntnisse. An den wenigen konkreten Stellen erscheint die Verhütung von Kriminalität als erfreuliches Randprodukt, oder sie wird derart umdefiniert, daß jede Form öffentlicher Kontrolle als „Prävention“ verkauft werden kann.

Opferschutz

Ein weiteres Element der Politik, die „Sicherheit für alle“ verspricht, ist der verbesserte Opferschutz. Weil „Rechtsstaat“ auch „Schutz der Schwachen durch Recht“ bedeute, will sich die neue Regierung „besonders der Opfer“ annehmen. Sie kündigt an, die Rechtsstellung und den Schutz von Opfern verbessern“, „den Täter/Opfer-Ausgleich stärken und die Entschädigung verbessern“ zu wollen. Darüber hinaus beabsichtigt sie „Gewalt als Erziehungsmittel (§&#nbsp;1631 Abs. 2 BGB)“, „häusliche Gewalt“ und „Gewalt gegen Ältere, Behinderte und Minderheiten“ zu „ächten und (zu) bekämpfen“. Elemente eines verbesserten Opferschutzes werden auch im Kapitel über die Frauenpolitik benannt. Frauenhäuser und Zufluchtswohnungen für von Männergewalt betroffene Frauen werden gewürdigt. Damit diese nicht weiter als Langzeitunterkünfte genutzt werden müßten, soll eine „vereinfachte Wohnungszuweisung“ ermöglicht werden. Die „Entwicklung von Strategien zum Schutz der Opfer“ wird zudem als „eine unabdingbare Voraussetzung für eine wirksame Bekämpfung des Frauenhandels“ angekündigt. Dazu gehörten „Zeugen- und Zeuginnenschutzprogramme“ sowie „gegebenenfalls die Aussetzung der Abschiebung mindestens bis zum Abschluß des Gerichtsverfahrens“. Schließlich soll die „rechtliche und soziale Situation von Prostituierten verbessert“ werden.
Nur an wenigen Stellen der Koalitionsvereinbarung erscheint der Opferschutz als ein eigenständiges Ziel der neuen Regierungspolitik. Insgesamt jedoch lassen die Zusammenhänge, in denen vom Schutz der Opfer gesprochen wird, ein Konzept erahnen, das vom herkömmlichen kaum abweicht. Drei Beispiele:

  • Daß Wiedergutmachung gefördert werden soll, schließt sich an jenen Satz an, der ankündigt, „konsequent, aber bürokratiearm“ bestrafen zu wollen. Zuerst kommt der staatliche Strafanspruch, dann die Wiedergutmachung – so war es eigentlich schon immer.
  • Das Aufenthaltsrecht für Opfer des Menschenhandels soll („gegebenenfalls“!) so lange währen, bis der Händler verurteilt ist. Nicht das Opfer soll geschützt, sondern die Bestrafung des Täters soll erreicht werden. Die Ausweisung des Opfers im Anschluß an einen erfolgreichen Strafprozeß spricht nicht für den Vorrang des Opferschutzes.
  • Es wird nicht ausgeführt, aber wie anders als durch neue Strafandrohungen will die Regierung Gewalt gegen Randgruppen und Minderheiten „ächten und bekämpfen“? Es ist offenkundig, daß hier erneut mit den Drohungen des Strafrechts geliebäugelt wird.

Insgesamt erscheint der Opferschutz in den Vorhaben der neuen Regierung nach wie vor als Juniorpartner des staatlichen Strafanspruchs. Wo er sich mit diesem kombinieren läßt, soll er gefördert werden. Daß das Strafen hinter den Interessen der Opfer zurücktreten könnte, wird für das elterliche Züchtigungsrecht klar benannt; für die Staatsgewalt bleiben die Strafoptionen jedoch im pauschalen Bekenntnis zum Täter/Opfer-Ausgleich jederzeit präsent.

Kriminalitätsbekämpfung

Die Leitlinie „entschlossen gegen Kriminalität und entschlossen gegen ihre Ursachen“ suggeriert, (primär-)präventive und repressive Elemente zur Bekämpfung von Kriminalität hätten in der rot-grünen Politik den gleichen Stellenwert. Der Koalitionsvertrag und vor allem Äußerungen aus Justiz- und Innenministerium deuten jedoch darauf hin, daß Rot-Grün Kriminalitätsbekämpfung im herkömmlichsten Sinne betreiben will: D.h. mehr Befugnisse für die Polizei und verschärfte Strafgesetze, ganz im Sinne Kantherscher Law and order-Politik. Schließlich seien alle erleichtert, daß mit Joschka Fischer die Kontinuität der äußeren Sicherheit gewahrt bleibt. „Warum darf es nicht Kontinuität bei der Inneren Sicherheit geben?“ fragt Innenminister Otto Schily in einem Zeitungsinterview. [5]
Im Bereich Gewalt gegen Frauen, bei der Bekämpfung sog. organisierter Kriminalität, der Schleuser-, Drogen- und Alltagskriminalität und hinsichtlich der Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems wird gänzlich auf die vermeintlich abschreckende Wirkung des Strafrechts gesetzt. Tendenzen zur Entkriminalisierung oder Legalisierung bspw. im Zusammenhang mit weichen Drogen oder Bagatellkriminalität sucht man im Koalitionsvertrag vergeblich. Mehr Strafen, schneller Strafen und gleichzeitig ökonomischer Strafen lautet statt dessen der Tenor rot-grüner Kriminalpolitik.
Um Frauen vor ihren gewalttätigen (Ex-)Partnern zu schützen, müßten die „Täter (…) konsequent verfolgt und bestraft werden“. Entschlossen bekämpft werden soll auch die sog. organisierte Kriminalität. Insbesondere will die Koalition die nationale und internationale Bekämpfung des Frauen- und Kinderhandels verstärken, indem u.a. die strafrechtliche Definition von Menschenhandel erweitert wird. Um kriminell erworbene Gewinne leichter einziehen zu können, will Rot-Grün ein „Gesetz zur verbesserten Abschöpfung von Vermögensvorteilen aus Straftaten einbringen“. Der alten SPD-Forderung nach einer Beweislastumkehr und damit der Aufgabe der Unschuldsvermutung werden sich die Bündnisgrünen nach dieser Übereinkunft wohl kaum noch entgegenstellen können. Wirtschafts- und Umweltkriminalität, Korruption und illegale Beschäftigung gehören ebenfalls zu den Kriminalitätsbereichen, die besonders bekämpft werden sollen. Welche Maßnahmen die Koalition konkret plant, ist noch weitgehend offen. Um den Mißbrauch von Sozialleistungen besser bekämpfen zu können, fordert Bundesfamilienministerin Bergmann (SPD) „härtere Strafen und schärfere Kontrollen, zum Beispiel durch Fahnder, die auch bundesweit und international aktiv werden können“. [6]
Sog. Alltagskriminalität, was auch immer darunter zu verstehen ist, soll laut Koalitionsvertrag „konsequent, aber bürokratiearm“ bestraft werden. „Schnelle Strafen ohne großen Aufwand“ fordert Bundesjustizministerin Däubler-Gmelin. [7] Dazu sollen neue Sanktionsformen und neue Befugnisse für die Polizei geschaffen werden. Das Bundesjustizministerium (BMJ) arbeitet bereits an einem Gesetzentwurf, der die Polizei ermächtigt, Kleinkriminalität (insbes. Ladendiebstahl, ‘Schwarzfahren’) mit „Strafgeldern“ zu ahnden, ohne daß ein Gericht beteiligt wird. [8] Die (bislang) unzulässige Vermischungen von Justiz- und Polizeiaufgaben, durch die Polizisten zu Ermittlern, Anklägern und Richtern in einer Person würden, sieht man auch im BMJ als ein Problem. Lösen könnte man es, indem kleinere Delikte ent‘kriminalisiert’ und zu Ordnungswidrigkeiten herabgestuft w¸rden, die dann von der Polizei mit Bußgeldern analog zu Verkehrsverstößen geahndet werden könnten. Entkriminalisierung sei aber gerade nicht das Ziel, sondern eine flächendeckende Bestrafung und schnellere Erledigung solcher Fälle, die heute im Regelfall ohne Bestrafung bleiben. [9]
Das strafrechtliche Sanktionensystem, so ist in der Vereinbarung zu lesen, will die Koalition insgesamt reformieren. Z.B. sollen „zeitgemäße Sanktionsformen“ wie gemeinnützige Arbeit oder Fahrverbote neben der Freiheits- und Geldstrafe geschaffen werden. Sie seien für Fälle gedacht, in denen „Menschen, die kleinere Straftaten begangen haben und deshalb zu einer Geldstrafe verurteilt wurden, (…) im Gefängnis landen, nur weil sie das Geld nicht aufbringen können“, erläutert Däubler-Gmelin. [10] Die Gefahr, daß diese vermeintlich milderen Strafen auch vermehrt bei Kleinstdelikten verhängt werden, bei denen die Täter bislang straflos oder mit einer Verwarnung davonkamen, liegt auf der Hand. Wo angesichts dieser ‘Straf-Orgien’ noch Raum für den von Rot-Grün geforderten Täter/Opfer-Ausgleich oder für Wiedergutmachung und Opferschutz sein soll, ist nicht nachvollziehbar.
Auf europäischer Ebene stehen die „Stärkung der Inneren Sicherheit“ und „Gewährleistung der Bürgerrechte“ auf dem Programm. Dazu will die Koalition:

  • die „grenzüberschreitende Zusammenarbeit bei der Verbrechensbekämpfung“ verbessern,
  • Europol unter Gewährleistung der gerichtlichen Kontrolle und der Befassungsrechte des Europäischen Parlaments ausbauen,
  • die Asyl-, Flüchtlings- und Migrationspolitik ‘harmonisieren’, wobei schwerpunktmäßig „illegale Einwanderung“ – insb. „Schleuserkriminalität“ – bekämpft, die Lasten gerecht verteilt und Fluchtursachen nachhaltig bekämpft werden sollen, und
  • eine EU-Charta der Grundrechte schaffen.

Im Zuge der ‘Europäischen Einigung’ will die neue Bundesregierung für eine „weitestgehende Integration des Schengen-Bestandes in das europäische Gemeinschaftsrecht eintreten“. Das ist bereits durch den Amsterdamer Vertrag festgelegt. Die neue Regierung nimmt offenkundig keinen Anstoß daran, daß damit eine auf höchst undemokratische Weise zustande gekommenene Regierungsvereinbarung einiger weniger Staaten, einschließlich der mehr als 200 Beschlüsse des Exekutivausschusses, für die gesamte EU verbindlich wird – ohne daß das Europäische oder die nationalen Parlamente auf dieses bestehende Regelungsgeflecht Einfluß nehmen könnten.
Auch auf europäischer Ebene stehen Verbrechensbekämpfung und der Ausbau polizeilicher Befugnisse eindeutig im Vordergrund; BürgerInnenrechte bleiben nur ein unbestimmtes Anhängsel.

Schweigen ist Gold?

Die repressive Schlagseite der kriminalpolitischen Vorhaben wird ergänzt durch das, was nicht in der Koalitionsvereinbarung steht. Auffallend ist, daß die Polizei dort nicht vorkommt. Die Frage der Kontrolle wird allein bei den Geheimdiensten angesprochen. Deren parlamentarische Kontrolle soll in einem mit erweiterten Befugnissen ausgestatteten Gremium zusammenfaßt werden. Daß es ein Kontrollproblem bei der Polizei geben könnte, wird ignoriert. Überhaupt soll der institutionelle Status quo im ‘System Innerer Sicherheit’ beibehalten werden. Bundeskriminalamt und Bundesgrenzschutz (BGS) tauchen in den Plänen der Regierung nicht auf. An deren Bedeutung, die unter Kanther zielgerichtet ausgeweitet wurde, will man offenkundig nichts ändern. Demgegenüber werden die genannten neuenBekämpfungspläne notwendigerweise mit neuen polizeilichen Zuständigkeiten und neuen Kompetenzen verbunden sein.
Angesichts dieses programmatischen Zuschnitts verwundert es wenig, daß die neue Regierung weder im Strafrecht noch bei den polizeilichen Eingriffsrechten bereit scheint, die Linie ihrer Vorgängerin zu verlassen. Statt Bagatellen zu entkriminalisieren, will sie konsequentes Strafen auch bei kleinsten Verstößen. Weder die Abschaffung der §§ 129 und 129a (kriminelle und terroristische Vereinigung) werden noch die der Kronzeugenregelung werden erwähnt. Angesichts dieser Vorgaben kann in die angekündigte Überprüfung der Antiterror-Gesetze [11] kaum Hoffnung gesetzt werden. Das Vermummungsverbot soll ebenso erhalten werden wie die Hauptverhandlungshaft und die lebenslange Freiheitsstrafe. Justizministerin Däubler-Gmelin hat bereits deutlich gesagt, daß hier alles beim alten bleiben wird. [12] Verdachtsunabhängige Kontrollen durch den BGS sind kein Thema; die ausufernden Bestimmungen über die geheimen Methoden der Polizei (Telefonüberwachung, Verdeckte Ermittler, Lauschangriff etc.) sollen unverändert bleiben – so als hätten die Wählerinnen und Wähler der neuen Regierungsparteien schon immer die Sicherheitspolitik der Ära Kohl gewollt.

Wende ohne Kurswechsel

Die Ankündigungen rot-grüner Politik „Innerer Sicherheit“ zeichnen sich durch eine vordergründige rhetorische Kombination des entschlossenen Vorgehens gegen Kriminalität und deren Ursachen aus. Während die Kriminalitätsbekämpfung auf allen Ebenen – von der Alltagskriminalität bis zur europäischen Zusammenarbeit – verstärkt werden soll, bleibt die Erwähnung der Prävention praktisch folgenlos. Die von den Sicherheitsapparaten gespeisten Bedrohungsszenarien liegen auch der Politik „Innerer Sicherheit“ der neuen Regierung zugrunde. Dabei wird die inhaltliche Bestimmung der Bedrohungen durch die Interessen der eigenen Parteiklientel modifiziert: Umweltkriminalität und Wirtschaftskriminalität werden gesondert erwähnt. Durch die Hinweise auf den „Frauen- und Kinderhandel“ oder die „Schleuserkriminalität“ werden zudem Phänomene in den Vordergrund gestellt, denen das breite Publikum mit moralischer Abscheu gegenübersteht. Daß „Wirtschaftskriminalität“ mit den Formen kapitalistischen Wirtschaftens in Zusammenhang steht, daß Umweltprobleme primär keine der Umweltkriminalität sind, daß Menschenhandel und Schleusertätigkeit spezifische Folgen weltweiter Migration sind, die durch bewußte politische Entscheidungen erst geschaffen werden – all das läßt die innere Sicherheitspolitik der neuen Regierung außer acht. In ungebrochener Kontinuität hält sie daran fest, unerwünschte Erscheinungen als „Kriminalität“ zu behandeln und entsprechende Abhilfe in verschärften Straf(androhung)en und entsprechend ermächtigten Apparaten zu suchen. Entgegen dem Versprechen „die Bürgerrechte werden ausgebaut“, können bei einer Politik, die sich diese Logik zu eigen gemacht hat, die BürgerInnenrechte nur verlieren.
Wer deshalb von dem Wechsel in Bonn auf Impulse für eine liberale Politik „Innerer Sicherheit“ gehofft hatte, der oder die kann nach wenigen Wochen nur enttäuscht sein. Auch insofern bleibt Kontinuität, daß mehr bürgerliche Freiheiten in Deutschland nicht mit, sondern nur gegen die Regierung errungen werden können.

Martina Kant und Norbert Pütter sind RedakteurInnen von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
[1] Frankfurter Rundschau v. 22.10.1998. Alle weiteren Zitate, sofern keine anderen Angaben gemacht werden, stammen aus der Koalitionsvereinbarung.
[2] Frankfurter Rundschau v. 11.11.1998
[3] s. hierzu: Kant, M.; Pütter, N.: Sicherheit und Ordnung in den Städten, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 59 (1/98), S. 70-79
[4] Tagesspiegel v. 15.11.1998. Während in der Koalitionsvereinbarung nur von Rechtsextremismus gesprochen wird, hat Innenminister Schily in diesem Interview die bekannte ‘Ausgewogenheit’ wieder hergestellt und darauf hingewiesen, daß die Regierung selbstverständlich auch im „Bereich des Linksextremismus (…) wachsam“ bleiben werde.
[5] Der Tagesspiegel v. 15.11.1998
[6] Der Tagesspiegel v. 19.11.1998
[7] Süddeutsche Zeitung v. 30.11.1998
[8] Süddeutsche Zeitung v. 20.11.1998
[9] Der Tagesspiegel v. 22.11.1998; Süddeutsche Zeitung v. 20.11.1998
[10] Die Zeit v. 5.11.1998
[11] Der Tagesspiegel v. 8.11.1998
[12] Der Tagesspiegel v. 12.11.1998