Die Drohung mit der Jugend – Mystifizierende Statistik und öffentliche Moralisierung

von Oliver Brüchert

Wenn von Kriminalität die Rede ist, geht es um Täter oder um Statistiken. Die wissenschaftliche Begleitmusik bildet die Frage, was die Täter zu ihren Straftaten antreibt. Insbesondere die angeblich ständig steigende Jugendkriminalität läßt Raum für Spekulationen über falsche Erziehung, mangelnde Werteorientierung und soziale Zerrüttung. Diese Perspektive soll hier umgedreht werden: Mit ihrer zur Schau gestellten Sorge um die Jugend (und den Schaden, den sie anrichtet) verbreiten die öffentlichen Moralunternehmer ihre eigene Vorstellung, wie die Gesellschaft einzurichten sei und wer welche Ansprüche anzumelden habe. Der Mythos Jugendkriminalität und die eigenwillige Interpretation der Statistiken sind geeignet, junge Menschen aus der Konkurrenz um politische und ökonomische Teilhabe auszuschließen.

Einmal im Jahr veröffentlicht das Bundeskriminalamt (BKA) die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS). In den folgenden Tagen kann man in allen Zeitungen lesen, wie es mit der Kriminalität im Lande steht, welche Delikte häufiger begangen wurden und welche Gruppen von DelinquentInnen sich im vergangenen Jahr besonders hervorgetan haben. Trotz ihres mißverständlichen Untertitels – „Die Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland“ – würde bereits ein kurzer Blick in die ersten Kapitel der PKS genügen, um festzustellen, daß sie nur wenig über Kriminalität aussagt. Gleich zu Beginn wird erklärt, daß die PKS ausschließlich die der Polizei bekanntgewordenen Straftaten enthält. Bekannt werden Straftaten der Polizei vor allem durch Anzeigen aus der Bevölkerung. Nur bei wenigen Deliktgruppen, vor allem bei „Delikten ohne Opfer“ (Drogen, Asyl- und Ausländerrecht), hängt das Bekanntwerden nicht von Anzeigen, sondern von der eigenen Kontroll- und Überwachungstätigkeit der Polizei ab. Ansonsten ist die PKS also als Statistik des Anzeigeverhaltens der Bevölkerung bei der Polizei zu verstehen. Sie sagt nichts darüber aus, ob die angezeigten Vorfälle tatsächlich stattgefunden haben, ob sie nach geltendem Recht eine Straftat darstellen und vor allem nichts über Fälle, in denen keine Anzeige erstattet wurde, die sogenannte Dunkelziffer. Der Begriff „Dunkelziffer“ weckt Assoziationen an heimliche, verborgene Winkel, die der Aufhellung bedürften. Wenn man davon ausgeht, daß die Menschen in vielen Fällen Probleme anders lösen als mit Hilfe von Polizei und Strafanzeige, ist das ebenfalls eine irreführende Bezeichnung. Man könnte sie dann treffender die „zivile Beilegungsziffer“ nennen.

Vor diesem Hintergrund ist es plausibel, die Bewegungen der Zahlen in der PKS als Ausdruck eines sich wandelnden Bewußtseins der Bevölkerung zu verstehen. Fallen z.B. die Anzeigen wegen Ladendiebstahl, so kann das darauf hinweisen, daß die großen Kaufhäuser Sicherheitspersonal gespart oder ihre Politik geändert haben und beim ersten Vorfall zunächst mit einem Hausverbot statt mit einer Anzeige reagieren. Steigen sie über einen längeren Zeitraum, so kann das auf eine gesamtgesellschaftliche Verschiebung in der moralischen Beurteilung zurückzuführen sein. Was früher als bemitleidenswerte und verzweifelte Reaktion auf eine Notlage gesehen werden konnte und privat gelöst wurde, wird in einer zunehmend auf (über den unmittelbaren Lebensbedarf hinausgehenden) Konsum beruhenden Gesellschaft eher als bedrohliche und verwerfliche Normlosigkeit eingeordnet und zu Kriminalität. Die Statistik speist sich aus den Wahrnehmungen und Ängsten der Bevölkerung, der sie wiederum als Orientierung dient – ein schlichter Zirkel.

Dieser Zirkel wird unterstützt durch eine unvergleichliche Medienkampagne. Seit der quotentechnisch erfolgreichen Inszenierung rechtsradikaler Gewalt Anfang der 90er Jahre, mit der unter anderem die kritische Öffentlichkeit bei der zeitgleichen Abschaffung des Asylrechts weitgehend stillgestellt wurde, ist die „gefährliche Jugend“ in unterschiedlicher Besetzung wieder ein Dauerbrenner. Das Thema hatte freilich auch zuvor, spätestens seit den „Halbstarken“ der 50er Jahre, immer wieder Konjunktur. Den „Skins“ – die ohnehin zumeist den genauso gefährlich anzuschauenden „Antifas“ entgegengestellt wurden – folgten die „Chaoten“, die „Russenkids“, die „Mehmets“, die mordenden „Computerkids“, die „Hooligans“ von Lens usw. usf. Die stets zugrundeliegende Annahme ist, die jugendliche Gewalt nehme nie gekannte Ausmaße an, insbesondere an den Schulen herrschten „Kriegszustände“. Wer diese Wahrnehmung als übersteigert kennzeichnet, wird der Verharmlosung bezichtigt. Nun gibt es bestimmt keinen Anlaß, die einzelnen Ereignisse, an denen diese Medienkampagne anknüpft, als harmlos abzutun. Wer jedoch von einer „neuen Dimension der Gewalt“ redet, muß überzeugend darstellen können, daß es sich nicht um einzelne Ereignisse handelt, wie es sie zu allen Zeiten gab und die uns lediglich durch ihre Überrepräsentanz in den Medien als ausuferndes Problem erscheinen. Der Hinweis auf die polizeiliche Anzeigenstatistik und die Medienbilder kann dazu nicht genügen. Doch scheinen auch zahlreiche wissenschaftliche Studien die Annahme steigender Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen zu belegen.

(Jugend-)Kriminalität als Glaubensfrage

Größte Aufmerksamkeit in Sachen Erforschung von Jugendkriminalität haben in den letzten Jahren die Studien des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) unter der Leitung von Christian Pfeiffer erregt. Die zentralen Annahmen sind: 1. Eine zunehmende Jugendkriminalität werde durch die PKS indiziert. 2. Es gehe folglich um die Erforschung der Ursachen dieses Phänomens. 3. Diese Ursachen seien in Arbeitslosigkeit und erodierenden sozialen Milieus zu suchen, deren Folge Perspektivlosigkeit und der Zusammenbruch der Werteordnung sei. Häufig wird auch eine besondere „Belastung“ ostdeutscher (durch die DDR-Erziehung und die Wendeerfahrungen)[1] sowie „ausländischer“ Jugendlicher (Macho-Kultur und besondere Benachteiligung) angenommen.

Beispielhaft sei aus der vielbeachteten, im Rahmen eines größeren Forschungszyklus angesiedelten Studie des KFN zitiert, die auf einer vergleichenden Auswertung von Kriminal- und Strafverfolgungsstatistiken, Aktenanalysen der Strafverfolgungsorgane und (quantitativen und qualitativen) Schülerbefragungen in mehreren Städten beruht:

„In diesem Zusammenhang müssen wir auch noch auf einen Befund hinweisen, der in klarem Widerspruch zu dem steht, was zur Jugendgewalt in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Die durchschnittliche Tatschwere von Fällen der polizeilich registrierten Raubdelikte und gefährlichen/schweren Körperverletzungen junger Menschen hat in Hannover zwischen 1990 und 1996 erheblich abgenommen – und dies nach allen Kriterien, die wir zu Beurteilung dieser Frage heranziehen konnten: dem Anteil der Ersttäter unter den Angeklagten, der Schadenshöhe, dem Einsatz von Waffen und dem Grad der durch die Gewalttat eingetretenen Verletzung des Opfers. Das Sinken der Tatschwere hängt offenkundig damit zusammen, daß sowohl Täter wie Opfer immer jünger geworden sind. Es überrascht von daher nicht, daß die Jugendrichter Hannovers insbesondere bei den Raubdelikten im Laufe der Jahre die Quote der zu Jugendstrafe Verurteilten deutlich gesenkt haben. Die Tatsache, daß letzteres auch bundesweit zu beobachten ist, bewerten wir ebenso wie die sinkende Anklagehäufigkeit bei Gewalttaten und das abnehmende Durchschnittsalter von Tätern und Opfern solcher Delikte als deutliche Hinweise darauf, daß die geschilderte Entwicklung in Hannover Indiz für eine generelle Abnahme der Tatschwere bei Gewalttaten von unter 21jährigen ist.“[2]

Ein eindrucksvolleres, empirisch abgesichertes Argument dafür, daß nicht die „Tatschwere abgenommen“ hat, sondern die Anzeigenbereitschaft bei immer bagatellhafteren Delikten, gegen immer jüngere „Täter“ drastisch zugenommen hat, läßt sich kaum noch führen. Was heißt eigentlich sinkende Tatschwere? Bei dieser Metapher verstellt offenbar die Faszination für die Kurven der in Diagrammen abgebildeten statistischen Daten den Blick auf die dahinter vermutete Wirklichkeit. Ein „Sinken der Tatschwere“ würde ja heißen, daß dieselben Taten oder dieselben Täter weniger Schaden anrichten. Aus der Statistik läßt sich aber lediglich ein Durchschnitt von weniger schweren und mehr minderschweren Delikten ermitteln, ebenso wie mehr junge Tatverdächtige. Genausowenig wie bestimmte Personen durch Zauberei „immer jünger geworden sind“, sind dieselben Taten weniger schwerwiegend geworden. Es handelt sich schlicht um andere Taten und andere Tatverdächtige.

Die Autoren fahren fort: „Die zuletzt erörterten Befunde sollten unseres Erachtens allerdings nicht als Signal einer Entwarnung mißverstanden werden. Zwar relativieren sie ebenso wie die Erkenntnisse zur wachsenden Anzeigebereitschaft die PKS-Daten, zum Anstieg der Jugendgewalt und der Viktiminisierung von Jugendlichen. Dies bedeutet aber nicht, daß die festgestellte Zunahme allein auf diese Faktoren zurückzuführen wäre und real nicht existieren würde. Der starke Anstieg der polizeilich registrierten Gewaltkriminalität junger Menschen geht weit über das hinaus, was mit Hilfe der Verzerrungsfaktoren erklärt werden kann.“[3]

Würde man die PKS wie auch die Tätigkeits- und Verurteilungsstatistiken der Gerichte endlich als das lesen, was sie sind, nämlich als aufschlußreiche Quellen über Vorgänge der öffentlichen Kriminalitätswahrnehmung und Prozesse der Stigmatisierung und sozialen Kontrolle, ergäbe sich, daß die „Verzerrungsfaktoren“ nicht ein sonst unverfälschtes Bild „der Kriminalität“ überlagern, sondern die eigentlich relevanten Faktoren sind, die mit dieser Statistik gemessen werden. Insofern sind sie im Stande, den gesamten Anstieg zu erklären. Dies nicht zu tun, bedarf für die Autoren aber offenbar keiner weiteren Begründung. Es widerspricht schlicht dem Glaubenssatz, daß ein Anstieg gegeben sein müsse, mindestens, wenn er sich irgendwo statistisch niederschlägt.

Das krampfhafte Beharren auf wissenschaftlich unhaltbaren Glaubenssätzen läßt sich nur erklären, wenn man berücksichtigt, daß die Wissenschaft nicht außerhalb des kulturindustriellen Zirkels agiert. Sie ist vielmehr ein wichtiger Akteur in den Medien und umgekehrt auf diese Form öffentlicher Aufmerksamkeit angewiesen. Aufmerksamkeit läßt sich am ehesten erreichen, wenn man die Erwartungen erfüllt, die an die eigene Profession gestellt werden. Von KriminologInnen als ExpertInnen für Kriminalität wird erwartet, daß sie etwas über die Ursachen allseits bekannter Probleme sagen.

Der Hinweis, daß das Problem ein anderes sein könnte und die Frage möglicherweise falsch gestellt ist, stört da nur. Willkommen sind hingegen wohlfeile Erklärungen aus der soziologischen Mottenkiste,[4] die aus den Jugendlichen „Reaktionsdeppen“ machen und das Normalitätsgefühl der Mehrheitsbevölkerung nicht irritieren. Jeder gute Populist weiß: Die einfachsten Erklärungen werden am schnellsten geglaubt und im „Medienzeitalter“ ist quick & dirty allemal erfolgreicher als geduldiges Nachdenken. Wenn man die zunehmenden Anzeigen gegen ausländische Jugenliche als deren Integrationsproblem interpretiert, folgen daraus einfache Lösungen: ein paar SozialarbeiterInnen mehr ins Viertel – wenn noch Geld herausgeschlagen werden kann, auch subventionierte Jobs und Wohnungen. Das erspart die Auseinandersetzung mit dem staatlich angeleiteten, gesellschaftlichen Rassismus. Wissenschaft muß auch finanziert werden, und die staatlichen und privaten Zuwendungen richten sich zunehmend danach, wie gut sich Forschung öffentlich verkaufen kann. Von der „guten Jugend“ leben Musik-, Mode- und Werbeindustrie, die „gefährliche Jugend“ verschafft dagegen KriminologInnen, SoziologInnen und PädagogInnen eine Daseinsberechtigung.

Solange du die Füße unter meinem Tisch hast …

Wenn es also wahr ist, und die „gefährliche Jugend“ eine bloße Erfindung, ein Mythos ist, wieso ist dieses Bild so verbreitet, so einflußreich? Man kann sich das an einem Gedankenspiel klarmachen: Stellen wir uns für einen Augenblick vor, die Jugendlichen – sagen wir alle mindestens 14jährigen (das ist das Strafmündigkeitsalter, mithin eine praktizierte Grenze, in denen Menschen „Verantwortung“ zugesprochen wird) – diese Jugendlichen würden auf einen Schlag die volle Teilhabe in dieser Gesellschaft erlangen, wie sie Erwachsene haben. Sie dürften wählen und gewählt werden, um Arbeitsplätze konkurrieren, öffentliche Ämter bekleiden und Firmen leiten, Städte und Kultur gestalten usw. Es würde sich nicht nur die Lage auf dem Arbeitsmarkt weiter drastisch verschärfen und zu einer Verdrängung älterer Mitbewerber kommen, es würde die Gesellschaft in vielerlei Hinsicht recht grundlegend verändert. Ob zum Guten oder zum Schlechten, ist eine Frage des Standpunkts, und vermutlich wäre von beidem etwas dabei. Darum geht es aber nicht. Es geht darum, daß Erwachsensein, ähnlich wie „DeutscheR“ zu sein, „gebildet“ zu sein, (in vielen Bereichen nach wie vor:) „Mann“ zu sein und ähnliche Kriterien in dieser Gesellschaft eine erweiterte Teilhabe ermöglichen, von der die jeweils anderen ganz oder teilweise ausgeschlossen sind. Die Jugend klein zu halten, ist ein Mittel, Konkurrenzen zu vermeiden und Vorrechte zu sichern.

Das Bildungssystem ist sicher eine freundliche Variante, die Jugend ein paar Jahre länger vom Arbeitsmarkt fernzuhalten. Eine weniger freundliche Variante sind die verschiedenen paternalistischen Zugriffe, zu denen fürsorgliche Einhegungen in sozialpädagogischen Projekten und Sportklubs gehören, aber eben auch die repressive Ausschließung mit den Mitteln der polizeilichen Kontrolle und des Strafrechts. Insofern sind die wachsenden Anzeigenzahlen nicht Anzeichen einer verunsicherten Jugend, sondern einer verunsicherten Mehrheitsgesellschaft, die sich gegen potentielle Konkurrenten wehrt. Im rassistischen Diskurs geschieht das sehr explizit (z.B. durch Arbeitsverbote für Asylsuchende), gegenüber der Jugend insgesamt eher unterschwellig als Erziehung.

Historisch betrachtet ist die Erfindung der Jugend als eigenständigem Lebensabschnitt zwischen (unmündiger) Kindheit und (mündigem) Erwachsensein wie auch als Kollektiv, dem eine bestimmte gesellschaftliche Funktion zukommt, relativ neu. Sie geht auf soziale Bewegungen um die letzte Jahrhundertwende zurück, die als Reaktion auf eine verlängerte Phase der Adoleszenz in den städtisch geprägten kapitalistischen Gesellschaften gedeutet werden können.[5] Seit der Entdeckungszeit stehen sich Wunsch- und Schreckensbilder gegenüber, geht es um die Frage, was die Gesellschaft sich von der Jugend erhoffen kann und wie man sie unter Kontrolle hält. Der Nationalsozialismus trieb die vereinnahmende Verherrlichung (in Hitlerjugend und BDM) ebenso auf die Spitze wie die Ausschließung, Verfolgung und Vernichtung der „verwahrlosten“ Jugendlichen. Die Kriterien, was eine anständige Jugend ausmache und was Anzeichen von Verwahrlosung seien, ändern sich im Laufe der Zeit ebenso wie die Praktiken der Vereinnahmung und des Ausschlusses. In vielen Bereichen überlagern sich die Perspektiven: Das Jugendstrafrecht ist als mildere, um Schadensbegrenzung bemühte Alternative dem Erwachsenenstrafrecht sicher vorzuziehen, gleichwohl greift es stärker auf die „Persönlichkeit“ des „Täters“ zu und legitimiert unter dem Gesichtspunkt der erforderlichen „Resozialisierung“ durchaus die Verhängung eines höheren Strafmaßes, als für Erwachsene unter gleichen Umständen üblich wäre.

Beim Thema „Jugend“ geht es aber nicht nur um die Jugendlichen und den Umgang mit ihnen. Jugendliche als „Opfer und TäterInnen“ sind vor allem eine Projektionsfläche für Moralunternehmertum. Damit ist eine Technik bezeichnet, bestimmte Normen allgemein verbindlich zu machen, indem man ihre (andauernde) Verletzung skandalisiert.[6] Das beeindruckendste Kapitel in der jüngeren Geschichte des Moralunternehmertums war sicherlich die Debatte um den „Asylmißbrauch“, die den Weg zur Abschaffung des Asylrechts ebnete. Ähnliche Muster finden wir bei jugendspezifischen Themen, angefangen bei den „LangzeitstudentInnen“, die für Kürzungen im Sozial- und Bildungsbereich herhalten müssen, über die „Mehmets“, die eine menschenrechtswidrige Abschiebepraxis legitimieren sollen, bis zur Verhöhnung des Jugendstrafrechts (z.B. „Segeltörn der Straftäter“)[7], die zur Begleitmusik der Kampagne für mehr „Innere Sicherheit“ gehört. Ebenso werden Jugendliche in ihrer Rolle als Opfer instrumentalisiert: In der Drogenpolitik wird weiter auf Kriminalisierung statt (einer zumindest ambivalenten) Hilfe für die Betroffenen gesetzt, die Debatte um den sexuellen Mißbrauch stützt – entgegen jeden Problembewußtseins – eine rigide Sexualmoral, die bereits in Kampagnen gegen Aufklärungsunterricht in den Schulen und Forderungen nach nächtlichen Ausgangssperren für Jugendliche übergeht; und die Entdeckung, daß sich junge Männer häufiger prügeln, wenn sie unterschiedlicher Nationalität oder Abstammung sind, wird als Scheitern des „Multikulturalismus“ gedeutet und zur Begründung einer ethnisch bis kulturell homogenisierten Nation ohne die „Zerrissenheit“ einer Doppelstaatsbürgerschaft herangezogen.

Wohlwollen oder Rechte

Da sind auch die anderen Moralunternehmer, zu denen sicherlich die Autoren der oben erwähnten Studie gehören. Sie fordern keine härteren Strafen, sondern mahnen einen besonnenen, zurückhaltenden Umgang mit den „Problemfällen“ an. Auch die diversen Kampagnen für „Keine Macht den Drogen“ und der jüngste Werbespot eines ostdeutschen Boxers fördern Vereine und Projekte, die an sich niemandem schaden. Aber ist es klug, mit der gefährlichen oder der gefährdeten Jugend zu drohen, um Sportvereine und soziale Maßnahmen zu fördern? Die wohlwollende Dramatisierung stützt letztendlich dieselbe Wahrnehmung, die von weniger wohlwollenden Zeitgenossen zur Begründung eines repressiven Umgangs genutzt wird.

In einer demokratischen Gesellschaft mißt sich der Grad der sozialen Teilhabe in erster Linie an Rechten. Das fängt beim Wahlrecht an, bezieht sich aber auf alle Bereiche ökonomischer und sozialer Absicherung und Selbstbestimmung. Jugendlichen solche Rechte zu verschaffen und sie zu verwirklichen, wäre ein Weg, aus den Dilemmata wohlwollender Stigmatisierung und repressiver Vereinnahmung herauszukommen. Eine elternunabhängige Grundsicherung könnte ein erster Schritt sein. Damit ist man von dem oben entworfenen Gedankenexperiment ziemlich weit entfernt, doch mindestens ebensoweit vom herrschenden Umgang mit Jugend.

Was hat das aber mit Kriminalität zu tun? Nichts! Und das ist gut so, denn gleiche Rechte und gesellschaftliche Anerkennung sollten sich von selbst verstehen. Sie zu erkaufen, indem man die Jugend gefährlich macht, wäre ein Bärendienst.

Oliver Brüchert ist Mitherausgeber der „Neuen Kriminalpolitik“ und forscht am Arbeitsschwerpunkt Devianz und Soziale Ausschließung an der Universität Frankfurt/M.. Politisch ist er bei den Jungdemokraten/Junge Linke und beim Komitee für Grundrechte und Demokratie aktiv.
[1] Pfeiffer, C.: Anleitung zum Haß, Der Spiegel, 12/1999, S. 60-66
[2] Pfeiffer, C. u.a.: Ausgrenzung, Gewalt und Kriminalität im Leben junger Menschen“, Sonderdruck zum 24. Deutschen Jugendgerichtstag 1998, S. 107f.
[3] ebd., S. 108
[4] Siehe Kersten, J.: Vom Hölzchen aufs Töpfchen: Warum in Deutschland platte Gewalterklärungen so populär sind, in: Neue Kriminalpolitik 1999, H. 2, S. 7
[5] Dudek, P.: Jugend als Objekt der Wissenschaft. Geschichte der Jugendforschung in Deutschland und Österreich, Opladen 1990
[6] Vgl. die entsprechenden Kapitel in: Cremer-Schäfer, H.; Steinert, H.: Straflust und Repression, Münster 1998
[7] Focus 43/1998, S. 74-76

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