Zunehmende Lust auf Jugend, Gewalt und Kriminalität – Die aktuelle kriminalpolitische Jugenddebatte

von Helga Cremer-Schäfer

Die Täter würden „immer mehr, immer jünger, immer brutaler“, verkünden die Zeitungen. Die Formulierung ist nicht mehr frisch. Sie wurde schon in den 70er Jahren der Elterngeneration der heutigen Jugend entgegengehalten und löste schon damals Beunruhigung aus. Die Reaktionen auf den Befund der „steigenden Kinder- und Jugendkriminalität“ und „zunehmenden Gewaltbereitschaft“ bilden eine „Mischung aus Strenge und ausgestreckter Hand“.[1]

Das heutige öffentliche Reden über die „steigende Kinder- und Jugendkriminalität“ ist wie kein anderes über Massenmedien vermittelt.[2] Einfache „law-and-order-Kampagnen“ expandierten zu einem „Dramatisierungsverbund“. An diesem Spiel beteiligen sich in unterschiedlichen Rollen Polizei, Politik, Soziale-Probleme-Professionen, konservative, sozialdemokratische und liberale Fraktionen der Kulturkritik, Medien und Wissenschaft. Sie spielen gegeneinander und konstituieren so das gemeinsame Spiel der „steigenden Kinder- und Jugendkriminalität“.

Das Reden und Schreiben über „Kriminalität“ und „Gefahren“ erfüllt zwar viele Unterhaltungsaufgaben. Kriminalitätsdiskurse und vor allem solche über „die Gewalt“ definieren aber stets bestimmte Gruppen als ein „Problem“, als „Risiko“ und „Gefahr“. Im Extremfall werden „Feindbilder“ erzeugt, „Sonderbehandlung“ und damit Formen sozialer Ausschließung legitimiert.

Um aus „Kinder- und Jugendkriminalität“ eine Bedrohung für die Gesellschaft zu machen, muß man zunächst einfach deren Anstieg behaupten. Man benötigt ferner eine PR-Abteilung, um die Diagnose zu verbreiten; die Mitspieler im Dramatisierungverbund, insbesondere auch die Wissenschaft, schließen sich fürsorglich und interessiert an. Was als Beleg gilt, entnehme man den früheren Kampagnen.

Von unschätzbarem Wert ist dabei die jährliche Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS). Man kann sich darauf verlassen, mindestens einen Anlaß für Sorge und Beunruhigung zu haben. Wie das funktioniert, hat jüngst der neue Bundesinnenminister Otto Schily demonstriert. Die diesjährige PKS, die erste nach dem Regierungswechsel, bietet eigentlich keinen Anlaß zur Dramatisierung der „Sicherheitslage“: niedrigster Stand der Straftaten seit 1993, höchste Aufklärungsquote seit 1966, nichtdeutsche Tatverdächtige finden sich immer weniger. Wie gut, daß Schily wenigstens „die hohe Zahl der Kinder- und Jugendstraftäter“ als „bedenklich“ bezeichnen konnte und so keinen Anlaß zu sehen braucht, „von einer deutlichen Entspannung der Situation zu sprechen“.[3] Die Headlines der Medien brauchen nicht wesentlich verändert zu werden.

Moral-Paniken

Mit einer neuen Entwicklung hat man es bei der „Kinder- und Jugendkriminalität“ in den 90er Jahren aber nicht zu tun. Die verschiedenen Debatten in den 80ern über „Jugend und Gewalt“, die „Ausländerkriminalität“, Hooligans oder den „Krieg in den Städten“ zwischen ausländischen Jugendbanden und den rechten Skins wurden nach den Erfahrungen des Golfkrieges und denen mit der deutschen Vereinigung zum Problem „Jugendgewalt“ verdichtet. In den Kontext einer Debatte um die Jugend gestellt, konnte ein politischer Konflikt, die fremdenfeindlich und wohlstandschauvinistisch motivierten Gewalttätigkeiten von jungen Leuten, erfolgreich entpolitisiert werden.

„Gewaltbereite Jugend“ meint immer gleichzeitig: „Nazi-Kids“, die Pogrome und Menschenjagden veranstalten, Hooligans, Autonome, Skinheads, Türkenbanden und Aussiedler („Rußlanddeutsche“), die „Krieg in den Städten“ führen und durch die „Siedlungen in Angst leben“; es meint weiter die „Kids ohne Gnade“, die auf der Straße stehlen, rauben, Autos knacken, Schüler, die den Gegner treten, wenn er schon am Boden liegt, „Kinder, die töten“ und Kleinkinder, die sich verhauen, weil sie zu viel fernsehen; „wie Helden in US-Serien hauen sie drauf“. All diesen Subjekten zwischen drei und 27 Jahren wird als Gemeinsamkeit das abstrakte Motiv der „Gewaltbereitschaft“ zugeschrieben. Weitere Stichworte lauten: ausländerfeindlich, geil auf Gewalt, Nervenkitzel, Geld und Ehre, Allmachtsgefühl, Befreiung aus der Ohnmacht, Reaktion auf Frustrationen.

Die Diskussion um die „Gewaltbereitschaft“ der Jugend wurde insbesondere in den 90ern in zwei Richtungen intensiviert. Einerseits wurde der Topos „die Täter werden immer mehr, immer jünger und brutaler“ von Jugendlichen auf Kinder erweitert. Um die Entwicklung weiterhin als bedrohlich darstellen zu können, verfiel man auf das Argument der großen Zahl: „steigende Kinder- und Jugendkriminalität“. Erst die Bagatellen jedoch geben die Masse: „Schwarzfahren führt die Liste an.“[4]

Entpolitisierung und Personalisierung

Die Rede von der „steigenden Kinder- und Jugendkriminalität“ bzw. der „wachsenden Gewaltbereitschaft“ erweist sich durchaus als nützlich. Kriminalität und Gewalt dienen generell dazu, öffentlich Unbehagen und Angst über ökonomische und gesellschaftliche Entwicklungen zu artikulieren. Indem dies am Thema „Kriminalität“ aufgehängt wird, findet eine „Verschiebung“ der Diskussion statt. Man braucht nicht direkt über das zu sprechen, was an gesellschaftlichen Verhältnissen Unbehagen verursacht, sondern kann darüber schreiben, wer Angst macht. Die Konstruktion einer bedrohlichen Generation von Kindern, Jugendlichen oder Ausländern ermöglicht es, statt über Kapitalismus, Ausschließung aus dem Arbeitsmarkt, über Konflikte um Teilhabe an gesellschaftlichen Ressourcen oder über politische Korruption, wirtschaftliche Konkurrenz und Ausbeutung zu sprechen, die „Ellenbogengesellschaft“ zu beklagen.

„In einer darwinistisch funktionierenden Gesellschaft triumphiert in allen Lebenslagen der Nahkampf über die Nächstenliebe. Selbstlosigkeit, Fürsorge, Sensibilität – damit, das ist die Botschaft an die nächste Generation, kann hier doch keiner mehr was werden,“ so klagt der „Spiegel“. „Wer den Sprung aufs Gymnasium schaffen will, darf Schwächere nicht abgucken lassen. Wer einen Lehr- oder Arbeitsplatz sucht, muß Mitbewerber ausbooten. Wer ein Held der Schlagzeilen werden will, muß Kil-lerinstinkt haben – ob auf dem Tennisplatz oder vor dem Asylantenheim. Wer an die Spitze von Wirtschaft und Politik drängt, muß sich und seine Interessen eiskalt durchbarscheln. Das lernen Kinder schnell.“5[5]

Das „Spiegeln“ als eine gesellschaftliche Praxis bedeutet aber nicht, sich zu erkennen. Verschieben und Projizieren zielt darauf ab, die Mitarbeit an einer „darwinistisch funktionierenden Gesellschaft“ zu verkennen; es kann auch über die drohende Bedeutungs- und Machtlosigkeit beruhigen. Wenn im Zusammenhang von „Kriminalität“ über gesellschaftliche Verhältnisse (Arbeitslosigkeit, Armut, verschärfte Konkurrenz) oder über die Zumutungen durch Institutionen (Schule, Markt, Medien) geklagt wird, geht es nicht um eine „Politisierung“, d.h. um Demokratisierung von Organisationen oder eine Reform von Strukturen. Daß „etwas schief läuft in der Gesellschaft“ führt über eine Argumentationsschlaufe zur Personalisierung des Problems. Es bilden sich „kriminelle Motive“ heraus. SozialwissenschaftlerInnen und KriminologInnen ziehen zur Zeit besonders gerne die Verbindung von „Armut und Kriminalität“ oder „Desorganisation und Gewalt“. Steigt die Jugendarmut, dann steigt die Jugendkriminalität, lautet die einfache Erklärung. So schreibt z.B. Christian Pfeiffer, ein in der öffentlichen Debatte sehr aktiver Kriminologe, (jungen) armen Leuten u.a. folgende Motive und Dispositionen zu:

„Wenn in einer Gesellschaft die Gegensätze von Arm und Reich zunehmen, steigt der ‚Anomie-Druck‘. Die in den Massenmedien und den Auslagen der Kaufhäuser allgegenwärtige Konsumwerbung wendet sich zwar primär an die wachsende Zahl der Wohlhabenden, erreicht aber mit ihren psychologisch geschickt vorgetragenen Appellen an die Kauflust aller Bürger auch solche, die von Sozialhilfe leben müssen. (…) In einer Gesellschaft, in der der Wert eines Menschen in hohem Maße durch seinen ökonomischen Status bestimmt wird (‚haste was, biste was – haste nichts, biste nichts‘), ist für den von Armut Betroffenen der Schritt zur Straftat dann oft nicht mehr weit (’nimmste, was, haste was – haste, was, biste was‘). Armut kann unter diesen Rahmenbedingungen sehr wohl eine Motivation erzeugen, die zur Eigentumskriminalität führt.“[6]

Bei dieser Anthropologie des Menschen (er ist kauflustig und möchte etwas wert sein) braucht es noch zwei weitere Bedingungen, die kriminellen Motivationen und Handlungen zu erzeugen. Erstens: Solange junge arme Leute sich noch Hoffnungen auf ein späteres, gesichertes Einkommen machen (weil sie z.B. trotz ihrer Benachteiligung als AusländerInnen einen Ausbildungsplatz erhalten), können sie die „Befriedigung ihrer Konsumwünsche leichter zurückstellen“. Ohne diese Aussicht geraten sie „eher in Gefahr der Versuchung, der kriminellen Lösung des Problems zu erliegen“. Wenn noch hinzukommt, daß nicht einmal politische Bewegungen ihnen „Utopien“ glaubhaft machen, dann „bilden sich zunehmend voneinander abgegrenzte Randgruppen der Gesellschaft, die sich ausgeschlossen fühlen und miteinander um die knappen Ressourcen von Arbeit, Wohnung und staatlicher Unterstützung konkurrieren und sich teilweise auch aggressiv bekämpfen.“ Unterstellt wird: Der Mensch brauche zwar nicht den Himmel auf Erden, wohl aber die Hoffnung darauf, daß es im Diesseits besser wird.

Zweitens: Wer in Institutionen „eingebunden ist“, in der Familie lebt, in der Schule lernt, im Betrieb arbeitet oder sich im Freizeitbereich beschäftigt und unterhält, der verhält sich konform. Soweit Institutionen intakt seien und ein soziales Netz bildeten, erfüllten sie ihre „Kontrollfunktion“. Wenn sich arme Leute nicht-strafrechtlicher Kontrolle entziehen oder wenn ihre Familien, Schulen, Nachbarschaften nicht funktionieren, dann wachse „das Risiko, daß ihre Armut auch zu Kriminalität führt.“[7]

Die Darstellung von Theorien der „sozialen Ursachen“ der Kriminalität führt paradoxerweise nicht dazu, die sozialen Probleme in den Vordergrund zu rücken. Die Aufmerksamkeit bleibt an Personen hängen. „Wie Helden in US-Serien hauen sie drauf – Die Abwärtsspirale beginnt, wenn Eltern sich nicht um ihre Kinder kümmern“, so titelt die Frankfurter Rundschau in ihrer Serie über Jugendkriminalität: „Der Katalog geht von A wie Arbeitslosigkeit bis Z wie Zappen. Die Faktoren, die Wissenschaftler und Praktiker als Ursache für kriminelles Verhalten anführen, erreichen eine stattliche Zahl. Wenn man das alles zusammenzieht, müßte eigentlich jeder Jugendliche krumme Dinger drehen.“[8]

F wie Familie

Der wichtigste Buchstabe bleibt jedoch das F: Die Familie. Den Delinquenten fehle „Basissozialisation“. Der alte Vorwurf der Verwahrlosung, dem sich proletarische Familien traditionell ausgesetzt sehen, wird von WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen in neuem Gewand präsentiert. „Teilnahmsloser Erziehungsstil“, auch bei „wirtschaftlicher Armut im Elternhaus“ ersetzen „Geld und Konsumgüter Erziehung und Zuwendung“; „wenn der Vater seinen Sprößling mit Prügel im Zaum zu halten versucht. Auch das erweist sich immer wieder als kriminalitätsfördernder Faktor.“[9]

Familialisierung dient dazu, das moralisierende Erklärungsschema vom „bösen und schuldigen Verbrecher“ zu verlassen und es durch das personalisierende und sozial degradierende Bild des „gefährlichen Delinquenten“ und „defizitären Menschen“ zu ersetzen, das mit Unterstützung wissenschaftlicher Theorien zum modernen „Alltagsmythos“ gemacht wurde. Die implizite Theorie lautet, daß Kriminalität und Gewalt entstehen, wenn erzieherische Autorität fehlt. Die Erklärung impliziert eine Legitimation der Praktiken derer, die sich als erzieherische Autoritäten definieren möchten.

Professionelle und politische Interessen

Die Akteure der Moral-Panik verbinden mit der „steigenden Kinder- und Jugendkriminalität“ gelegentlich organisatorische Interessen. Deutlich wird dies mit den „Lösungen“, die sie öffentlich in der Debatte angeboten haben.

Der Polizei geht es dabei ausnahmsweise nicht um mehr Personal und Kompetenzen, sondern vor allem um Entlastung. Die hessische Polizei verbreitet ihre Anliegen kumpelhaft per „Eigenanzeige“: „Wer ist schuld, wenn Kinder stehlen?“, so inseriert sie in den Regionalteilen der Frankfurter Rundschau: „Täter, Opfer, Abenteurer? Liebe Eltern, Lehrer und Geschäftsleute, wer nur mit Strafe droht, hat null Feeling für Kids und Teenies. Wir wollen, daß sie sicher leben. Ihre Polizei.“[10]

Freundlichkeit und Hilfe haben jedoch ihre Grenze, die den Jugendlichen auch gezeigt werden soll. Durch die Senkung des Strafmündigkeitsalters auf zwölf Jahre erhofft man sich eine neue Mischung aus Hilfe und Kontrolle, bei der die helfenden Instanzen nicht mehr nur pädagogisch tätig sein sollen. Auch wenn die hessische Polizei Jugendgefängnissen skeptisch gegenüber steht, so will sie doch, daß auch die Helfer mehr kontrollieren und mit allen Mitteln des Jugendstrafrechts drohen können. Ob daraus tatsächlich eine Entlastung der Polizei resultiert, dürfte allerdings mehr als fraglich sein.

Vor allem mit der Klage, was junge „Intensiv- und Mehrfachtäter“ alles anstellen können, weil die Helfer nicht kontrollieren, konnten pädagogischen Instanzen mühelos diskreditiert werden. Die „steigende Kinder- und Jugendkriminalität“ verleiht den Forderungen nach einer Ersatzanstalt für die geschlossenen Heime und die Untersuchungshaft für Jugendliche einigen Nachdruck. Daran sind sowohl AkteurInnen aus der Justiz wie solche aus der Jugendhilfe interessiert. Die ständige Wiederholung hat diese Forderung inzwischen zu einem selbstverständlichen Bestandteil der Debatte um Jugendkriminalität gemacht.

WissenschaftlerInnen und insbesondere KriminologInnen erhalten durch die „steigende Kinder- und Jugendkriminalität“ eine weitere Gelegenheit, Öffentlichkeit und Politik daran zu erinnern, daß „sanfte Kontrolle“ und Integration durch eine kluge soziale Technologie langfristig für ihre Interessen nützlicher sei als Sozialabbau und Law-and-order-Kampagnen. Sie bestätigen sich dadurch mindestens selbst ihre Bedeutsamkeit und den Sinn ihrer Geschäftigkeit. Die sozialen Professionen haben ein weiteres Thema, um ihre Arbeitsplätze zu legitimieren und Ressourcen für Kinder- und Jugendhilfe einzuklagen.

Die feste Ordnung

Generell geht es darum, daß Erziehung mehr Wert auf „Grenzziehung“ legen soll, vor allem bei den Jungen, die durch die ökonomische Entwicklung nicht einmal mehr als eine „Reservearmee“ für den Arbeitsmarkt gebraucht werden. Die Vermutung ist ja nicht unbegründet, daß Diskriminierung und Ausschließung von der Teilhabe an gesellschaftlich produziertem Reichtum zu Protestbewegungen oder zu einem individuellen „Gegenschlag“ führen könnten. Der Ratschlag aus den sozialdemokratischen 70er Jahren, „gefährliche Klassen“ und „soziale Sprengsätze“ durch soziale Reformen zu „bekämpfen“ ist zwar noch verbreitet, wird aber zunehmend von der Phantasie begleitet, das „Abrutschen“ potentieller Delinquenten sei zu vermeiden, wenn sie nur in einer „festen Ordnung“ aufwüchsen.

„Harte Strafen kontra ‚weiche Welle‘. Der Unmut über den Umgang mit jungen Kriminellen wächst. Streit um Konzepte“, lautet der Titel der ersten Folge der zitierten Serie der Frankfurter Rundschau. Die Rehabilitation der Jugendstrafe wurde mit der Debatte über „rechte Jugendgewalt“ eingeleitet. Getroffen hat das Klima der Punitivität zuerst „Ausländer“. Junge Leute ohne deutschen Paß bevölkern die Jugendgefängnisse. Sie wurden konsequenter zu „Insassen“ gemacht als zu „Integrierten“. Insbesondere in der Verbindung mit der Diskussion um „junge Intensiv- und Mehrfachtäter“, um die Folk-Devils namens „Mehmet“, „Jens“ oder „Christian“, die von der Polizei besonders befördert wurde, wurde eine Menge an ideologischer Arbeit geleistet, das Einsperren und Strafen zu legitimieren. Liberale Bürger und Soziale-Probleme-Professionen legen zunehmend ihre Zweifel am Sinn der Strafe ab. Man kann das „schlechte Gewissen“ (oder auch Reste der Aufklärung) jedoch an den Überhöhungen sehen, mit denen das neue Projekt der Grenzziehung gegen Delinquente versehen wird.

Auf den Punkt gebracht hat dies gerade die „Zeit“. „Gefährlich und gefährdet: Die Jugendgewalt nimmt zu: Kriminelle Kinder brauchen eine feste Ordnung.“[11] Das Mitleid ist den jungen Leuten, die aus einem „entsetzlichen Zuhause“ kommen, noch gewiß, auch daß man „Armut, Unwissenheit und Gewalttätigkeit“ in „schwierigen, eher subproletarischen als ‚proletarischen‘ Verhältnissen“ bekämpfen müsse. Doch sie sind eben nicht nur „Opfer“. Sie sind „fremduntergebracht“, weil „sie schlagen, stehlen, vergewaltigen, Drogen nehmen und Drogen verkaufen, weil sie, unerreichbar, in einer eigenen regellosen Welt leben. Merkwürdig unbeteiligt sind sie, starr, wenig beeindruckt von niedlichen Zwergziegen und Ponys. Es sind, offen gesagt, nicht immer besonders nette Kinder. Niemand würde sich die härteren Fälle als Schulkameraden des eigenen Sohnes, der eigenen Tochter wünschen.“ Wenn das Mitleid relativiert ist, kann die Frage „Was tun?“ gestellt und beantwortet werden:

„Es ist ein Kraftakt, Regeln Tag für Tag durchzusetzen. Die Frage, was jugendlichen Straftätern genützt hat, bleibt auch im Rückblick ungeklärt, denn der Datenschutz verbietet systematische Erhebungen über den weiteren Lebensweg der Zöglinge. (…) Niemand weiß, ob die Einzelbetreuung im Ergebnis mehr brächte als die Einzelzelle. Also muß man sich für die Praxis mit Mutmaßungen und Plausibilität behelfen. Einiges spricht dafür, daß desorientierte Jugendliche enggeführte Betreuung brauchen, einen klar strukturierten Tag, Pflichten und Aufgaben, deren Erfüllung ihr Selbstwertgefühl stärkt; Regeln, deren Verletzung unweigerlich Konsequenzen nach sich zieht und verläßliche Beziehungen.“

Die Zeit-Autorin beschreibt die Verhältnisse einer totalen Institution, der Erziehungsanstalt – das Modell für die Jugendstrafe. Da hin sollen die Jugendlichen der „eher subproletarischen“ Herkunft, die man sich nicht als Schulkamerad des eigenen Kindes wünscht. Weil sie aber weiß und schreibt, daß „Erziehungsgefängnisse“ nichts genützt haben, beschwört sie den bildungsbürgerlichen Mythos von „pädagogischen Persönlichkeiten“, mit „Berufung“, „Charakter“, „Vorbild“.

Der Weg „jenseits von Liberalisierung und Pädagogik vom Delinquenten aus, ist vielleicht der charismatische Erzieher.“ Was die Autorin vergessen hat: „Charisma“ ist eine subtile Form von Herrschaft. Und um Herrschaft, um „Klassenpolitik“, geht es bei der Zivilisierung des Teils der Jugend, der als Arbeits- und als Konsumkraft überflüssig ist. Wie Phantasien vom „charismatischen Erzieher“ oder auch vom Kumpel-Polizist mit „Feeling für Kids und Teenies“ von den gefährlichen Kindern und Jugendlichen erfahren werden? Einiges spricht dafür, daß sich wiederholen wird, was Stanley Cohen am Ende seines Buches über die Mods, die Rocker und die Moral-Paniken der 60er Jahre feststellte:

„Es werden mehr Moral-Paniken erzeugt werden und unsere Gesellschaft, so wie sie gegenwärtig strukturiert ist, wird weiterhin für einige ihrer Mitglieder – wie die Jugendlichen der Arbeiterklasse – Probleme erzeugen und wird verdammen, was immer diese Gruppen an Bearbeitungsstrategien für diese Probleme finden werden.“[12]

Helga Cremer-Schäfer ist Professorin mit Schwerpunkt Sozialpädagogik und Jugendforschung am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Frankfurt.
[1] Süddeutsche Zeitung v. 7.7.1998
[2] vgl. detaillierter Cremer-Schäfer, H.; Steinert, H.: Straflust und Repression. Zur Kritik der populistischen Kriminologie, Münster 1998
[3] Süddeutsche Zeitung v. 26.5.1999
[4] „Jugendkriminalität“, Sonderdruck der Frankfurter Rundschau, 1999. Die einzelnen Teile der Serie erschienen im Mai 1999, hier: 5. Serienfolge.
[5] Der Spiegel, Nr. 9, 1993
[6] Pfeiffer, Ch.; Brettfeld, K.; Delzer I.: Kriminalität in Niedersachsen. KFN Forschungsberichte Nr. 56, Hannover 1996, S. 58
[7] ebd., S. 59, 60
[8] Jugendkriminalität, Sonderdruck a.a.O. (Fn. 4)
[9] ebd.
[10] Frankfurter Rundschau, Lokalrundschau Main-Kinzig-Kreis v. 31.1.1998
[11] Die Zeit, Nr. 27 v. 1.7.1999
[12] Cohen, St.: Folk Devils and Moral Panics. The Creation of the Mods and Rockers, Oxford 1987