Aktuelles Polizeirecht – Wie schlecht steht es um die Bürgerrechte?

von Fredrik Roggan

Die CDU schaffe mit ihrem Entwurf für ein neues saarländisches Polizeigesetz einen „repressiven Obrigkeitsstaat“, so schimpfte jüngst der SPD-Landtagsabgeordnete Reinhold Jost. Er warnte davor, den Rechtsstaat in eine „autoritäre Instanz“ zu verwandeln.[1] Allerdings: was die CDU im Saarland legalisieren will, ist in anderen SPD-regierten Bundesländern längst geltendes Recht geworden, ohne dass SozialdemokratInnen dagegen protestiert hätten.

Das Polizeirecht ist in den letzten Monaten wieder einmal Gegenstand reger gesetzgeberischer Aktivität. Nur wenige Bundesländer haben derzeit keine Reform ihres Polizeirechts vor sich oder soeben eine hinter sich gebracht. Die Videoüberwachung öffentlicher Plätze wurde im sächsischen Polizeigesetz (§ 38 II) schon verankert, in Brandenburg wird sie gerade diskutiert. Auch sonst haben diese beiden ostdeutschen Bundesländer ihren Landespolizeien weitgehende Befugnisse eingeräumt. Mit seinem Polizeigesetz von 1983 hinkt Bremen weit hinterher, wird aber voraussichtlich noch dieses Jahr mit „einem Schlag“ nahezu alle Ermächtigungen für die Polizei legalisieren, die in anderen Bundesländern z.T. schon seit Jahren gelten: die verschiedenen Befugnisse zur verdeckten Datenerhebung durch technische Mittel, Verdeckte ErmittlerInnen, V-Personen und große Lauschangriffe ebenso wie die (in Bayern schon seit 1994 geltende) Schleierfahndung, das Aufenthaltsverbot (sog. erweiterter oder qualifizierter Platzverweis) und natürlich die inzwischen unvermeidliche Videoüberwachung öffentlicher Plätze.[2]

Auch Hessen reformierte im Mai 2000 sein Polizeigesetz, verlängerte die Frist für den Polizeigewahrsam auf sechs Tage und führte Schleierfahndung und Videoüberwachung ein.[3] Die Einführung von Videoüberwachung, Schleierfahndung und Aufenthaltsverboten in das Polizeigesetz von Sachsen-Anhalt im Juni führte dort zu einer Belastungsprobe für das „Magdeburger Modell“. Die PDS, die die SPD-Minderheitenregierung toleriert, wollte die Befugniserweiterungen nicht mittragen. Die SPD verschaffte sich die parlamentarische Mehrheit bei der CDU.[4]

Eine Welle von Polizeirechts-Novellen schwappt über das Land. Hier sollen nur diejenigen Befugnisse einer kritischen Betrachtung unterzogen werden, die in der jüngeren Vergangenheit die rechtspolitische Diskussion in besonderem Maße bestimmt haben: Schleierfahndung, große Lauschangriffe und Videoüberwachung.[5] In diesem Zusammenhang ist auch auf ausgewählte Entscheidungen von Landesverfassungsgerichten einzugehen, die die länderspezifischen Polizeibefugnisse zum Teil einschränkten und deshalb ihrerseits zu Polizeirechts-Reformen führten.

Die Schleierfahndungen auf dem Vormarsch …

Die Schleierfahndung fehlt in keinem der neuen Polizeigesetze. Problematisch an dieser erstmals in Bayern 1994 eingeführten Befugnis ist insbesondere, dass sie die polizeilichen Eingriffe an einen Scheintatbestand knüpft. Voraussetzung für die Zulässigkeit der Identitätsfeststellung ist nur, dass sich die zu kontrollierende Person an einem bestimmten Ort aufhält[6] und die Kontrolle dem polizeilichen Motiv folgt, grenzüberschreitende Kriminalität bekämpfen zu wollen.[7] Eine solche Ermächtigung, die weder von einem tatsächlich gefährlichen Tun der Kontrollierten noch von der Existenz eines gefährlichen Ortes abhängt, ist dem traditionellen Polizeirecht fremd gewesen. Es kann kaum verwundern, dass eine solche Befugnis auf breite Zustimmung aus den Reihen der Polizei stößt. Fraglos handelt es sich um eine sehr flexible und für PolizistInnen leicht anwendbare Vorschrift, die allerdings von rechtsstaatlichen Beschränkungen „befreit“ ist.
Darüber hinaus stellt die Schleierfahndung eigentlich eine Befugnis mit strafverfolgender Zielrichtung dar und hat als solche in Polizeigesetzen nichts zu suchen. Schon die Bezeichnung Schleierfahndung[8] verrät, dass nach RechtsbrecherInnen gefahndet wird. Die Existenz von schon begangenem Unrecht wird also vorausgesetzt. Staatliche Eingriffe mit repressiver Zielrichtung sind aber exklusiv der Strafprozessordnung vorbehalten. Schon das Bundesverfassungsgericht betonte in einer frühen Entscheidung, dass die Gesetzgebungskompetenz der Landesgesetzgeber nur dort vorhanden sei, wo die zu regelnde Materie dem Polizeirecht im engeren Sinne zuzurechnen sei, also nur dort, wo der alleinige und unmittelbare Gesetzeszweck in der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit liegt.[9] In einer Ermächtigung, in der u.a. (anfangs-)verdachtslos nach StraftäterInnen gesucht wird, liegt also nicht zuletzt ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der genannten (kompetenzrechtlichen) Art.[10]

Prekär ist die Schleierfahndung aber nicht nur unter im engeren Sinne juristischen Gesichtspunkten, sondern vor allem wegen der damit verbundenen Praxis, insbesondere wegen des von dieser Maßnahme betroffenen Personenkreises. Von den Personengruppen, die üblicherweise einer gesteigerten polizeilichen Kontrollpraxis ausgesetzt sind,[11] ist dabei eine besonders betroffen, nämlich Menschen „nicht-deutschen“ Aussehens.[12] Eine Befugnis, die das Ziel hat, grenzüberschreitende Kriminalität[13] (synonym für „Kriminalität mit internationalem Bezug“[14]) zu bekämpfen – so Herrnkinds Vorwurf -, besitzt die Tendenz zu einer rassistischen Auswahl der Kontrollierten. Das liegt nicht nur am gesetzlich vorgesehenen Motiv der Kontrollen, sondern auch daran, dass eine beachtliche Anzahl von PolizistInnen verfestigte ausländerfeindliche Einstellungen hat.[15] Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die Schleierfahndung als Facette eines institutionalisierten Rassismus.[16]

Spektakuläre Entscheidung von überregionaler Bedeutung

Eine Grundsatzentscheidung zur Schleierfahndung kam im vergangenen Oktober aus Greifswald: Das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern erklärte große Teile der im Landespolizeigesetz enthaltenen Regelung für verfassungswidrig. Schleierfahndungen außerhalb des Grenzstreifens von 30 Kilometern – so das Gericht kategorisch – schränkten das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung[17] unverhältnismäßig ein und seien daher nichtig. Die BürgerInnen dürften dort nicht jederzeit befürchten müssen, von der Polizei kontrolliert zu werden, ohne dass sie irgendeinen Verdacht gegen sich gelten lassen müssten. Gerade darin liegt aber der Kern der Schleierfahndungen, denn tatbestandliche Voraussetzungen, so wie sie bisher als Eingriffsschwelle galten, kennen diese Vorschriften nicht. In einer solchen Befugnis – so werteten die Greifswalder RichterInnen – liege ein Verstoß gegen das Recht eines jeden zu eigenem selbstbestimmtem Verhalten, das die beliebige (tatbestandslose) Vereinnahmung zu staatlicher Zweckverfolgung ausschließt.

Auch innerhalb eines Grenzstreifens von 30 km seien Schleierfahndungen nur sehr eingeschränkt mit Verfassungsgrundsätzen vereinbar. So dürften sie nicht zur Bekämpfung von jedweder grenzüberschreitenden Kriminalität eingesetzt werden. Denn dann könnte die Befugnis auch dort zu einem Einfallstor für polizeiliche Allmacht werden. Das Gericht fordert daher, einen abschließenden Katalog in das Gesetz aufzunehmen, aus dem sich der Ausnahmecharakter dieser Personenkontrollen ergibt. Dieser Katalog dürfe nur besonders gewichtige Straftaten enthalten, zu denen insbesondere die organisierte grenzüberschreitende Kriminalität zähle. Diese müssten sich in Lagebildern widerspiegeln, z.B. in Erkenntnissen über Örtlichkeiten oder Wege, die von der grenzüberschreitenden Kriminalität bevorzugt genutzt werden.[18]

Ferner beschränkt das Gericht auch die sog. Folgeeingriffe von Schleierfahndungen – u.a. die sog. Sistierung, also das Festhalten und Verbringen einer Person auf eine Polizeiwache zum Zwecke der Identitätsfeststellung per erkennungsdienstlicher Behandlung. Für alle Eingriffe, die über die eigentliche Personenkontrolle, also das Anhalten und die Aufforderung sich auszuweisen, hinausgingen, müssten die Eingriffsvoraussetzungen angehoben werden. Hinsichtlich der kontrollierten Personen müssten Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie etwas mit organisierter grenzüberschreitender Kriminalität zu tun haben könnten.

Angesichts der bislang in den verschiedenen Bundesländern geltenden Regelungen kann es nicht überraschen, dass diesen Urteilsgründen eine Bedeutung über das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern hinaus zugeschrieben wird. Im polizeirechtlichen Schrifttum ist die Entscheidung denn auch mit überwiegender Zustimmung aufgenommen worden.[19] Insbesondere sei damit ausgesprochen, dass es keine allgemeine Mitwirkungspflicht von jedermann an der staatlichen Aufgabe namens Sicherheit gibt. Die Individuen brauchen also ihren Anspruch, von der Staatsgewalt in Ruhe gelassen zu werden, solange kein Verdacht gegen sie besteht, nicht aufzugeben.[20] Zwar kann es auch nach der Entscheidung noch jedem Menschen innerhalb des Grenzstreifens passieren, von der Polizei verdachtslos kontrolliert zu werden; allerdings muss die Polizei dann begründen können, weshalb sie gerade an diesem Ort Maßnahmen der Schleierfahndung durchführt.

Es bleibt zu hoffen, dass sich in anderen Bundesländern ähnlich mutige RichterInnen finden. Dennoch ist das Urteil widersprüchlich, weil es seine eigenen polizeirechts-dogmatischen Forderungen nur an die Schleierfahndungen außerhalb des Grenzstreifens konsequent anlegt. Im Recht der Gefahrenabwehr, so betonte das Gericht, dürfe die Unterscheidung zwischen StörerInnen und Nicht-StörerInnen nicht nivelliert werden. Eine polizeirechtliche Befugnis, die nicht an eine Gefahrensituation und das Verhalten von Individuen anknüpft, bringt es unvermeidbar mit sich, dass dieser Grundsatz verletzt wird. Denn schließlich erspart es eine solche Ermächtigung der Polizei, eine Maßnahme auf die für eine Gefahr Verantwortlichen, die StörerInnen, zu begrenzen, und erlaubt es stattdessen, jedermann für polizeiliche Zwecke in Anspruch zu nehmen. Während das Gericht die Schleierfahndung außerhalb des 30 km-Kordons klar verwirft, hält es dieselbe Maßnahme innerhalb des Grenzstreifens aber grundsätzlich für verfassungsgemäß. Wie es diesen Widerspruch zu seinem selbst proklamierten – und zweifelsfrei unter grundrechtsschützenden Gesichtspunkten unverzichtbaren – Grundsatz lösen will, bleibt sein Geheimnis.[21]

Große Lauschangriffe auf dem Prüfstand

Eine weitere Befugnis der Polizei, die in den vergangenen Jahren zu stets wiederkehrenden Kontroversen und scharfen Angriffen von bürgerrechtlicher Seite führte, ist der große Lauschangriff in den Polizeigesetzen. Er unterscheidet sich von seinem 1998 eingeführten repressiven Pendant in der Strafprozessordnung[22] dadurch, dass er gefahrenabwehrend eingesetzt werden darf.

In den jeweiligen Landespolizeigesetzen ist zwischen großen Lauschangriffen, die unmittelbar gefahrabwehrenden Charakter besitzen und solchen, die der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung dienen, zu unterscheiden. Letztere Befugnis ist nicht in allen Polizeigesetzen enthalten.[23] Sie bedeutet im Kern, dass die Polizei auch außerhalb von konkreten Gefahrenlagen, bei denen z.B. Leib oder Leben eines Menschen in Gefahr ist, verdeckt personenbezogene Daten aus Wohnungen erheben darf. Erforderlich ist nur, dass die Polizei die Prognose begründet, dass eine Person in Zukunft gesetzlich bestimmte Delikte begehen werde. Diese Delikte müssen nach den jeweiligen Vorschriften in irgendeiner Weise „organisiert“ begangen werden. Mit solchen Ermächtigungen wurden die großen Lauschangriffe auch im Vorfeld von Straftaten legalisiert, denn diese ihrerseits brauchten noch nicht einmal das Versuchsstadium erreicht zu haben. „Tatsächliche Anhaltspunkte“, bloße Mutmaßungen also über eine mögliche zukünftige Begehung von Straftaten reichen aus, um polizeiliche Überwachungsmaßnahmen auszulösen.[24]

Auch zu diesen Befugnissen haben sich Landesverfassungsgerichte bereits geäußert. Als erstes erklärte der sächsische Verfassungsgerichtshof gewichtige Teile der Regelung im Landespolizeigesetz für verfassungswidrig.[25] Unlängst befassten sich zwei weitere Gerichte mit diesem Thema – allerdings mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen: Das Brandenburgische Verfassungsgericht erklärte neben anderen Vorschriften zur verdeckten Datenerhebung auch den großen Lauschangriff zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung für verfassungsgemäß.[26] Es prüfte u.a. die Frage, ob die Regelung einen Verstoß gegen den neuen Art. 13 GG darstellt, dessen Absatz 4 Lauschangriffe und damit Eingriffe in die Unverletzlichkeit der Wohnung bei dringenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit zulässt. Antwort: „Wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass bestimmte schwere Straftaten organisiert begangen werden sollen und die vorbeugende Bekämpfung dieser Straftaten sonst aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre, liegt bereits eine dringende Gefahr für die öffentliche Sicherheit vor.“

Das Kontrastprogramm hierzu stammt wiederum aus Mecklenburg-Vorpommern. Das dortige Landesverfassungsgericht erklärte den großen Lauschangriff zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung für verfassungswidrig[27] und das mit der entgegengesetzten Begründung. Der Begriff der „Abwehr dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit“ habe im Grundgesetz einen wesentlich engeren Inhalt als im allgemeinen Polizeirecht. Die Schutzgüter, die durch große Lauschangriffe verteidigt werden dürften, würden entscheidend dadurch beschränkt, dass die Maßnahme nur zur „Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr“ zugelassen werden darf.[28] Mit anderen Worten: Nur Gefahren für existentielle Rechtsgüter, die in der Wertigkeit den im Grundgesetz gemeinten gleichkommen (insbesondere Leib und Leben), dürfen mittels des massiven Grundrechtseingriffs abgewehrt werden. Dagegen sind die großen Lauschangriffe verfassungswidrig, sofern sie nur der vorbeugenden Bekämpfung der sog. organisierten Kriminalität dienen sollten.

Polizeiliche Videoüberwachung als Standardmaßnahme

Schon die bisherige Praxis der Videoüberwachung und die entsprechenden Ermächtigungen in den Polizeigesetzen sind für Datenschutz und Freiheitsrechte fatal. Für die von den SicherheitspolitikerInnen fortwährend geforderten Erweiterungen gilt dies erst recht.
In jedem Fall stellt eine Videoüberwachung, selbst wenn sie offen durchgeführt wird, einen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung dar. Zwar wird von Seiten der Polizei argumentiert, dass sie dem Charakter von Streifenfahrten oder auch der sonstigen Anwesenheit von OrdnungshüterInnen entspräche. Daher lägen keine Eingriffe in die Rechte der auf einer Übersichtsaufnahme Erfassten vor. Dem ist aber entgegenzuhalten, dass das Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil nicht zufällig die Formulierung verwendete, dass die BürgerInnen wissen müssten, „wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß“.[29] Das Gericht erhob damit das, was betroffene BürgerInnen denken, zum Kriterium dafür, ob ein Eingriff vorliegt oder eben nicht. Es kann demnach nicht darauf ankommen, ob eine wahrgenommene Kamera sie tatsächlich aufnimmt, welche Bauart diese besitzt (ob also z.B. Übersichtsaufnahmen später ohne weiteres zur Identifizierung von Individuen genutzt werden können) oder ob sie bereits in Großaufnahme auf einem Monitor zu erkennen sind. Die bloße Kenntnis von der Möglichkeit des individuellen „Registriert-Werdens“ reicht, um einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung anzunehmen. Das Bundesverfassungsgericht fordert für solche Eingriffe gesetzliche Grundlagen, aus der sich die Voraussetzungen und der Umfang der Grundrechtsbeschränkungen deutlich und für die BürgerInnen erkennbar ergeben und die damit dem Gebot der Normenklarheit entsprechen.[30] Mit dieser Schaffung von Rechtsgrundlagen in den Polizeigesetzen sind die Länderparlamente soeben beschäftigt.

Zwar unterscheiden sich die Ermächtigungen zur Videografierung von öffentlichen Plätzen auch hier, jedoch kann die gegenwärtig in Bremen geplante Vorschrift durchaus als beispielhaft verstanden werden. Sie lautet schlicht: „Öffentlich zugängliche Orte, an denen vermehrt Straftaten begangen werden oder bei denen aufgrund der örtlichen Verhältnisse die Begehung von Straftaten besonders zu erwarten ist, dürfen mittels Bildübertragung durch den Polizeivollzugsdienst offen und erkennbar beobachtet werden …“ (§ 29 IV BremPolG-Entwurf). Bei solchen Vorschriften fällt – wie bei denen der Schleierfahndung – wiederum auf, dass in den Personen, die tatsächlich von den Kameras erfasst werden, keine Gründe für die oben beschriebenen Eingriffe vorliegen müssen. Es reichen vielmehr allgemeine polizeiliche Erfahrungen, um die „tatbestandlichen Voraussetzungen“ zu erfüllen. Denn ob ein Ort die in den Vorschriften genannten Merkmale erfüllt oder nicht, obliegt der polizeilichen Definitionsmacht. Wenn man die Ermächtigung also derart liest, so enthält sie eigentlich nur ein Verbot unsinniger Videoüberwachungen an „sicheren Orten“. An allen anderen Stellen könnte die visuelle Kontrolle von jedermann bald zum Alltag gehören.

An den solchermaßen ausgewählten Orten oder Bereichen der Städte gibt es für die PassantInnen dann kein Entrinnen vor polizeilichen Eingriffen mehr. Die kritische Rechtswissenschaft wird die Frage zu beantworten haben, ob angesichts dieses verfassungsrechtlichen Befundes die heute diskutierten Kamera-Einsätze als Eingriffe gegenüber jedermann nicht wiederum das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung verletzen und damit verfassungswidrig sind. Denn auch diese Vorschriften sind konstruktiv tatbestandslos.

Aber Videoüberwachungen sind nicht nur juristisch bedenklich, sie werfen auch allgemeine kriminalpolitische Fragen auf, die nicht weniger bemerkenswert sind: Schon seit längerem warnen DatenschützerInnen davor, dass die heutigen Kameras nur der Anfang eines flächendeckenden Einsatzes von entsprechender Überwachungstechnik sein könnten.[31] Eine solche Befürchtung ist keineswegs aus der Luft gegriffen. Die Überwachung erzeugt einen Verdrängungseffekt, der bereits am Beispiel Leipzig, wo erstmals der gesamte Bahnhofsvorplatz mit Kameras überwacht wurde, beobachtet werden kann. Diejenigen, die tatsächlich Straftaten begehen oder das vorhaben, ziehen sich an Orte zurück, wo noch keine Kameras installiert sind. Folgt man der polizeilichen Logik, müssten auch an diesen neuen „hot spots“ Kameras postiert werden. Geht man tatsächlich davon aus, dass Videotechnik die Innenstädte oder andere Bereiche sicherer mache, so ist der flächendeckende Einsatz der visuellen Überwachung nur konsequent.

Das (schlechte) Beispiel Großbritannien verdeutlicht, wohin der nun auch in Deutschland eingeschlagene Weg führt. Schon schwärmen deutsche Polizeistrategen, dass dort „die Bewohner von immer mehr Städten … davon ausgehen bzw. damit rechnen (müssen), im Blickpunkt einer Videokamera zu stehen, d.h. aufgenommen zu werden.“[32]

Gerichtliche Schranken gegen unbegrenzte Befugnisse?

Obwohl die in diesem Beitrag wiedergegebenen verfassungsgerichtlichen Entscheidungen aus Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen denjenigen Mut machen, denen an der Verteidigung von Freiheitsrechten gelegen ist, besteht noch lange kein Grund zur Euphorie. Schon das Urteil des Brandenburgischen Landesverfassungsgerichts verdeutlicht, dass auf verfassungsrechtliche Kontrollen keine überzogenen Hoffnungen gestützt werden können. Auch das Bundesverfassungsgericht fällte in diesem Jahr ein Urteil, das eine Befugnis gegen jedermann (hier: die strategische Kontrolle des Fernmeldeverkehrs mit dem Ausland durch den Bundesnachrichtendienst) für verfassungsgemäß hielt.[33] Auf die rechtsprechende Gewalt ist allenfalls punktuell zu zählen. Dennoch: Die skizzierten Urteile aus Mecklenburg-Vorpommern geben den KritikerInnen der neuen Ermächtigungen gewichtige Argumente für die öffentliche Diskussion an die Hand.

Insgesamt besteht aber wenig Anlass zur Entwarnung. Die Gesetzgeber in Bund und Ländern scheinen bestrebt zu sein, den Paradigmenwechsel von der Freiheit zur Sicherheit weiter voran zu treiben. Datenschutzrechtliche Positionen haben es schwer, wenn breite Teile der Bevölkerung den Forderungen nach immer mehr Überwachung zustimmen oder zumindest nichts dagegen tun.

Im schlimmsten Fall wird der Vorwurf erhoben: „Datenschutz ist Tatenschutz.“ Natürlich steht der Datenschutz einer effektiven Kriminalitätsbekämpfung tendenziell im Wege. Allerdings: Nur ein Datenschutz, der den unbegrenzten Zugriff auf die Daten der Rechtsunterworfenen – zu jenen zählen übrigens auch „Kriminelle“ – eben nicht schrankenlos freigibt, ist in guter Gesellschaft mit anderen machtbegrenzenden Vorschriften, die sich (noch?) in der Verfassung finden. Schließlich sind „Behinderungen“ der polizeilichen Arbeit dem Rechtsstaat immanent, ja sogar in einem gewissen Sinn sein eigentlicher Zweck.[34]

Fredrik Roggan ist Referendar in Bremen und Autor des Buches „Auf legalem Weg in einen Polizeistaat“, Bonn 2000 (Pahl-Rugenstein).
[1] Berliner Zeitung v. 1.2.2000
[2] Die Polizei 2000, H. 9, S. 249
[3] vgl. zu den Änderungen aus polizeilicher Sicht Corts, U.: Anforderungen an die Polizeiorganisation im neuen Jahrhundert unter Berücksichtigung begrenzter Ressourcen am Beispiel des Landes Hessen, in: Die Polizei 2000, H. 7-8, S. 199-211 (200 ff.)
[4] vgl. dazu Hüttemann, F.: Länderreport Sachsen-Anhalt, in: Landes- und Kommunalverwaltung 2000, H. 10, S. 437-439 (438)
[5] zusammenfassend und mit weiteren Nachweisen Kutscha, M.: Große Koalition der Inneren Sicherheit?, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 59 (1/1998), S. 57-69
[6] Nach Art. 13 I Nr. 5 Bayerischen Polizeiaufgabengesetz (BayPAG) sind Identitätsfeststellungen in einem Grenzstreifen von 30 km sowie auf Durchgangsstraßen und Einrichtungen des internationalen Verkehrs möglich. § 12 VI des niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes (NGefAG) erlaubt Schleierfahndungen im gesamten öffentlichen Verkehrsraum des Landesgebiets.
[7] vgl. stellvertretend für die Kritik Waechter, K.: Die „Schleierfahndung“ als Instrument der indirekten Verhaltenssteuerung durch Abschreckung und Verunsicherung, in: Die öffentliche Verwaltung 1999, H. 4, S. 138-147; Lisken, H.: „Verdachts- und ereignisunabhängige Personenkontrollen zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität“?, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1998, H. 1, S. 22-26 („tatbestandlich grenzenlos“, S. 23); Feltes, Th.: Verdachtslose Rasterfahndung und verdachtslose polizeiliche Ermittlungsmaßnahmen – wirksame Sondermaßnahmen gegen internationale Kriminalität?, in: Huppertz, M.; Theobald, V. (Hg.): Kriminalitätsimport, Berlin 1998, S. 59-93; zusammenfassend Roggan, F.: Auf legalem Weg in einen Polizeistaat, Bonn 2000, S. 105-127
[8] Der Begriff geht auf eine Forderung des ehemaligen Innenministers Kanther zurück, der angesichts des Abbaus der Grenzkontrollen in der EU die Bundesländer bat, zur wirksamen Bekämpfung insbesondere der international organisierten, grenzüberschreitenden Kriminalität ihre Polizeigesetze in Anlehnung an die bayerische Regelung zu ergänzen und einen Sicherheitsschleier aufzubauen, vgl. dazu Moser v. Filseck, D.: Baden-Württemberg novellierte das Polizeigesetz, in: Die Polizei 1997, H. 3, S. 70-74 (70).
[9] Bundesverfassungsgericht: Entscheidungen (BVerfGE), Bd. 8, S. 143 ff. (150)
[10] ausführlich Roggan a.a.O. (Fn. 7), S. 110-112
[11] Waechter a.a.O. (Fn. 7), S. 141
[12] Herrnkind, M.: Personenkontrollen und Schleierfahndung, in: Kritische Justiz 2000, H. 2, S. 188-208; Kant, M.: Verdachtsunabhängige Kontrollen. MigrantInnen im Netz der Schleierfahndung, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 65 (1/2000), S. 29-35
[13] so das „Tatbestandsmerkmal“ in den meisten Vorschriften über die Schleierfahndung
[14] so die niedersächsische Variante (§ 12 VI NGefAG)
[15] vgl. u.a. die Untersuchung von Mletzko, M.; Weins, C.: Polizei und Fremdenfeindlichkeit, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1999, H. 2, S. 77-93
[16] so das Fazit von Herrnkind a.a.O. (Fn. 12), S. 205
[17] BVerfGE 65, 1 (41 ff.)
[18] vgl. etwa Berg, G.; Knape, M.; Kiworr, U.: Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht für Berlin, Hilden/Rhld. 2000, S. 229
[19] Kutscha, M.: Polizeirecht auf dem Prüfstand der Landesverfassungsgerichte, in: Neue Justiz 2000, H. 2, S. 63-66 (65f.); Lisken, H.: Das Ende der „Schleierfahndung“ in Mecklenburg-Vorpommern, in: Deutsche Richterzeitung, 2000, H. 7, S. 272-276; Roggan, F.: Verfassungswidrige Schleierfahndungen, in: Zeitschrift für öffentliches Recht in Norddeutschland 2000, H. 3, S. 99-101; vorsichtiger Engelken, K.: Anmerkung zum Urteil des LVerfG M-V, in: Deutsches Verwaltungsblatt 2000, H. 4, S. 269-272; ferner Waechter, K.: Der dogmatische Status von Zurechnungsgründen im Gefahrenabwehrrecht, in: Landes- und Kommunalverwaltung 2000, S. 388f.
[20] Lisken, H.: Jedermann als Betroffener, in: Bäumler, H. (Hg.): Polizei und Datenschutz, Neuwied 1999, S. 32-42 (42)
[21] Roggan a.a.O. (Fn. 19), S. 101
[22] zur Kritik des § 100 c I Nr. 3 StPO Roggan a.a.O. (Fn. 7), S. 84-105
[23] Die Befugnis zum großen Lauschangriff zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung findet sich in den Gesetzen von Sachsen (§ 40 I Nr. 2 SächsPolG), Niedersachsen (§ 35 II Nr. 2 NGefAG), Rheinland-Pfalz (§ 25 b I Nr. 2 POG Rh-Pf), Mecklenburg-Vorpommern (§ 33 IV Nr. 2 SOG M-V), Brandenburg (§ 33 III Nr. 2 BdbPolG) und Bayern (§ 34 I Nr. 2 BayPAG); vgl. dazu im Einzelnen Kutscha, M.; Möritz, M.: Lauschangriffe zur vorbeugenden Straftatenbekämpfung?, in: Strafverteidiger 1998, H. 10, S. 564-568.
[24] Rachor, F.: Polizeihandeln, in: Lisken, H.; Denninger, E. (Hg.): Handbuch des Polizeirechts, München 1996, S. 225-441 (270)
[25] Sächsischer Verfassungsgerichtshof, Juristenzeitung 1996, H. 20, S. 957-969 (967f.); vgl. Götz, V.: Anmerkung, in: Juristenzeitung 1996, H. 20, S. 969-971; Bäumler, H.: Verfassungsrechtliche Prüfung des sächsischen Polizeigesetzes, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1996, H. 8, S. 765-767; Paeffgen, H.-U.: Polizeirecht und Grundrechtsschutz, in: Neue Justiz 1996, H. 9, S. 454-462; Roggan, F.: Verfassungswidrige Befugniserweiterungen für die Polizei, in: Kritische Justiz 1997, H. 1, S. 80-93
[26] Verfassungsgericht Brandenburg bei Kutscha a.a.O. (Fn. 19), S. 63-65
[27] Landes- und Kommunalverwaltung 2000, H. 8, S. 345-357
[28] Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern mit zustimmender Kommentierung von Kutscha, M., in: Neue Justiz 2000, H. 9, S. 480-482
[29] BVerfGE 65, 1 (41 ff.)
[30] BVerfGE 65, 1 (44)
[31] stellvertretend für viele der Berliner Beauftragte für Datenschutz und Akteneinsicht, Jahresbericht 1999, Berlin 2000, S. 31-36
[32] Keller, Ch.: Video-Überwachung: Ein Mittel zur Kriminalprävention, in: Kriminalistik 2000, H. 3, S. 187-191 (190)
[33] BVerfG, Neue Juristische Wochenschrift 2000, H. 1, S. 55-68
[34] sehr lesenswert Bäumler, H.: Polizei und Datenschutz, in: Ders. (Hg.): Polizei und Datenschutz, Neuwied 1999, S. 1-12 (insbes. S. 3)

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