Bundeswehr im Innern – Die Union rüstet erneut zum Kampf

von Stefan Gose

Die Ruinen des World Trade Centers loderten noch, da rüsteten Konservative bereits zum militärischen Kampf im eigenen Lande. Diese Notstandsträume sind nicht neu.

13. September: Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) fordert Bundeswehrsoldaten zur Flughafensicherung und einen Nationalen Sicherheitsrat. 14. September: Der ehemalige Verteidigungsminister Rupert Scholz (CDU) wiederholt seinen langjährigen Wunsch, die Bundeswehr im Innern einzusetzen. 25. September: Berlins Innensenator Erhart Körting (SPD) wähnt den inneren Notstand und will Soldaten für den Objektschutz in der Hauptstadt. 4. Oktober: Christian Schmidt (CSU) wiederholt die Scholz-Forderung von 1997, die Bundeswehr solle nach dem Vorbild der US-Nationalgarde zu einer internen Eingreiftruppe umgestaltet werden. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel fordert ein „Bundessicherheitsamt“ unter Beteiligung von Bundeswehr, Polizei und Geheimdiensten. 9. Oktober: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion formuliert einen Antrag zur Grundgesetzänderung, der „in besonderen Gefährdungslagen“ den zivilen Objektschutz durch Soldaten vorsieht. Wolfgang Bosbach, stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion, nennt als solche Objekte: Chemiewerke, Atomanlagen, Trinkwasser-Talsperren oder Tankstellen.[1]

Die politischen Reaktionen auf diese fast ausschließlich aus den Reihen der CDU/CSU kommenden Initiativen waren strikt ablehnend bei Grünen, FDP und PDS, die Ablehnung der SPD kam eher verhalten daher. Verteidigungsminister Rudolf Scharping erklärte: „Dafür gibt es jetzt überhaupt keinen Bedarf.“[2] Bundesinnenminister Otto Schily prophezeite allerdings, „dass sich die Grenzziehung zwischen polizeilichen und militärischen Mitteln verändern wird“ und relativierte: „Wir haben noch nicht die Situation erreicht, die unserer Notstandsgesetzgebung entspricht.“[3] Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei lehnte einen Einsatz der Bundeswehr ebenso ab wie Bernhard Gertz, der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes.

Déjà vu des Notstandsphantoms

Das Thema Bundeswehr im Inneren ist so alt wie der Streit über die ihm zu Grunde liegenden Notstandsgesetze von 1968. Schon zu Kanzler Kurt Kiesingers Zeiten forderten Unionsabgeordnete den Einsatz der Bundeswehr gegen Demonstranten und Streikende.[4] Doch das mochte die SPD nicht ins Grundgesetz schreiben. Mangels notwendiger 2/3-Mehrheiten wurde es still um das Thema. 1985 entdeckte der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble die Problematik erneut, als er sich überlegte, wie er den Bonner Weltwirtschaftsgipfel gegen mögliche Anschläge aus der Luft schützen könnte.

Mittlerweile hatte sich auf dem kleinen Dienstweg der „Amtshilfe“ eine begrenzte Zusammenarbeit zwischen Bundeswehr und anderen Sicherheitsorganen entwickelt. Bei Demonstrationen wie in Wackersdorf stellte die Bundeswehr Hubschrauber, Sanitätspanzer und Kasernenquartiere zur Verfügung. 1993 erhielt der Bundesgrenzschutz (BGS) von der Bundeswehr 34 Wärmebildgeräte zum Aufspüren illegaler GrenzgängerInnen. Wach wurde der Deutsche Bundestag erst im Oktober 1993: Abgeordnete im Haushaltsausschuss stolperten darüber, dass das Innenministerium 1994 zusätzlich 4,3 Mio. DM für den BGS erhalten sollte, um 465 Bundeswehrsoldaten im Grenzdienst zu besolden.[5]

Wolfgang Schäuble trat die Flucht nach vorne an: Nach der Klärung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr durch das Bundesverfassungsgericht hoffte er, den Inlandseinsatz gleich anschließend mit der SPD durchsetzen zu können. Einzelne Parteifreunde wie Bundesinnenminister Manfred Kanther, Kanzleramtsminister Friedrich Bohl, Fraktionsgeschäftsführer Jürgen Rüttgers und Fraktionsvize Johannes Gerster wagten sich aus der Deckung und forderten Bundeswehreinsätze nach Belieben für das gesamte traditionelle Polizei- und BGS-Aufgabenspektrum. Denn, so Schäuble: „Die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit sind jedenfalls nicht mehr so eindeutig zu definieren. Deshalb muss es möglich sein, auf die Bundeswehr als eine Art Sicherheitsreserve zurückzugreifen.“[6] Doch Schäuble und Kanther hatten den Gegenwind aus den Medien, der Opposition und selbst der eigenen Partei ebenso unterschätzt, wie sie den Bedarf der Hardthöhe an neuen Legitimationsaufgaben überschätzten. Die Kontroverse kam Kanzler Kohl im „Superwahljahr 1994“ ungelegen, so dass die Bundeswehr-Debatte vorerst erstickt wurde. Statt der Bundeswehr wurde zunächst der BGS aufgerüstet und mit neuen Kompetenzen im Inneren (landesweite Kontrollkompetenz, Bahnpolizeiaufgaben, Flugsicherheit) ausgestattet.

Vereinzelte „Nachzügler“ der Bundeswehr-Debatte wie Rupert Scholz oder der CDU-Wehrexperte Jürgen Augustinowitz, der im August 1996 Bundeswehrhubschrauber und Soldaten für die „Chaostage“ in Hannover der Polizei anbot,[7] hatten die Taktik möglicherweise nicht erfasst. Augustinowitz wollte Wehrpflichtige künftig auch bei der Polizei einsetzen und analysierte sicher nicht zufällig wortgleich mit Schäuble: „Im Zeitalter weltweiter Wanderungsbewegungen, grenzüberschreitender organisierter Kriminalität, expandierendem religiösem Fanatismus und internationalem Terrorismus verschwimmen die Grenzen zwischen den Bereichen der inneren sowie der äußeren Sicherheit.“[8]

Imagekampagne im Katastrophenschutz

Jenseits dieser öffentlichen Debatten, die zwar den Bodensatz der aktuellen Kontroverse liefern, aber in der Sache zu keinen Gesetzesänderungen führten, entwickelte sich seit Mitte der 90er Jahre auf dem kleinen Dienstweg eine zivil-militärische Kooperation der „Guten Dienste“, die wesentlich mehr zur Akzeptanz der Bundeswehr im Inneren beitrug, als der wahltaktische Schlagabtausch um die Bundeswehr im Inneren. Als im Januar/Februar 1995 Rhein, Main, Mosel, Nahe und Saar über die Ufer traten, wurden 6.300 Bundeswehrsoldaten zu Bergungsarbeiten eingesetzt.[9] Der Öffentlichkeit in Erinnerung blieben sechs „humanitäre“ Tornado-Kampfflugzeuge, die im Tiefflug angeblich notwendige Aufklärungsbilder schossen. Im Juli/August 1997 wurden im Oderbruch etwa 30.000 Bundeswehrsoldaten, davon ca. die Hälfte Wehrpflichtige, zur Eindämmung des Hochwassers eingesetzt. Die Soldaten wurden von den Medien als „Einsatzkräfte“, alle übrigen, darunter 7.000 MitarbeiterInnen des Technischen Hilfswerkes (THW) als „Helfer“ präsentiert.

Die Kosten des Einsatzes von Bundeswehr, THW und BGS (ca. 2.000 Kräfte) beliefen sich auf ca. 200 Mio. DM,[10] davon jedoch nur etwa 18 Mio. DM (und davon 60% alleine für Flugzeuge) für zusätzliche Hilfeleistungen der Bundeswehr.[11] Mit anderen Worten: Weil die Soldaten für ihren Einsatz ohnehin Sold erhalten, können sie sich als billige Katastrophenhelfer im Inneren empfehlen. Konsequent fortgedacht hat diese Militarisierung der Katastrophenhilfe der Bundesrechnungshof bereits Anfang der 90er Jahre, als er die Auflösung des THW forderte.[12] Seit letztem Jahr empfehlen sich Kampfjets der Bundeswehr mit Luftbildern auch bei der Suche nach verschollenen Kindern.

Seit Mitte der 90er Jahre sind Bundeswehrsoldaten dazu angehalten, verstärkt uniformiert in der Öffentlichkeit aufzutreten. Öffentliche Ordnungsaufgaben, zunächst bei militärischen Anlässen wie Gelöbnissen oder bei Staatsempfängen, werden mittlerweile nicht mehr ausschließlich vom Wachbataillon oder den Feldjägern, sondern auch von „einfachen Soldaten“ bei zivilen Volksfesten wahrgenommen.[13]

Der juristische Kern

Nur gegen erhebliche öffentliche Widerstände hatte die große Koalition am 30. Mai 1968 die „Notstandsgesetze“ verabschieden können. Denn die katastrophalen Erfahrungen mit Kompetenzüberschneidungen offizieller und paramilitärischer „Sicherheitsorgane“, von Reichswehr, Freikorps und Parteimilizen in der Weimarer Republik – von Wehrmacht, SA, SS, Sipo, Gestapo und Polizei im NS-Staat – sprachen für eine kontrollierbare Trennung der Exekutivorgane. Die Rechtslage hat sich seit 1968 nicht geändert. Für den „Inneren Notstand“ sind neben den „einfachen Notstandsgesetzen“[14] zwei Grundgesetzartikel maßgeblich.

„Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes“ kann ein Bundesland nach Art. 91 Abs. 1 GG Unterstützung durch andere Landespolizeien und den BGS anfordern. Wenn das Land nicht selbst zur „Bekämpfung der Gefahr bereit oder in der Lage ist“, kann die Bundesregierung gemäß Abs. 2 BGS-Einheiten entsenden und die Landespolizeien ihren Weisungen unterstellen. Reichen Polizeien und BGS nicht aus, kann sie zusätzlich nach Art. 87a Abs. 4 GG „Streitkräfte … beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer einsetzen.“

Der Rückblick auf die Diskussion von 1993/94 zeigt, dass es der CDU bei internen Bundeswehreinsätzen nie um Naturkatastrophen ging, bei denen die Bundeswehr nach Art. 35 GG ohnehin eingesetzt werden kann. Vordenker Schäuble erklärte bereits 1994: „Es darf nicht von vornherein alles ausgeschlossen und tabuisiert werden, indem man nur auf die besonderen historischen Erfahrungen verweist.“ Auch Rupert Scholz hat bei seiner Forderung den „Inneren Notstand“ nach Art. 91 GG im Visier. Der „Feind“ sind Flüchtlinge, die „internationale Mafia“, „Radikale“ und AusländerInnen. 1993 dozierte Scholz, von ausländischen Staaten gelenkter Terrorismus sei als „militärischer Angriff auf die territoriale Integrität Deutschlands“ zu werten und die „Massenwanderung“ nehme keine Rücksicht auf Mittel der Friedfertigkeit. Damit handele es sich um einen klaren Fall der Verteidigung äußerer Sicherheit.[15]

Ausblick

Trotz unterschiedlicher Weltlagen sind die Argumente von CDU/CSU für einen Einsatz der Bundeswehr im Inneren seit über 10 Jahren die gleichen. Zyklisch werden sie bei sich bietendem Anlass vorgetragen. Dabei spielt weder die reale Bedrohungslage eine Rolle noch die Frage nach den tatsächlichen Fähigkeiten der Bundeswehr im Inneren. Beispiel Objektschutz: Während zunehmend Bundeswehrkasernen und militärische Liegenschaften von privaten Wachdiensten bewacht werden, sollen nun die Soldaten andere öffentliche Gebäude bewachen? Beispiel Kernkraftwerke: Etwa 4,5 Mio. Flugbewegungen gibt es jährlich auf den engen Luftkorridoren über der Bundesrepublik. Gerade 9 der 25 deutschen Kernkraftwerke sollen einem Aufprall von 20 Tonnen standhalten, jeder betankte Phantom, Tornado, Airbus oder Boeing-Jet ist schwerer. Als minimaler Seitenabstand sind 1,5 Kilometer (6-10 Flugsekunden) vorgeschrieben, die Mindest-Überflughöhe von AKWs beträgt 600 Meter – soll da die Bundeswehr noch mit Patriot-Raketen dazwischenschießen?[16]

Doch obwohl die zunehmende Präsenz der Bundeswehr in der Öffentlichkeit sachlich unberechtigt ist, muss festgestellt werden, dass die schleichende Gewöhnung durch „gute Dienste“ die Bundeswehr zu einer Normalität hat werden lassen, die den Schritt zu einer weiteren Vernetzung mit anderen Exekutivorganen erheblich erleichtert. Niemand sollte sich deshalb über verfassungsmäßige Beschränkungen täuschen und glauben, erst eine 2/3-Mehrheit zu ihrer Änderung würde größere Bundeswehreinsätze im Inneren ermöglichen. Eine solche Mehrheit ist im Bundestag sowenig ausgeschlossen wie die wahrscheinlichere Variante, dass die Bundeswehr sich weiterhin auf dem kleinen Dienstweg der „Amtshilfe“ neue Kompetenzen aneignet und die Gewaltenteilung damit zur Leerformel aushöhlt. Bei alledem geht es weniger um größere Kampfeinsätze im Inneren, sondern um den „Rückgriff auf eine Sicherheitsreserve“ für den starken Staat. Welche Rolle die Bundeswehr künftig im Zusammenhang mit der unkontrollierten Verflechtung aller Exekutivapparate spielt, wird wesentlich von der öffentlichen Wachsamkeit gegenüber „kleineren militärischen Hilfeleistungen“ abhängen.

Stefan Gose ist Politologe und Redakteur der Monatszeitschrift „antimilitarismus information“.
[1] dpa-Meldung v. 13.9.2001, 3:49h, tageszeitung v. 15.9.2001, 26.9.2001, 5.10.2001, 10.10.2001
[2] tageszeitung v. 10.10.2001
[3] tageszeitung v. 15.9.2001
[4] Der Spiegel 1994, H. 1, S. 21f.
[5] Woche im Bundestag/wib 20/93-VII/618 v. 4.11.1993, S. 36
[6] Der Spiegel 1994, H. 1, S. 25
[7] Frankfurter Rundschau v. 13.8.1996
[8] Welt am Sonntag v. 11.8.1996
[9] Bundesverteidigungsministerium (BMVg): Mitteilungen an die Presse XXXII/12 v. 9.2.1995, s.a. XXXII/10 v. 1.2.1995 und XXXII/8 v. 27.1.1995
[10] Innenpolitik 1997, Nr. IV, 17.9.1997, S. 2f.
[11] BMVg/Parlamentarischer Staatssekretär: Schreiben vom 15.8.1997 (13 80003-V152)
[12] Bundesinnenministerium: Zwischenbericht zur zivilen Verteidigung an den Innen- und Haushaltsausschuss des Bundestages vom 31. März 1994 (LVZ 5 – 710 000/107), S. 24
[13] Beispiele siehe antimilitarismus information (ami) 2000, H. 10, S. 25-29
[14] Arbeitssicherstellungsgesetz, Katastrophenschutzgesetz, Sicherstellungsgesetze für Ernährung, Wirtschaft und Verkehr, Abhörgesetz
[15] Der Spiegel 1994, H. 1, S. 21f.
[16] zur Sicherheitsauslegung deutscher Kernkraftwerke gegen Flugzeugabstürze siehe ami 2001, H. 2, S. 9-19 (14)

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