Vor neuen Gipfeln – Über die Schwierigkeiten internationaler Demonstrationen

von Heiner Busch

EU- oder G8-Gipfel, Tagungen der Welthandelsorganisation oder des (privaten) Davoser World Economic Forums – wo die Mächtigen der Welt zusammenkommen, wird die Wahrnehmung demokratischer Rechte zum Risiko.

Rund ein Jahr ist es her, dass ein 20-jähriger Carabiniere bei den Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua einen 23-jährigen Demonstranten erschoss. Der Tod des Carlo Giuliani, die Blutspuren in der „durchsuchten“ Scuola Diaz und die Misshandlung von Inhaftierten, die „teilweise über 15 Stunden an der Wand stehen oder 24 Stunden ohne Wasser und Nahrung“ verbringen mussten, haben Ende Juli letzten Jahres die Öffentlichkeit erschüttert.[1] Für kurze Zeit wurde die stereotype Warnung vor dem „Schwarzen Block“ von der Kritik an der Eskalationsstrategie der Regierung Berlusconi und ihrer Polizei überlagert. Die systematische Unterdrückung der Proteste gegen den G8-Gipfel in Genua waren jedoch kein singuläres Ereignis. Bereits wenige Wochen zuvor, beim Treffen des Europäischen Rates in Göteborg, hatten Polizisten gegen Demonstrierende von der Schusswaffe Gebrauch gemacht.

Nach den Ereignissen von Genua sah sich selbst das Europäische Parlament (EP) gezwungen, die EU-Regierungen auf die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, den Datenschutz und die Bewegungsfreiheit hinzuweisen. Im sog. Watson-Bericht kritisiert das EP den „unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt“ und propagiert eine Deeskalationsstrategie sowie den „Dialog mit den Globalisierungsgegnern“. Mit seinen Forderungen, „gewalttätige Gruppen (den so genannten ‚Black Block‘) oder kriminelle Organisationen“ effizient zu bekämpfen sowie EU-weit zu definieren, wer bzw. was „gefährliche Personen und Verhaltensweisen“ sein sollen, rennt das EP beim Rat der Innen- und Justizminister jedoch offene Türen ein.[2]

Am 13. Juli 2001 – nach Göteborg, aber noch vor Genua – hatten die Minister bereits „Schlussfolgerungen für die Sicherheit der Tagungen des Europäischen Rates und anderer Veranstaltungen von vergleichbarer Tragweite“ verabschiedet. Sie kopierten im Wesentlichen eine Gemeinsame Maßnahme von 1997 „betreffend die Zusammenarbeit im Bereich der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“, die seinerzeit noch in erster Linie auf Fußballhooligans gemünzt war. Die Maßnahme und die Schlussfolgerungen sind die Grundlagen für einen künftigen „Leitfaden“, für den die Polizeiarbeitsgruppe des Rates im Mai 2002 bereits ein Konzept vorlegte.[3] Ebenfalls im Mai präsentierte die belgische Delegation in der Arbeitsgruppe einen Bericht über die Kooperation anlässlich des Laekener EU-Gipfels vom 13.-15. Dezember 2001. Er belegt, dass die Zusammenarbeit nur auf dem Papier der Ratsdokumente harmonisch aussieht, in Wirklichkeit aber ein reichliches Durcheinander darstellt.[4]

Weder vor noch während des Gipfeltreffens hat der Austausch zwischen den Polizeien so funktioniert, wie es die zitierten „Schlussfolgerungen“ vorsehen. Danach sollen im Vorfeld der zu schützenden „Veranstaltung“ ständige nationale Kontaktstellen Informationen über die zu erwartenden DemonstrantInnengruppen zusammentragen, analysieren und an die Kontaktstelle desjenigen Staates weiterleiten, der das Gipfeltreffen ausrichtet. Von den meisten Mitgliedstaaten, so die belgische Polizei, habe sie gar keine Vorinformation erhalten. „Die Auskünfte der Länder, deren Erkenntnisse über reisewillige Demonstranten vorlagen, waren von unterschiedlicher Art. Einige Länder machten nur spärliche, andere (z.B. Frankreich) umfangreiche und detaillierte Angaben; manche Länder (z.B. Deutschland) übermittelten u.a. Informationen, die auch im Internet zu finden sind.“ Die unterschiedliche Qualität und Herkunft der Daten habe eine Interpretation kaum zugelassen.

Nach den „Schlussfolgerungen“ ist der Informationsaustausch unmittelbar vor und während der „Veranstaltung“ aufrechtzuerhalten – über Verbindungsbeamte der Polizei und/oder der Geheimdienste, die jeweils direkten Zugang zu den Informationen ihrer Länder haben sollen. Allerdings, so die belgische Polizei, gehörten die nach Laeken entsandten Verbindungsleute „in der Mehrzahl nicht den Dienststellen an, die der Generaldirektion für operative Unterstützung (der belgischen Kontaktstelle) … Informationen übermittelt hatten.“ Weil sie „vor der Veranstaltung über wenig oder gar keine operativen Informationen“ verfügten, stelle sich die Frage, „ob ihre Anwesenheit notwendig war.“

Man mag über das in dem belgischen Papier dargestellte Chaos schmunzeln. Das Durcheinander schützt aber nicht davor, dass die Polizeibehörden der Mitgliedstaaten ihren EU-Partnern je nach politischer Opportunität Gefahrenmeldungen und personenbezogene Daten von De­monstrantInnen übermitteln, die sie zuvor unter ebenso dubiosen Kriterien erhoben haben. In Deutschland reicht bekanntlich bereits eine Personenkontrolle am Rande einer nicht angemeldeten oder verbotenen Demonstration, um in den „Gewalttäter“- und Landfriedensbruchdateien des Bundeskriminalamts zu landen. Anhand dieser Dateien entschied sich u.a. auch, ob eine Person überhaupt nach Genua ausreisen durfte oder ob sie mit Meldeauflagen und Passbeschränkungen belegt wurde.

Für die Frage, ob eine Person in das Land einreisen darf, in dem die Demonstration stattfindet, ist offenbar auch bisher schon neben informellen Meldewegen – „schwarzen Listen“, wie es im Watson-Bericht des EP heißt – vor allem das Schengener Informationssystem (SIS) maßgebend gewesen. Nach Angabe der „Internationalen Ermittlungskommission zur Verteidigung der Grundrechte im Zeitalter der Globalisierung“ – einem Projekt der beiden linken Juristenorganisationen auf europäischer Ebene (Europäische Demokratische AnwältInnen – EDA, Europäische JuristInnen für Demokratie und Menschenrechte – EJDM) – sind über 1.400 Personen zu diesem Zweck im SIS gespeichert. In Genua wurden insgesamt 2.093 Personen zurückgewiesen.[5]

Mit dem Aufbau des SIS der zweiten Generation soll die Ausschreibung möglicher „troublemakers“ mit dem Ziel, ihre Teilnahme an einem „Ereignis“ zu verhindern, zu einer eigenen Datenkategorie werden. Die Voraussetzungen für solche Ausschreibungen sind noch nicht festgelegt. Da es sich um eine präventiv-polizeiliche Maßnahme handelt, ist kaum mit einer engen Formulierung zu rechnen.[6] Die Forderung des EP, es dürfe neben dem SIS keine „schwarzen Listen“ geben, wird damit wertlos. Es besteht vielmehr die Gefahr, dass das SIS selbst zu einer automatisierten und damit einfach handhabbaren „schwarzen Liste“ wird.

Störer? Kriminelle? Terroristen?

In ihrem Erfahrungsbericht nach Laeken hält die belgische Polizei fest, dass die Verbindungsbeamten ganz unterschiedliche Einschätzungen von den Protestierenden hatten: „Zwischen öffentlicher Ordnung, Kriminalität und Terrorismus wird nicht überall dieselbe klare Unterscheidung getroffen.“ Dies sei darauf zurückzuführen, dass die Beamten „aus ganz unterschiedlichen Polizeidienststellen und Intelligence-Einheiten“ (oder besser gesagt: Geheimdiensten) kamen. Wie Protestgruppen bewertet werden, hängt in starkem Masse vom jeweiligen politischen und organisatorischen Hintergrund ab.

Schon in Genua hatten einige Untersuchungsrichter versucht, aus der angeblichen Zugehörigkeit zum „Schwarzen Block“ Anklagen wegen Bildung einer „bewaffneten Bande“ zu zimmern. Diese Versuche scheiterten zwar; die Gefahr, dass die militanteren Protestgruppen dem Terrorismus zugerechnet werden, ist aber keineswegs gebannt. An dieser Frage hing bisher auch die Beteiligung von Europol an der Analyse von Daten und der Nachbereitung der Einsätze bei Gipfeltreffen. Nach der Konvention ist Europol nur zuständig für Formen der „organisierten Kriminalität“ und des Terrorismus. In der Konzeption für den „Leitfaden“ wird nun umstandslos von einer Beteiligung des Amtes ausgegangen. Wie dies bewertet werden muss – ob die Konvention geändert oder nunmehr anders interpretiert werden soll, oder ob nun doch militanter Protest als Terrorismus gelten soll –, bleibt unklar.

Unklar ist auch die gemeinsame Terrorismus-Definition, die die EU als Reaktion auf den 11. September beschlossen hat. Trotz der be­schwichtigenden Formulierungen, die der Rat in die Präambel des Rahmenbeschlusses aufnahm, enthält dieser weiterhin die Möglichkeit, Haus- und Platzbesetzungen zu terroristischen Straftaten umzudefinieren. Gestützt auf die Terrorismus-Definition unterbreitete die spanische Präsidentschaft Anfang des Jahres in der Terrorismus-Arbeitsgruppe des Rates den Vorschlag, Informationen „über Vorfälle im Zusammenhang mit radikalen gewalttätigen Gruppen“ über das sogenannte BDL-Netzwerk der Geheimdienste und politischen Polizeien der Mitgliedstaaten auszutauschen. Anlässlich der verschiedenen Gipfeltreffen habe man festgestellt, dass diese Gruppen „Verbindungen zum Terrorismus aufweisen“.[7]

Verteidigung

In Genua waren 301 Personen festgenommen worden. Viele davon waren AusländerInnen (u.a. 71 Deutsche).[8] In Laeken, wo es nicht zu derart heftigen Auseinandersetzungen kam, verzeichnete die Polizei trotzdem 163 Festnahmen (118 AusländerInnen). Elf Personen landeten in U-Haft. Wer in einem ausländischen Polizeigewahrsam oder Gefängnis festsitzt – ohne Kenntnis der Sprache und des Rechts des betreffenden Staates –, braucht die „Verteidigung der ersten Stunde“. Die Internationale Ermittlungskommission kritisierte deshalb die „große Verspätung“, mit der die AnwältInnen Kontakt zu den in Genua Verhafteten aufnehmen konnten. In Göteborg wurde VerteidigerInnen aus dem Heimatland der Betroffenen zunächst generell das Besuchsrecht verweigert.

Notwendig ist der Rechtsschutz aber auch gegen die nach der Entlassung der Gefangenen ausgesprochenen Ausweisungen und Einreisesperren. Die meisten Ausweisungen wurden nachträglich durch richterliche Beschlüsse aufgehoben, allerdings nur nach juristischem und politischem Druck. Besonders gefährdet waren wieder einmal Nicht-EU-BürgerInnen wie z.B. eine in der Schweiz als Flüchtling anerkannte Türkin, der die Abschiebung in die Türkei drohte. Die Internationale Kommission schlug deshalb vor, den Rechtsschutz vorzuverlagern und bei internationalen Demonstrationen „Legal Teams“ zu bilden. Dass solche Teams notwendig sind, belegt deutlich, dass die wohltönende Grundrechte-Charta der EU schon jetzt zum Altpapier geworden ist.

[1] Buntenbach, A.: Genua: Menschenrechte mit Füßen getreten, in: Müller-Heidelberg, T. u.a. (Hg.): Grundrechte-Report 2002, Reinbek 2002, S. 198-202 (200)
[2] EP, Ausschuss für die Freiheiten und Rechte der Bürger: Sicherheit der Tagungen des Europäischen Rates und anderer Veranstaltungen vergleichbarer Tragweite („Watson-Bericht“), A5-0396/2001 v. 13.11.2001
[3] Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 147 v. 26.5.1997; EU-Ratsdok. 10916/01 v. 16.7.2001; 9069/02 v. 23.5.2002
[4] EU-Ratsdok. 9029/02 v. 23.5.2002
[5] zur 1. Sitzung der Kommission: www.statewatch.org/news/2002/jul/08agenoa1.htm
[6] siehe Bürgerrechte & Polizei/CILIP 71 (1/2002), S. 89f.
[7] siehe: Holzberger, M.: Durchmarsch in Brüssel, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 70 (3/2001), S. 55-62 und 71 (1/2002), S. 87f.
[8] Buntenbach a.a.O. (Fn. 1), S. 199-