von Stefan Waterkamp
Der Kampf gegen den Terrorismus wird seit dem 11. September 2001 militärisch, polizeilich, politisch und juristisch geführt. Dabei bleiben Bürger- und Menschenrechte regelmäßig auf der Strecke. Die bisherigen Strafverfahren gegen mutmaßliche Terrorhelfer in Deutschland sind keine Ausnahme.
Wahrheit und Gerechtigkeit sind die Leitprinzipien des Strafverfahrens. Straf- und Strafverfahrensrecht tragen diesen Grundsätzen Rechnung, indem sie die Ermittlung des Sachverhalts der richterlichen Aufklärungspflicht, dem „Gebot bestmöglicher Sachaufklärung“, unterstellen (§ 244 Abs. 2 StPO).[1] Den Gerichten wird die „bestmögliche Sachaufklärung“ allerdings nicht immer leicht gemacht.
Dass staatliche Stellen die gerichtliche Wahrheitsfindung bewusst torpedieren, ist kein neues Phänomen. Das bisher wohl deutlichste Beispiel hierfür war das Verfahren um den Mord an dem Studenten Ulrich Schmücker, das im Jahre 1976, in der „bleiernen Zeit“ des Terrors und der staatlichen legislativen und exekutiven Anti-Terror-Maßnahmen begann und erst anderthalb Jahrzehnte später eingestellt wurde. Das Einstellungsurteil des Landgerichts (LG) Berlin vom 28. Januar 1991 schildert die unglaubliche Geschichte über die Steuerung eines Prozesses durch das Berliner Landesamt für Verfassungsschutz, Vertuschungen und Verdrehungen von Beweisen durch polizeiliche und geheimdienstliche Stellen bis hin zu der Tatsache, dass sich die mutmaßliche und offiziell verschwundene Tatwaffe fünfzehn Jahre lang in einem Panzerschrank des Landesamtes für Verfassungsschutz befand.[2]
Mit den Anschlägen vom 11. September 2001 sollte auch in Deutschland eine neue Ära des „Anti-Terrorkampfes“ beginnen. Zwar ist von islamistischen Terror-Kriegern bisher kein Anschlag in Deutschland verübt worden, aber diejenigen in den USA wurden nicht nur in Ländern wie Afghanistan, Saudi-Arabien oder Pakistan vorbereitet, sondern auch in einer Hamburger Studenten-WG. Die ehemaligen Bewohner der Hamburger Marienstraße 54 – Atta, Al-shehhi, Binalshib, Essabar und Bahaji – waren nach derzeitigem Kenntnisstand in die Planung verwickelt und an der Durchführung beteiligt.
Diese sog. Schläfer und eine je nach aktuellem Anlass in verschiedenen Farben schillernde „Terrorgefahr“ waren hierzulande Anlass für massive Eingriffe in die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger. Die Sicherheitspakete I und II wurden durch das Gesetzgebungsverfahren gehetzt, mittels Rasterfahndung hielt die Polizei unter den Studierenden der deutschen Hochschulen nach potentiellen Terroristen Ausschau.[3]
Im materiellen Strafrecht wurde der § 129b Strafgesetzbuch (StGB) eingeführt und damit der Anwendungsbereich der §§ 129, 129a StGB auch auf in Deutschland aktive Mitglieder ausländischer krimineller bzw. terroristischer Vereinigungen ausgedehnt.[4] In der Begründung des Gesetzentwurfs hieß es, dass „angesichts der Ereignisse des 11. September 2001 in New York und Washington“ deutlich geworden sei, welche Gefahr von außereuropäischen kriminellen und terroristischen Vereinigungen drohe.[5]
Manipulierte Beweislage
Im Jahr 2002 stand der Marokkaner Mounir el Motassadeq vor Gericht. Die Bundesanwaltschaft warf ihm Beteiligung an den Anschlägen des 11. Septembers (Beihilfe zum Mord in mindestens 3.116 Fällen) und Mitgliedschaft in der als terroristische Vereinigung angesehenen Hamburger Zelle vor.[6] Es war weltweit der erste Prozess wegen der Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon. Der neue § 129b StGB konnte in diesem Verfahren wegen des Rückwirkungsverbots (Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz, GG) nicht angewandt werden. Die Anklage musste folglich eine inländische terroristische Vereinigung (nach altem Recht) unterstellen.
So soll der Anklageschrift zufolge die Wohngemeinschaft um Mohammed Atta und Ramzi Binalshib nach einer Abschottung und Radikalisierung in Hamburg den Plan gefasst haben, die USA mit entführten Flugzeugen anzugreifen. Zur Durchführung dieses Plans hätten sich Mitglieder der Hamburger Gruppe in Afghanistan an Bin Ladens al-Qaida gewandt.[7] Der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Hamburg folgte in seinem Urteil dieser Darstellung der Bundesanwaltschaft und verurteilte Motassadeq zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren.
Dabei störte sich das Gericht nicht daran, dass den meisten Beteiligten an diesem Prozess möglicherweise entscheidende Informationen vorenthalten worden waren. Wenige Wochen nach Erhebung der Anklageschrift war der ehemalige Hamburger Ramzi Binalshib, eine der mutmaßlichen Schlüsselfiguren der Anschläge, in Karatschi festgenommen und in den Gewahrsam der USA übergeben worden. Während des Verfahrens gegen Motassadeq wussten weder das Gericht noch die Verteidigung, ob und gegebenenfalls was Binalshib über die Anschlagspläne, die Hamburger Zelle und die Rolle des Angeklagten zu sagen hatte.
Im Sitzungssaal saßen aber auch die Vertreter der Bundesanwaltschaft. Diese wussten nicht nur dass, sondern bereits in einem sehr frühen Stadium auch was Binalshib in den USA ausgesagt hatte:[8] nämlich, dass die Pläne nicht in Hamburg entstanden, sondern von der militärischen Führung der al-Qaida stammten und dass die Hamburger Studenten, eigentlich auf dem Weg in den Tschetschenienkrieg, in einem Camp in Afghanistan angeworben worden seien. Zudem habe nur der engere Kreis – also nicht der angeklagte Motassadeq – gewusst, was geplant gewesen sei; und auch das erst sehr spät. Diese Aussagen, sollten sie stimmen, hätten der Anklage des Generalbundesanwalts jede Grundlage genommen. Doch die Bundesanwälte weigerten sich, ihre Kenntnisse in das Verfahren einfließen zu lassen, und die Versuche des Gerichtes, von den USA eine Freigabe Binalshibs als Zeugen zu erreichen, scheiterten. Nachdem das Gericht sämtliche Anträge zur Einführung der Angaben Binalshibs in das Hamburger Verfahren abgelehnt hatte, beantragte die Verteidigung die Einstellung bzw. Aussetzung desselben wegen eines Verstoßes gegen das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren. Das OLG wies diesen Antrag mit Verweis auf die Regelung der Nichterreichbarkeit von Zeugen (§ 244 Abs. 3 StPO) sowie den staatlichen Strafanspruch und den Beschleunigungsgrundsatz zurück.[9] Warum der Zeuge Binalshib unerreichbar war, interessierte das Gericht dabei nicht.
Generalbundesanwalt vs. Verfassungsschutzpräsident
Nach ihrem Erfolg im Motassadeq-Verfahren legte die Bundesanwaltschaft die nächste Anklage gegen einen mutmaßlichen Terrorhelfer, respektive „Statthalter“ der al-Qaida-Zelle Hamburg vor, den Marokkaner Abdelghani Mzoudi. Mzoudis Name fand in dem Verfahren gegen Motassadeq keine Erwähnung, obwohl es um die gleichen Vorwürfe und sehr ähnliche Tathandlungen ging.
Nicht nur die Zeugenliste, auch der übrige Verlauf dieses zweiten „Terrorprozesses“ schienen eine Wiederholung des ersten zu sein. Das Rechtshilfeersuchen des Gerichtes an das US-Justizministerium, die Vernehmung von Ramzi Binalshib als Zeugen zu genehmigen, blieb erfolglos. Ebenso scheiterten die Anträge der Verteidigung, die Sperrerklärungen (gemäß § 96 StPO) für die Aussageprotokolle aufzuheben, die die USA dem Bundesnachrichtendienst (BND) und Bundeskriminalamt (BKA) überlassen hatten. Eine Weitergabe wurde wegen Sicherheitsinteressen und den gegenüber den US-Behörden eingegangenen Verpflichtungen abgelehnt. Dabei konnten die USA ca. einen Monat vor Erhebung der Anklage gegen Mzoudi einen weiteren Erfolg im Kampf gegen die al-Qaida feiern: die Festnahme deren militärischen Leiters Khalid Sheikh Mohammed in Rawalpindi (Pakistan). Doch auch dieser Gefangene sollte aus Gründen der Sicherheit nicht als Zeuge in Strafverfahren zur Verfügung stehen.
Im Unterschied zu dem Motassadeq-Verfahren kamen während des Mzoudi-Prozesses allerdings Informationen an die Öffentlichkeit, die letztlich das Strafverfahren beeinflussen sollten. Die Journalisten Fouda und Fielding veröffentlichten ihr Buch „Masterminds of Terror“, in dem der al-Dschasira Korrespondent Fouda über die Umstände und den Inhalt seines noch vor ihrer Verhaftung geführten Interviews mit Binalshib und Mohammed berichtet.[10] Das Interview wurde auch von dem Nachrichtensender al-Dschasira ausgestrahlt. Der „Spiegel“ veröffentlichte Auszüge aus den geheimen Protokollen der Aussage Binalshibs vor den US-Behörden, und der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) Heinz Fromm berichtete Anfang September 2003 in der Süddeutschen Zeitung über seine Kenntnisse zum 11. September.[11]
Diese Berichte und Interviews hatten eines gemeinsam: Sie widersprachen der Konstruktion der Anklageschrift, dass es sich bei der Hamburger Zelle um eine eigene und damit inländische terroristische Vereinigung handelte, die die Pläne für die Anschläge entworfen und dann
al-Qaida für deren Durchführung gewonnen hatte. Zudem sollen die Terroranschläge erst Ende 1999 in Afghanistan geplant worden sein und nicht – wie in der Anklageschrift behauptet – im Frühjahr 1999. Die Tatvorwürfe waren damit nicht mehr aufrechtzuerhalten. Die Einführung dieser öffentlich zugänglichen Informationen in das Strafverfahren gestaltete sich zunächst noch etwas schwierig, da Fouda nicht erreichbar war und die Redakteure des „Spiegel“ von ihrem Aussageverweigerungsrecht (§ 53 Abs. 1 Nr. 5 StPO) Gebrauch machten.
So avancierte BfV-Präsident Heinz Fromm zum Entlastungszeugen für den Terrorverdächtigen Mzoudi. Fromm, der vom Bundesinnenministerium nur mit einer Aussagegenehmigung für bereits öffentliche Informationen ausgestattet worden war, wiederholte sein Interview als Zeuge. Als öffentliche Quellen gab er den Verfassungsschutzbericht 2002, das Buch „Masterminds of Terror“ und das al-Dschasira Interview an. Der BfV-Präsident ebnete dem Angeklagten so den Weg zu dem späteren Freispruch. Nach seiner Aussage warf ihm die Bundesanwaltschaft vor, sich damit womöglich vor dem Vorwurf einer schlampigen Beobachtung der Hamburger Gruppe schützen zu wollen.
Aufhebung des Motassadeq-Urteils
Auch im Fall Motassadeq trat zu diesem Zeitpunkt eine Wende ein. Der Bundesgerichtshof (BGH) hob die Verurteilung des OLG Hamburg zu 15 Jahren Freiheitsstrafe auf. Das OLG – so begründet der BGH – hätte nicht berücksichtigt, dass seinem Verfahren ein „zentrales Beweismittel“ von deutschen und US-Behörden vorenthalten worden war. Es hätte die Vorgänge um den Zeugen Binalshib und die hierzu gestellten Anträge der Verteidigung nicht nur verfahrensrechtlich abhandeln dürfen. Der BGH sah in der Art und Weise, wie das OLG vorgegangen war, eine Verletzung des Anspruchs des Angeklagten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren (Art. 20 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 6 Abs. 1 Europäische Menschenrechtskonvention).[12]
Der BGH hat an dieser Stelle dem politischen und öffentlichen Druck, der aus dem Kampf gegen den Terror erwächst, widerstanden und in dem Vorenthalten des Beweismittels durch deutsche und US-amerikanische Behörden eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren gesehen. Auch der Umstand, dass der BGH keinen Zweifel daran gelassen hat, dass es auch für Terrorverdächtige nur ein rechtsstaatliches Strafrecht geben kann, ist in Zeiten, da in der Rechtswissenschaft die Rechtmäßigkeit von Folter[13] und die Existenz eines „Feindstrafrechts“[14] für außerhalb der Gesellschaft stehende Rechtsbrecher diskutiert werden, von nicht zu unterschätzendem Wert. Gleiches gilt für die Argumentation, wonach die Regel der Unerreichbarkeit (§ 244 Abs. 3 S. 2 StPO) eines Auslandszeugen dann nicht gelte, wenn der Zeuge von einem Staat zurückgehalten wird, der – wie hier die USA – ein erhebliches eigenes Interesse am Ausgang des Verfahrens hat und in diesem einen Belastungszeugen zur Verfügung stellt.[15] Angesichts des von der US-Regierung praktizierten Umgangs mit den „feindlichen Kombattanten“ (siehe die Haftbedingungen in Guantanamo, die Militärgerichtsverfahren gegen ausgewählte Gefangene, die Verweigerung anwaltlichen Beistandes) wäre es fatal, wenn sich ein deutsches Gericht, wie das OLG Hamburg in der Sache Motassadeq, auf die Verfahrensregel zur Unerreichbarkeit von Zeugen zurückziehen könnte.
Anders als das LG Berlin in dem oben genannten Schmücker Verfahren[16] kommt der BGH allerdings nicht zu dem Ergebnis, dass das Verfahren wegen dieser schwerwiegenden Grundrechtsverletzung des Angeklagten einzustellen gewesen wäre. Vielmehr entwickelt er seine Rechtsprechung in einem anderen Feld fort: Er zieht eine Parallele zur ersatzweisen Vernehmung von Verhörspersonen oder Führungsbeamten anstelle von polizeilichen V-Leuten oder Verdeckten Ermittlern, die mit einer Sperrerklärung (gem. § 96 StPO) oder einer verweigerten Aussagegenehmigung (nach § 54 StPO i. V. m. den Beamtengesetzen) vor einem persönlichen Erscheinen in Strafprozessen geschützt sind. Der Verkürzung der Beweisgrundlage und damit der Erkenntnismöglichkeiten des Gerichts müsse durch eine „besonders vorsichtige Beweiswürdigung“ und gegebenenfalls durch die Anwendung des Grundsatzes „im Zweifel für den Angeklagten“ Rechnung getragen werden.[17]
Dem BGH fehlt damit letztlich in der entscheidenden Frage nach den Folgen staatlicher Manipulation eines Verfahrens durch Geheimhaltung von Beweismitteln die Konsequenz, im Sinne des Rechtsstaats dieser Torpedierung des fairen Verfahrens einen Riegel vorzuschieben. Zu Recht fragte der Vorsitzende Richter des OLG Hamburg Rühle in seiner Urteilsbegründung im Mzoudi-Prozess in Richtung der Bundesanwälte, ob man in Zukunft in Terrorprozessen damit rechnen könne, dass dem Gericht auch entlastendes Material vorgelegt werde und wer dies bestimme. Im Motassadeq-Verfahren war es den Anklagevertretern schließlich noch gelungen, den Fall ungestört von jenen den Angeklagten entlastenden Erkenntnissen der deutschen und US-amerikanischen Polizei und Geheimdienste zu konstruieren.
Verantwortliche zeigen keine Reue
Die für die Angriffe auf ein rechtsstaatliches, faires Verfahren Verantwortlichen zeigten sich nach dem Freispruch Mzoudis als schlechte und gar nicht reumütige Verlierer. Der Hamburger Innensenator wollte den Marokkaner möglichst sofort abschieben, und es entbrannte eine verwaltungsrechtliche Auseinandersetzung mit dem Ziel, den Studenten Mzoudi an der Fortsetzung seines Studiums zu hindern. Nach Ansicht der Gewerkschaft der Polizei war in dem Verfahren deutlich geworden, dass „es bei der Bekämpfung von gewaltbereiten islamistischen Extremisten und deren rechtsstaatlichen Verurteilungen unverantwortliche Defizite“ gebe.[18] Wohlgemerkt: Defizite bei deren Verurteilung – damit war wohl kaum die lediglich belastende Beweismittel präsentierende Anklage gemeint, sondern das Gericht, das auch angesichts dieser Manipulationen einen Freispruch erteilen musste. Die Bundesjustizministerin Brigitte Zypries mochte keine Verantwortlichkeit deutscher Behörden für die staatlich behinderte gerichtliche Aufklärung erkennen und erklärte, die Bundesregierung habe die Entscheidungen der US-Behörden bedauert, sie aber respektieren müssen.[19] Sie gab damit der Bundesanwaltschaft Rückendeckung für ihr Vorgehen. Die Verletzung der staatsanwaltlichen Pflicht zur Objektivität, die diese dazu verpflichtet, auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln (§ 160 Abs. 2 StPO) und dem Gericht vorzulegen, hat keine nach außen messbare Kritik erfahren.
Das hätte allerdings auch verwundert, war das Vorgehen der Bundesanwaltschaft in diesen Verfahren doch eng abgestimmt mit der Bundesregierung. Die hätte sich im internationalen Kampf gegen den Terror sicher gerne damit gebrüstet, auf vermeintlich rechtsstaatlichem Wege – vor ordentlichen Gerichten – Erfolge zu erzielen.