Die Kette der Vollstrecker – Was zählt das Freiheitsrecht von Nichtdeutschen?

von Silke Studzinsky

Ausländer ohne Aufenthalt, die nach einer strafrechtlichen Verurteilung aus der U-Haft entlassen werden, landen nicht in Freiheit, sondern werden ohne Haftbeschluss noch im Gerichtssaal festgenommen und in den Abschiebegewahrsam verfrachtet.

Die Videoaufnahme wird später zeigen, wie der Algerier A. und sein Bekannter in der Damenabteilung eines Kaufhauses herumspazieren, mehr nicht. Für die Polizeibeamten einer Spezialeinheit, die auf Taschendiebstähle spezialisiert ist, ist dies Verdacht genug, um die beiden Männer festzunehmen. Am 16. November 2003 erlässt der Richter den Haftbefehl. Die Haftprüfung hat keinen Erfolg, A. hat keinen festen Wohnsitz in Deutschland. Er ist erst drei Tage vorher eingereist und kann nur eine gefälschte französische Identitätskarte vorweisen. Um die Abschiebung aus der Haft zu sichern, hat die Ausländerbehörde nachgedoppelt und zusätzlich einen Abschiebehaftbeschluss bis zum 28. De­zem­ber erwirkt.

Ende Januar findet die Hauptverhandlung statt. Angeklagt ist A. we­gen versuchten Diebstahls, Urkundenfälschung, illegaler Einreise und illegalen Aufenthalts. Nachdem in der Hauptverhandlung das Video aus dem Kaufhaus zeigt, dass nicht einmal ein Versuch des Diebstahls nachzuweisen ist, wird dieser Verfahrensteil abgetrennt und im Hinblick auf den im anderen Verfahren zu erwartenden Schuldspruch eingestellt. Die Staatsanwaltschaft hat sich damit einen Freispruch erspart, denn den Diebstahlsversuch kann sie ohnehin nicht nachweisen.

Die morgendliche Verhandlung endet mit einer Bewährungsstrafe von drei Monaten und einer Woche. Am Ende der Verhandlung existiert gegen A. kein Haftbefehl und auch kein Abschiebehaftbeschluss mehr, denn letzterer ist Ende Dezember ausgelaufen. Trotzdem wird A. nicht aus dem Saal in die Freiheit entlassen, sondern auf Anordnung des Gerichts wieder in die Haftanstalt Moabit zurück und von dort in den Abschiebegewahrsam gebracht. Dass zu diesem Zeitpunkt noch kein Antrag der Ausländerbehörde vorliegt, interessiert die dort ständig präsente Haftrichterin nicht. Erst am Abend erlässt sie den neuerlichen Abschiebehaftbeschluss.

Das Landgericht für Zivilsachen, das auch für Haftsachen nach dem Freiheitsentziehungsgesetz zuständig ist, stellt später fest, dass die Haft zwischen der morgendlichen Verurteilung und dem abendlichen Haftbeschluss illegal war. An der Rechtmäßigkeit des Haftbeschlusses, der nur aufgrund dieser rechtswidrigen Freiheitsentziehung vollzogen werden konnte, hat das Landgericht nichts auszusetzen. A. ist längst nach Algerien abgeschoben worden.

Freiheitsberaubung

Dass Nichtdeutsche schneller und für längere Zeit in Untersuchungshaft kommen, öfter zu höheren Strafen als Deutsche verurteilt werden und auch in der Haft zusätzlichen Erschwernissen ausgesetzt sind, ist bekannt und durch zahlreiche Untersuchungen belegt.[1] Diese unterschiedliche Behandlung hat vielfältige Ursachen; für Ermittlungsbehörden und Gerichte lässt sie sich jedoch durchaus noch mit den Gesetzen vereinbaren – trotz der rassistischen Komponente, die sich durch die Verfahren zieht. Die Differenzierung beruht auf einer ungleichen Interpretation der unbestimmten Rechtsbegriffe in den Gesetzen.

Anders sieht die Praxis aus für Ausländer,[2] die keinen Aufenthalt in Deutschland haben und einer Straftat beschuldigt werden. Selbstverständlich und automatisch geraten sie auch bei kleinen Vergehen in Untersuchungshaft, die regelmäßig bis zur Hauptverhandlung andauert. Aber damit nicht genug: Wird nach einer Verurteilung der U-Haftbefehl aufgehoben, ist die Odyssee für den Betroffenen noch lange nicht zu Ende. Der oben geschilderte Fall ist hierfür symptomatisch.

Im Verhandlungssaal entdeckt man in solch einem völlig unspektakulären Verfahren nämlich überraschend Zuschauer, die so gar nicht zum Umfeld des Angeklagten gehören. Unscheinbar und doch auffällig lauern zwei bis drei junge, sportliche Männer oder Frauen in legerer Kleidung darauf, dem ausländischen Menschen die gerade gewonnene Freiheit wieder zu entziehen.

Das eifrige Gericht informiert in vorauseilendem Gehorsam vorher die Ausländerbehörde über den Verhandlungstermin. Es werden Zivilbeamte angefordert, die die gerade Freigelassenen „in Amtshilfe“ in das Abschiebungsgewahrsam transportieren sollen. Dort werden sie dann „unverzüglich“ einem Richter vorgeführt, der auf Antrag der Ausländerbehörde einen Haftbeschluss fällt, um die Abschiebung aus der Abschiebehaft zu vollstrecken.

Dieser Vorgang ist Alltag in bundesdeutschen Gerichten, so dass man allein wegen der Selbstverständlichkeit, die dieser Vorgehensweise innewohnt, schon annimmt, diese Praxis sei rechtmäßig. Dennoch: Es gibt keinerlei Rechtsgrundlage für eine solche Freiheitsentziehung. Anders ausgedrückt: Eine solche Festnahme ist rechtswidrig und verwirklicht den Straftatbestand der Freiheitsberaubung:

  • für die festnehmenden Zivilbeamten, weil sie einer Person die Freiheit entziehen, ohne dass ein Haftbefehl bzw. -beschluss existiert,
  • für die zu diesem rechtswidrigen Verhalten anstiftenden und Hilfe leistenden Richter, die die Polizei zur Festnahme angefordert haben und
  • für die Beihilfe leistenden Staatsanwälte, die in diesem Moment in der Regel noch im Saal sind und die rechtswidrige Ingewahrsamnahme dulden, statt sie zu verhindern.

Sie alle sind an dieser Freiheitsberaubung beteiligt.

Willige Helfer

Die Ausländerbehörde erfährt aufgrund der Mitteilungspflichten, die u. a. zwischen Justiz und Ausländerbehörde bestehen, wenn gegen einen Ausländer ein Strafverfahren geführt wird, und wird auch darüber informiert, wenn die Person in Untersuchungshaft kommt. Spätestens jetzt wird dem Gefangenen eine Ausweisung zugestellt. Wenn die Behörde nicht von einer freiwilligen Ausreise ausgeht, müsste sie nun einen Haftantrag stellen und für einen Haftbeschluss bereits während der Untersuchungshaft sorgen.

Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist das grundgesetzlich verbürgte Recht auf Freiheit unverletzlich und ein besonders hohes Rechtsgut, in das nur aus wichtigem Grund eingegriffen werden darf.[3] Deshalb darf die Freiheit der Person gemäß Art. 104 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz (GG) nur aufgrund eines Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Die Freiheitsentziehung darf nur ein Richter anordnen. Eine Freiheitsentziehung durch die Polizei, mit dem Ziel eine nachträgliche Entscheidung durch einen Richter herbeizuführen, ist nur in den Ausnahmefällen des Art. 104 Abs. 2 S. 2 und 3 GG zulässig. Und zwar dann, wenn der mit der Freiheitsentziehung verfolgte verfassungsrechtlich zulässige Zweck nicht erreichbar wäre, sofern der Festnahme die richterliche Entscheidung vorausgehen müsste.[4] Art. 104 GG schützt auch die Freiheit nichtdeutscher Personen.

Meistens besteht für die Ausländerbehörde auch ausreichend Zeit von einigen Monaten, um die Abschiebehaft anordnen zu lassen. Da sie selbst dazu nicht befugt ist, müsste sie für eine richterliche Entscheidung sorgen, die dazu berechtigt, die im Strafgericht verurteilte Person nach der Aufhebung des Untersuchungshaftbefehls direkt im Saal noch festzunehmen.

Hierum kümmert sich die Behörde allerdings in der Regel nicht, denn sie kann sich angesichts der gegenwärtigen Praxis darauf verlassen, dass die Strafrichter eifrige und willige Helfer dabei sind, Deutschland von Ausländern ohne Aufenthaltsrecht zu befreien, auch wenn eine Rechtsgrundlage für die Ingewahrsamnahme nicht besteht. Obwohl bereits zahlreiche Entscheidungen existieren, in denen immer wieder – im Nachhinein, nach erfolgter Abschiebung – festgestellt wurde, dass eine Festnahme ohne richterlichen Beschluss rechtswidrig ist, dauert diese Praxis unverändert fort.[5]

Viele Verteidiger sind über diese Feinheiten nicht informiert und nehmen es widerspruchslos hin, wenn ihre Mandanten aus dem Verhandlungssaal nach aufgehobenem U-Haftbefehl ohne Rechtsgrundlage in die Abschiebehaft gebracht werden. Aber auch engagierte Versuche, eine solche Festnahme zu verhindern, scheitern. Denn die anwesenden Strafrichter und Staatsanwälte dulden und unterstützen solche Festnahmen, selbst wenn sie von der Verteidigung auf deren Rechtswidrigkeit aufmerksam gemacht und aufgefordert werden, sie zu unterbinden.

Fehlen jeglicher Sanktion

Die gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit solcher Freiheitsentziehungen führt jedoch nicht dazu, dass gegen Strafrichter, Staatsanwälte und festnehmende Beamte ein Ermittlungsverfahren wegen Freiheitsberaubung bzw. Beihilfe eingeleitet würde. Dies geschieht selbst dann nicht, wenn entsprechende Strafanzeigen erstattet werden. Die Strafverfolgungsbehörden begründen ihre Weigerung, gegen die eigene Zunft vorzugehen, damit, dass eine Straftat gar nicht vorliege.

Ebenfalls ohne Wirkung bleibt die gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit für den danach angeordneten Abschiebehaftbeschluss. Bei rechtmäßigem Vorgehen wäre die betroffene Person zwar gar nicht erst vor dem Richter im Abschiebegewahrsam gelandet. Die Auffassung, dass es sich bei dem Abschiebehaftbeschluss deshalb um „Früchte vom verbotenen Baum“ handele, will die Rechtsprechung – selbstverständlich – nicht vertreten. Die spätere Feststellungsklage, dass eine Festnahme rechtswidrig war, macht die Abschiebung nicht hinfällig und erst recht nicht rückgängig. Die gerichtliche Entscheidung ist nicht mehr als ein wertloses Stück Papier. Dessen rechtsstaatlicher Glanz reduziert sich darauf, dass der Staat die Kosten für diese erfolgreiche Klage zahlt.

Das Fehlen jeglicher Sanktion ist geradezu eine Einladung, die rechtswidrige Praxis fortzusetzen. Deren Ende ist nicht absehbar. Vollstreckt man doch nur etwas, was schon „irgendwie“ seine Richtigkeit hat. Denn betroffen sind ja „nur“ diejenigen, die das Land ohnehin zu verlassen haben. Es trifft also schon die „Richtigen“. Das grundgesetzlich verbriefte Recht auf Freiheit ist wohl doch ein Recht, das Ausländern ohne Aufenthaltsstatus nicht zusteht.

Silke Studzinsky ist Rechtsanwältin in Berlin.
[1] z. B. die Studien des 8. Deutschen Präventionstages (www.praeventionstag.de/content/ 8_praev/doku/gaitanides) und des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (www.bafl.de/template/zuwanderungsrat/expertisen_2004/expertise_pfeiffer.pdf)
[2] Allein zur erleichterten Lesbarkeit werden in diesem Artikel ausschließlich die männlichen Formen verwendet.
[3] Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Entscheidungen Bd. 10, 302 (322), Bd. 58, 208 (220)
[4] BVerfG-Urteil v. 15.5.2002, Az.: 2 BvR 2292/00, Abs. 22-28
[5] so unter vielen: Landgericht Berlin: Beschluss v. 31.3.2003, Az.: 84 T 46/03