Literatur

Zum Schwerpunkt

Terrorismus und Anti-Terrorismus sind verständlicherweise (wieder) zu einem publizistischen Megathema geworden. Im Folgenden beschränken wir uns auf eine kleine chronologische Auswahl aus der deutschen polizeilichen Fachpresse. Dabei vernachlässigen wir Hinweise auf die verschiedenen Schilderungen der drohenden terroristischen Gefahren und konzentrieren uns auf die polizeilichen Perspektiven und Elemente des „Kampfes gegen den Terrorismus“. Im Kern besteht die polizeiliche Bekämpfungsstrategie aus zwei Elementen: Erstens werden durch gezielte „Vorfeldarbeit“ die Möglichkeiten des Polizeirechts zur Datenerhebung, zur Infiltration und zur Einschüchterung und Verunsicherung potentieller terroristischer Milieus extensiv genutzt. Und zweitens werden Defizite im Hinblick auf Überwachungsmöglichkeiten und Sanktionspotentiale durch die unmittelbare Zusammenarbeit mit anderen Behörden auszugleichen gesucht.

Peilert, Andreas: Islamistischer Terrorismus – Eine Herausforderung für die internationale Staatengemeinschaft, in: Die Polizei 2002, H. 3, S. 61-70

Im November 2001 war der islamistische Terrorismus Thema der Herbsttagung des Bundeskriminalamtes. In dem Beitrag werden Vorträge und Diskussionen, die stark unter dem Einfluss des 11.9.2001 standen, zusammengefasst. Bundesinnenminister Otto Schily präsentierte sein damals noch nicht verabschiedetes Terrorismusbekämpfungsgesetz; der BKA-Präsident Ulrich Kersten forderte die – später nicht realisierte – eigenständige Vorfeldbefugnis für sein Amt. Die Vertreter von Politik, Polizei und Nachrichtendiensten plädierten für eine „intensivere Zusammenarbeit“ der Sicherheitsbehörden. Übereinstimmend wurde in der Schlussdiskussion – an der bezeichnenderweise auch ein Vertreter der Bundeswehr teilnahm – die Notwendigkeit einer „neuen Sicherheitsarchitektur“ verneint: der Polizeiföderalismus müsse beibehalten werden, das Trennungsgebot stehe der direkten Zusammenarbeit von Polizei und Diensten nicht entgegen.

Klink, Manfred: Bekämpfung des internationalen Terrorismus im Zusammenhang mit den Anschlägen am 11.09.2001 in den USA – aus der Sicht des Bundes, in: Die Kriminalpolizei 2002, H. 3, S. 84-89

Schneider, Dieter: Bekämpfung des internationalen islamistischen Terrorismus nach dem 11. September – eine Daueraufgabe aus Sicht eines Landes, in: Die Kri­minalpolizei 2002, H. 3, S. 89-93

Neben den bekannten bundesgesetzlichen Novellierungen (Sicherheitspakete), der Gründung der „Koordinierungsgruppe Internationaler Terrorismus“ und der Führung islamistisch-terroristischer Ermittlungsverfahren durch das BKA weist Klink auf die Einrichtung des „Technischen Service-Zentrums“ (TeSiT) im BKA hin, das die Polizeibehörden mit Rat und Gerät bei der Überwachung und Auswertung elektronischer Kommunikation unterstützt. Schneider stellt die Reaktionen der baden-würt­tem­bergischen Polizei vor. Der strategische Bekämpfungsansatz besteht in der zentralen Informationsbearbeitung, die auf der „dauerhaft angelegten dezentralen Erkenntnisgewinnung“ fußt und das Ziel verfolgt, „personen- und organisationsbezogene Zusammenhänge und Brennpunkte zu erkennen, Auswerteprojekte zu initiieren, Strukturermittlungen einzuleiten, Verdachtslagen zu konkretisieren und auf die Einleitung von Ermittlungsverfahren hinzuwirken“. Zur Erkenntnisgewinnung wird das gesamte Repertoire verdeckter Polizeimethoden eingesetzt. Bei „Verdachtsgewinnung“ und Bekämpfung sind möglichst viele Behörden einzubinden – von der Steuerfahndung bis zu den Hochschulen.

Ziercke, Jörg: Neue Sicherheitsarchitektur für Deutschland, in: Kriminalistik 2002, H. 6, S. 346-351

Der damalige Vorsitzende des Arbeitskreises II der Innenministerkonferenz – und heutige BKA-Präsident – gibt in diesem Beitrag einen Überblick über die Konzeptionen von IMK/AK II im Kampf gegen den Terror. Abgelehnt wird eine „Militarisierung der Inneren Sicherheit“ oder die Zentralisierung der polizeilichen Ermittlungsarbeit auf nationaler oder europäischer Ebene; das Trennungsgebot müsse gewahrt, gleichzeitig aber „ein intensiver und ständiger Informationsaustausch“ gewährleistet werden. Als „besondere kriminalstrategische Maßnahmen“ werden vorgestellt: ein tägliches Bundeslagebild mit den Erkenntnissen der deutschen Polizei- und Verfassungsschutzbehörden „und sonstiger weltweiter Quellen“, die Rasterfahndung („zur Detektierung von sogenannten Schläfern ohne Alternative“), „Gefährderansprachen“ (offenkundig polizeitaktisch umstritten), Maßnahmen gegen die „Schleusungskriminalität“ und gegen terroristische Gewalttäter, die als Flüchtlinge getarnt nach Deutschland einreisen.

Risch, Hedwig; Kemmesies, Uwe: Netzwerke des Terrors – Netzwerke gegen den Terror, in: Kriminalistik 2005, H. 1, S. 4-9

Die BKA-Herbsttagung des vergangenen Jahres war wieder dem Thema Terrorismus – Anti-Terrorismus gewidmet. Der Verlauf der Tagung ist in diesem Aufsatz zusammengefasst. Bemerkenswert scheint der Vortrag von BKA-Präsident Jörg Ziercke gewesen zu sein. Nach seiner Ansicht dürfe man „bei der Betrachtung des Terrorismusphänomens nicht bei den Tätern verharren“. Es seien die zugrunde liegenden Ideologien, die Gruppierungen und personalen Beziehungen sowie das gesellschaftliche und kulturelle Umfeld zu betrachten. Das interaktive Geschehen von Täterpersönlichkeit, Ideologie und Umfeld sowie das „Wechselwirkungsgeschehen zwischen terroristischer Aktion und staatlicher Reaktion bestimme wiederum die Entwicklungsdynamik des terroristischen Geschehens“. Der nachfolgende Hinweis, auf eine im BKA gegenwärtig laufende Biographieanalyse, auf deren Basis Präventionsmöglichkeiten initiiert werden sollen, schränkt die praktische Bedeutung einer sozialwissenschaftlich aufgeklärten Perspektive wieder ein. Wird der Ansatz auf polizeiliches Maß kleingearbeitet, dann landet auch Ziercke bei den technokratischen Projekten der „Implementierung eines phänomenspezifischen Prognoseinstrumentariums“ und der „proaktiven Abwehr globaler terroristischer Gefahren“.

Würz, Wolfgang: Die Zusammenarbeit der (Bundes-)Sicherheitsbehörden im Phänomenbereich islamistischer Terrorismus, in: Kriminalistik 2005, H. 1,
S. 10-13

In diesem Beitrag des Leitenden Kriminaldirektors aus dem Bundeskriminalamt wird die Arbeit des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums in Berlin-Treptow vorgestellt. Das Zentrum besteht aus zwei selbständigen Teilen: dem „Polizeilichen Informations- und Lagezentrum (PIAZ)“ und dem „Nachrichtendienstlichen Informations- und Lagezentrum (NIAZ)“. Das Zentrum soll den Austausch, die Verdichtung und Bewertung vorliegender Informationen verbessern, es soll eine Arbeitsteilung in der „Bekämpfung des islamistischen Terrorismus und Extremismus“ gewährleisten, und es soll die „Abstimmung und Koordination operativer Maßnahmen – auch im Vorfeld der Strafverfolgung“ leisten. Neben BKA und Bundesamt für Verfassungsschutz sind die Länderpolizeien (über Verbindungsbeamte) sowie der Bundesnachrichtendienst, das Zollkriminalamt, der Militärische Abschirmdienst, das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und – anlassbezogen – weitere Behörden in die Arbeit des Zentrums eingebunden. Im Lagezentrum wird auch das „Informationsboard“ zum internationalen Terrorismus fortgeführt, dass seit 2001 existiert. Während diese „Plattform eines vertrauensvollen und konstruktiven Informationsaustausches“ von der polizeilichen Seite moderiert wird, finden unter der Geschäftsführung des Bundesamtes für Verfassungsschutz „Strukturanalysen“ (genannt wird ein Projekt „Ausbildungslager“) und Auswertungen zu einzelnen Fällen, zum islamistisch-terroristischen Personenpotential und zu dessen Ressourcen statt. Der polizeiliche Teil des Lagezentrums gehört zur Gruppe 3 (Staatsschutz) des Bundeskriminalamtes. Im PIAZ sind ca. 100 BKA-Beschäftigte tätig. „Es stellt damit“, so der Autor, „eu­ropaweit eine der größten Analyseeinheiten im Bereich der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus dar.“

Kruse, Robert: Bekämpfung des islamistischen Terrorismus in Niedersachsen, in: Polizei – heute 2005, H. 2, S. 38-43

In dieser Darstellung des Leiters des niedersächsischen Staatsschutzes wird exemplarisch deutlich, wie die Länderpolizeien sich auf den islamistischen Terrorismus eingestellt haben. Das niedersächsische Konzept, in Einklang mit den – nicht veröffentlichten – Empfehlungen aus der Innenministerkonferenz vom November 2003, besteht aus den Elementen: Anschlagsplanungen unterbinden, Verdachtsgewinnung intensivieren, den Informationsstand über potentielle Täter und Anschlagsziele optimieren, den Kontrolldruck erhöhen und die Bevölkerung sensibilisieren. Umgesetzt wurde dieses Konzept z.B. durch die gezielte Nutzung von ereignis- und verdachtsunabhängigen Kontrollen, durch die die „Islamistenszene“ verunsichert worden sei. Im LKA wurde eine operative Auswertungseinheit eingerichtet, in der die Erkenntnisse aus den polizeilichen Basisdienststellen mit außerpolizeilichen Daten und solchen aus „bestimmten OK-Deliktsfeldern“ zusammengeführt werden sollen. Nachdem man sich seit 2003 mit dem regelmäßigen Informationsaustausch zwischen der Polizei und den drei Geheimdiensten im Rahmen von Arbeitsbesprechungen beschränkte, nahm Anfang 2005 ein „Gemeinsames Informations- und Analysezentrum“ seine Arbeit auf, das „paritätisch“ mit MitarbeiterInnen des niedersächsischen Landesamtes für Verfassungsschutz und des Landeskriminalamtes besetzt ist. Das Zentrum ist räumlich im LKA untergebracht. Dem Trennungsgebot werde dadurch Rechnung getragen, dass die Fach- und Dienstaufsicht getrennt bleibe und dass die MitarbeiterInnen unmittelbaren Zugriff nur auf die Informationsbestände ihrer eigenen Behörde hätten.

(sämtlich: Norbert Pütter)

Peters, Butz: Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF, Berlin (Argon) 2004, 863 S., EUR 24,90

Das dickleibige, reich mit Bildchen illustrierte Werk des Juristen, Journalisten und Buchautors Butz Peters geht darauf aus, die Geschichte der RAF vom Anfang bis zum Ende zu erzählen – vom Kaufhausbrand in Frankfurt, den Andreas Baader, Gudrun Ensslin u.a. am 2.4.1968 inszenierten, bis zur sog. Auflösungserklärung der RAF vom März 1998. Auf eine solche Geschichte der RAF, eines Gutteils ihrer aktiven Personen, ihrer Aktionen, ihrer Verlautbarungen, ihrer polizeilichen Verfolgung und ihrer Prozesse ist das zitatenreiche, zuweilen geschwätzige Buch beschränkt. Der Kontext der alten und neuen Bundesrepublik, in dem die RAF entstehen und wirken konnte, fehlt bei Peters vollständig. In diesem Sinne verspricht der Autor fälschlich „die Rekonstruktion dessen, was die RAF in Deutschland anrichtete.“ Peters präsentiert die RAF, die er ohne weitere Erörterung in drei Generationen teilt und doch wie eine Einheit behandelt, nahezu als reinen Akteur in der BRD und doch (fast) ohne die BRD.

Der Autor hat keine neuen Dokumente ausgegraben, bietet Interpretationen allenfalls wie ein gerichtsbraver Reporter. Sein Buch enthält für Zeitgenossen keine neuen Aspekte. Es ist geradezu faszinierend bar aller eigensinnigen Fragen und folgerichtig auch bar aller nur hauchzarten analytischen Splitter. Am Ende seines Buches, nach 69 Kapiteln, traktiert der Autor schließlich dreizehn „Rätsel“ von der Art: „Wer gehörte zur dritten ‚Generation‘?“, „Wer waren die RAF-Mörder der dritten ‚Generation‘?“, „Wie fidel war Stammheim?“ … Einzig die Frage, „warum die RAF niemals ein Wort des Mitleids für ihre Opfer gefunden hat – auch am Ende nicht“, hätte spannend beantwortet werden können, wenn denn nicht alle Spannung vom Anfang an ausgeschaltet worden wäre. An diesem rundum witzlosen Wälzer stört zusätzlich, dass selbst sein einziger Vorzug, sein Zitatenreichtum, verplempert wird. Die Zitate werden nicht nachgewiesen. Auch darum gilt für dieses Buch nur ein Lesehinweis: in keiner Hinsicht empfehlenswert!

(Wolf-Dieter Narr)

Sonstige Neuerscheinungen

Kinzig, Jörg: Die rechtliche Bewältigung von Erscheinungsformen organisierter Kriminalität, Berlin (Duncker & Humblot) 2004, 849 S., EUR 98,–

Ein sperriger Titel, über 750 Seiten Text, ein Preis, der das Buch in Bibliotheken verbannt – trotzdem ist Kinzigs Habilitationsschrift eine weite Verbreitung zu wünschen. Wer sich zukünftig über „organisierte Kriminalität“ (OK) äußern will, tut gut daran, einen Blick in diese Arbeit zu werfen. Dabei liegt der Vorzug der Untersuchung allerdings nicht darin, Neues über OK in Deutschland herausgefunden zu haben. Vielmehr zeichnet Kinzig zum einen Beginn, Verlauf, strategische, institutionelle und rechtliche Folgen der OK-Debatte nach. Zum anderen bestätigt er durch seine eigene Erhebung eine Reihe bekannter Vermutungen und Befunde.

Die Darstellung ist in 22 Kapitel gegliedert. In den ersten acht Kapiteln werden als „Rahmenbedingungen“ die Definitionen, Gefahrenprognosen, polizeistrategischen und rechtlichen Entwicklungen mit Bezug auf OK vorgestellt. Die Kapitel 9-11 (Forschungsstand, Statistiken, Lagebilder) dienen der engeren Vorbereitung der nachfolgend dargestellten Erhebung Kinzigs.

Ab Seite 333 stellt der Autor seine eigene Untersuchung vor. Ihn interessiert, „wie organisierte Kriminalität und Strafjustiz miteinander verknüpft“ sind. In einem „breitflächigen Untersuchungsansatz“ will er „den gesamten Prozess der Verarbeitung dieser Kriminalitätsform“ in den Blick nehmen (S. 333). Er verspricht, einen Überblick über die strafrechtliche Verarbeitung und den „justiziellen Ertrag“ von OK-Verfahren zu liefern (S. 334). Derart soll auch geprüft werden, ob OK „eine sinnvolle juristische Kategorie“ darstellt (S. 336). Exemplarisch an den OK-Fällen in Baden-Württemberg sucht Kinzig diese Fragen zu beantworten. Methodisch stützt er sich auf die Aktenanalyse von 52 OK-Verfahren, auf die Teilnahme an Besprechungen über Lagebilderstellungen und Interviews mit zehn Personen, die in OK-Verfahren verurteilt worden waren.

Die detaillierte Analyse der Justizakten erlaubt, sowohl ein genaues Bild polizeilicher OK-Ermittlungen zu zeichnen (etwa zum Umfang verdeckter Methoden) als auch Einblicke in die „Kriminalitätswirklichkeit“ von OK zu gewinnen. Kinzig verfolgt in den 52 Komplexen den Verlauf vom Ermittlungsverfahren bis zum Urteil. Die Interviews mit den – vom Landeskriminalamt vermittelten – verurteilten OK-Tätern sollen diese Befunde mit der Insider-Perspektive konfrontieren.

Gemessen an den seit Jahrzehnten propagierten Bedrohungsszenarien fallen Kinzigs Befunde bescheiden aus. In keinem einzigen Verfahren wurden mehr als 20 Hauptbeschuldigte angeklagt; in 40 Prozent der Fälle wurden noch nicht einmal die von der Definition mindestens geforderten drei Personen angeklagt. Sofern überhaupt eine feste Binnenstruktur bestand, war diese auf verwandtschaftliche bzw. ethnische Gemeinsamkeiten zurückzuführen; in der Regel habe gerade der illegale Status der OK-Aktionen „der Entstehung stabiler Strukturen entgegen“ gestanden (S. 771 ff.). Nach Kinzig besteht OK in Deutschland nicht aus festgefügten, strukturierten Personengeflechten. Die Regel seien am ökonomischen Vorteil orientierte Zweckbündnisse, die durch die Illegalität nicht stabiler, sondern fragiler als legale Strukturen seien. OK sei deshalb nur insofern ein sinnvoller Begriff, weil er für „schwer ermittelbare Kriminalität“ stehe (S. 779), für die sich „ein neues Ermittlungs- und Strafverfahren“ entwickelt habe (S. 788). Dessen zentrale Elemente – polizeiliche Generierung des Verfahrens, Dominanz verdeckter Methoden etc. – werden durch Kinzigs Studie erneut bestätigt.

Zu den Schwächen der Arbeit zählt der Umstand, dass die ersten 300 Seiten im Wesentlichen Bekanntes wiederholen. Bei seiner eigenen Erhebung schwankt der Autor zwischen der Analyse der „rechtlichen Bewältigungsformen“ und einer kriminologischen Bestandsaufnahme von OK. In beiden Ausrichtungen bleibt seine Analyse letztlich unbefriedigend. Kriminologisch reicht es wohl kaum, justizielle Aktenwahrheit mit der Selbststilisierung von Betroffenen zu kontrastieren. Und in der institutionellen Analyse scheut Kinzig vor klaren Bewertungen zurück. Denn wenn die besondere OK-Bedrohung offenkundig nicht vorhanden ist, dann entfällt die Legitimation für die in den 90er Jahren betriebene Entwertung rechtsstaatlicher Grundsätze und institutioneller Kontrollen.

(Norbert Pütter)

Herrmann, Horst: Die Folter. Eine Enzyklopädie des Grauens, Frankfurt/M. (Eichborn Verlag) 2004, 384 S., EUR 24,90

Die Anwendung von Folter wird in Westeuropa allenfalls noch als schreckliches Schicksal von Flüchtlingen aus entlegenen Weltgegenden oder als Auswuchs bei Kriegshandlungen wie im Irak wahrgenommen. Hierzulande tut der aufgeklärte Mensch gern so, als sei sie heute nur noch ein Relikt aus den dunkelsten Zeiten des europäischen Mittelalters. Dass dies nicht so ist, bezeugen die Folterandrohung des Frankfurter Polizeivizepräsidenten Daschner gegen den Entführer Markus Gäfgen im Jahre 2002, die bekannt gewordenen Quälereien von Bundeswehrrekruten im Ausbildungslager Coesfeld 2004 sowie diverse Debatten im Kielwasser von islamistisch-terroristischen Anschlägen nach dem 11. Sep­tem­ber 2001, in denen die (Androhung von) Folter durchaus als geeignete Reaktion zur Erlangung von Informationen erachtet wird.

Insoweit ist Herrmanns Enzyklopädie ein durchaus aktuelles wenn auch wenig erquickliches Buch. In alphabetischer Reihenfolge von A wie Abhacken bis Z wie Zwangsjacke und quer durch die Jahrhunderte und Kulturen schildert der Autor die verschiedensten Foltermethoden. Schnell wird dabei deutlich, dass sich heutige Folterer gern an historischen Vorlagen bedienen und diese lediglich technisch weiterentwickeln. Klar wird auch, dass sexuelle Demütigungen wie im Gefängnis Abu Ghraib eine lange Tradition haben. Keinen Gefallen tut sich der Autor hingegen da, wo er ähnliche Foltermethoden mehrfach unter ihren diversen Bezeichnungen auflistet, statt sie unter einem Obergriff zusammen zu fassen und deren verschiedene Ausprägungen dabei entsprechend kenntlich zu machen. Weniger wäre hier mehr gewesen.

Auch Herrmanns Folterbegriff ist wenig hilfreich. Schwierig scheint es, die Selbstpeinigung von religiösen Fanatikern als Folter zu bezeichnen. Ein polizeilicher Schlagstockeinsatz ist sicherlich alles andere als erfreulich, von der systematischen Prügel- oder Schlagfolter aber dennoch um einiges entfernt. Wirklich problematisch wird das Buch allerdings dann, wenn der Autor mit der von ihm so bezeichneten „Datenfolter“ eigene „Folter“ einführt und damit Videoüberwachungen im öffentlichen Raum oder so genannte „babyphone“ in Kinderzimmern meint. Spätestens hier wird der klassische Folterbegriff endgültig verlassen.

(Otto Diederichs)