Kein Platz für Arme – Der Umgang mit Randgruppen in deutschen Städten

von Titus Simon

Die toleranten 70er und frühen 80er Jahre sind längst vorbei. Wer arm ist und auch so aussieht, soll das Stadtbild nicht stören. Nach diesem Motto wird in vielen deutschen Städten verfahren. MitarbeiterInnen der Sucht- und der Wohnungslosenhilfe kritisieren diese Vertreibungspolitik seit Jahren.

Wer unerwünschte Submilieus aus dem Stadtbild entfernen will, kann das auf verschiedenste Arten tun: mit architektonischen Konzepten, die den „falschen Gruppen“ ihren Aufenthalt unwirtlich machen, aber auch mit klassischen ordnungspolitischen Instrumenten. Rechtlich behalf man sich dabei ursprünglich mit kommunalen Sondernutzungssatzungen und Gefahrenabwehrverordnungen und schuf so eine Art von Privatstrafrecht, das allerdings oft in weiten Teilen schlicht illegal war.[1]

Die gerichtliche Feststellung der fehlenden Rechtsgrundlagen hat keineswegs zu einer Ausdünnung derartiger Praxis geführt. Vielmehr sind seit Mitte der 90er Jahre vier Tendenzen zu verzeichnen: Erstens hat die Zahl der einschlägigen Verordnungen und Satzungen stark zugenommen. Zweitens sind in nahezu allen Bundesländern Bemühungen erkennbar, die Landesgesetzgebung, die die Gemeinden zum Erlass solcher Satzungen ermächtigt, so zu modifizieren, dass die vor Gericht festgestellten Probleme gänzlich gelöst oder wenigstens minimiert werden. Drittens bemüht man sich, die örtlichen Satzungen und Verordnungen an den jeweiligen Stand der Rechtsprechung anzugleichen – mit der Intention, so wenig wie möglich auf ordnungspolitische Instrumente verzichten zu müssen. Dies geschieht häufig auf der Basis von Mustersatzungen bzw. Musterverordnungen der zuständigen Ministerien bzw. kommunaler Dachorganisationen, die sich so nah als noch möglich an der Grenze zur Rechtswidrigkeit bewegen. Viertens trägt eine stark ideo­logisierte Debatte um „Kriminalprävention“ zur Legitimation der genannten Maßnahmen bei.[2]

Das Resultat ist ein Konzept von öffentlicher Sicherheit, das auf eine Intensivierung der sozialen Kontrolle abzielt. Alltagspraktisch werden sozialpolitische, sozialarbeiterische, stadtplanerische, ordnungspolitische, polizei- und strafrechtliche Maßnahmen vermengt. Sozialarbeit steht dabei vor neuen Herausforderungen bis hin zu einer ordnungspolitischen Kolonialisierung und Instrumentalisierung ihres Arbeitsfeldes.

Die Auswirkungen der zunehmenden Reglementierung des öffentlichen Raums auf die Lebenslagen von Wohnungslosen dokumentierte schon in den 90er Jahren eine Kölner Feldforschungsstudie.[3] Dabei wurden u.a. 134 Personen befragt, die sich häufig auf öffentlichen Straßen und Plätzen aufhielten: „Berber“ (52,2 %), „Junkies“ (29,1 %), „Punks“ (9,0 %) und „Treber“ (6,7 %). 63,4 % waren damals aktuell ohne festen Wohnsitz, die meisten anderen waren früher einmal wohnungslos gewesen. Je ein Drittel der Betroffenen nächtigte im Freien oder in Wohnheimen, die anderen bei Freunden oder in Notschlafstellen.

  • 67,9 % hatten schon einmal Aufenthaltsverbote erhalten. Hiervon waren die Gruppen in unterschiedlicher Weise betroffen: „Punks“ (91,7 %), „Junkies“ (89,7 %), „Berber“ (55,4 %), „Treber“ (44,4 %).
  • Aufenthaltsverbote wurden meist durch die Aufforderung wegzugehen und die Verhängung von Strafen durchgesetzt. Drei Viertel der Vertriebenen erhielten zudem Platzverweise bis zu einem Jahr.
  • Mehr als ein Fünftel hatte Bußgelder zu bezahlen, die sich im Durchschnitt auf 1.335 DM beliefen. Vor allem gegen „Junkies“ wurden höhere Bußgelder – bis zu 4.000 DM – verhängt.

Die Politik der Verdrängung ist aber keine Besonderheit Kölns oder der deutschen Großstädte. Besonders aus Süddeutschland sind auch rigide Praktiken aus kleineren Orten bekannt geworden, die eine gewisse historische oder touristische Bedeutung haben. Schon beinahe Geschichte ist der in das Jahr 1973 zurückreichende, letztendlich gescheiterte Versuch von Baden-Baden, die Kur- und Badestadt vollständig von „Stadtstreichern“ freizuhalten. 1993 wurde von einer flächendeckenden Vertreibung von Wohnungslosen vom Konstanzer Seeufer berichtet, bei der städtische Angestellte auch nicht davor zurückschreckten, den persönlichen Besitz und die Papiere von Wohnungslosen als „Müll“ zu entsorgen.[4] Schlagzeilen machte 1997 die beschauliche Bodenseestadt Ravensburg, wo ein Polizist einem Punk eine Flasche Bier aus der Hand nahm, nachdem schon kurz zuvor eine Polizeistreife eine leere Bierkiste beschlagnahmt hatte. Grundlage dieses Handelns war eine Polizeiverordnung, die jegliches Biertrinken außerhalb der zahlreichen Freischankflächen der Kneipen verbot. Pech für die Stadtverwaltung und den Gemeinderat der Stadt Ravensburg war nur, dass der Punk aus gutem Hause war und mit Hilfe seines Anwaltes eine Normenkontrollklage beim Verwaltungsgerichtshof Mannheim einreichte.

Repressives Übermaß

Bei den Bemühungen um eine „saubere Stadt“ kommt es in einer Vielzahl von Fällen zu willkürlichen Maßnahmen, die kaum als rechtsstaatlich bezeichnet werden können. Hierzu einige Beispiele:[5]

  • In Ulm und in anderen Städten wurden Wohnungslose von der Polizei aufgegriffen und mit Polizeifahrzeugen über den Stadtrand gebracht und „nach den Ortsschildern“ ausgesetzt.
  • In Schwäbisch Hall wurden etwa 50 Jugendliche, die sich am Wochenende des traditionellen Salzsiederfestes friedlich zu einem „Punkerfrühstück“ in einem Park treffen wollten, eingekesselt, zum Bahnhof transportiert, dort festgehalten und anschließend in einen Nahverkehrszug in Richtung Heilbronn gesetzt.
  • Der Nürnberger Sozialarbeiter Peter Meusch berichtete von einem geistig Behinderten, der, nachdem er nachts am Königstor mit einer Bierbüchse in der Hand angetroffen wurde, einen Bußgeldbescheid über 73 DM erhielt. Der Mann verfügte als Bewohner des Obdachlosenheims Großweidenmühle über 116 DM Taschengeld im Monat.
  • Ebenfalls in Nürnberg: Wer „aus einschlägigen Kreisen“ stammend mehr als dreimal mit Alkohol im bahnhofsnahen U-Bahn-Verteiler angetroffen wurde, erhielt ein einjähriges Hausverbot.
  • Für das Jahr 2000 schrieb der bayerische Innenminister Günther Beckstein einen Wettbewerb „Saubere Stadt“ aus. In dem Ausschreibungstext wird der Begriff „sauber“ gleichgesetzt mit dem „Abbau belästigender Verhaltensweisen“ wie „aggressives“ Betteln oder „Lärmen“.
  • Auch in Düsseldorf verglich eine Stadtmarketing-Firma, die unter dem Namen „Pro Düsseldorf“ ein Konzept für die Aufwertung der Innenstadt entwickeln sollte, im Rahmen der ersten Präsentation ihres Vorhabens Taubenkot und Graffiti mit „Berbern und Pennern“.
  • Stuttgarter Polizisten verstießen immer wieder gegen den § 221 Strafgesetzbuch (Aussetzung), so auch in einem Fall, in dem sie einen volltrunkenen Wohnungslosen in der Stuttgarter Innenstadt aufgriffen und in der Nähe der Autobahnraststätte „Sindelfinger Wald“ an der vielbefahrenen Autobahn Stuttgart-Singen aussetzten. Der Mann wurde später in hilflosem Zustand auf dem Standstreifen der gefährlichen Strecke aufgegriffen.
  • Speziell in touristisch attraktiven Städten und Gemeinden werden in die Standardpolizeiverordnungen zusätzliche Sonderbestimmungen aufgenommen, die – um zahlungskräftigen Gästen einen möglichst ungestörten Genuss zu ermöglichen – Personengruppen in diskriminierender Weise ausgrenzen. So bestimmen die Verordnungen mehrerer Bodenseegemeinden, dass „der Aufenthalt am Seebereich nicht gestattet (ist für) Personen mit abstoßenden Krankheiten.“
  • Einige bayerische Städte erlassen Bußgeldbescheide in beträchtlicher Höhe wegen „Niederlassens zum Alkoholgenuss außerhalb der zugelassenen Freischankflächen“.
  • In Augsburg, Stuttgart, aber auch vereinzelt in kleineren Orten wird eine durch Mitarbeiter der Wohnungslosenhilfe geleistete Beratung der Betroffenen darüber, in welcher Weise sie gegen Bußgeldbescheide vorzugehen vermögen, als „unzulässige rechtliche Beratung“ inkriminiert.

Platzverweise, Betretungs- und Aufenthaltsverbote

Das Abschieben, Hinausweisen und Fortjagen als populäre Umgangsformen mittlerer Brutalität besitzen eine jahrhundertealte Tradition. Das Pariser Stadtparlament beschloss im Jahre 1516, dass alle Vagabunden (vaccabons, oysifs, camens, maraulx et belistres, puissans et sains de leurs membres) unverzüglich die Stadt zu verlassen hatten.[6] Ende des 18. Jahrhunderts kam es zwischen Österreich und den zahllosen deutschen Kleinstaaten zu „Bettelschüben“. Arme ohne Pass wurden über die Landesgrenzen abgeschoben: „Von einem Sammellager bei Linz aus ging zweimal im Jahr der Schub, der aus mehreren Hunderten Personen bestand, unter starkem militärischen Schutz nach Bayern und von hieraus auf verschiedenen Routen von Territorium zu Territorium weiter.“[7]

In dieser Tradition stehen die Platzverweise und Aufenthaltsverbote moderner Stadtordnungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, wobei die Städte und Gemeinden eine Vorreiterrolle einnahmen, die sich (touristisch) besonders attraktiv geben wollen. Wie bereits erwähnt, wollte man in Baden-Baden bereits in den 70er Jahren ein generelles Aufenthaltsverbot für „Stadt- und Landstreicher“ aussprechen. Bis in die frühen 80er Jahre zurück gehen die Versuche in Hannover, Wohnungslose und Drogenkonsumenten aus der Passerelle – einer in den 70er Jahren gebauten Verbindung zwischen der Innen- und der Oststadt – zu vertreiben. Die als „Junkie-Jogging“ bekannt gewordenen Vertreibungen von Drogenkonsumenten in Frankfurt, Stuttgart und anderen Großstädten besitzen eine langjährige Tradition. Die seit 1984 veranstalteten Hannoveraner „Chaostage“ waren ursprünglich ein harmloses Treffen der bundesdeutschen Punkszene, das sich bis zum Jahr 1995 zum „Bürgerkrieg“ („BILD“) zwischen Jugendlichen und Polizei hochschaukelte. Und weil angeblich bei diesem Aufeinandertreffen die Punks die bessere Strategie besaßen und PolizistInnen an verschiedenen Punkten der Stadt in gefährliche Hinterhalte gelockt wurden, dealten SPD und CDU im Landtag eine Änderung des niedersächsischen Polizeigesetzes aus. Danach braucht die Polizei keine richterliche Genehmigung, um erstens ganze Städte sperren und Verdächtige abweisen zu können, zweitens an jedem beliebigen Punkt Kontrollstellen zu errichten, drittens Platzverweise auszusprechen und viertens mögliche Störenfriede bis zu vier Tagen in Unterbindungsgewahrsam festhalten zu dürfen.

Platzverweise und Aufenthaltsverbote werden in der Mehrzahl der Fälle gegen Personen verhängt, die der Drogenszene zugerechnet werden. Generelle, auf genau beschriebene innerstädtische Örtlichkeiten bezogene Platzverweise sowie Aufenthaltsverbote von drei Monaten und länger sind keine Seltenheit. Die Rechtsprechung hat gerade für die genannte Personengruppe sehr weitreichende Aufenthaltsverbote abgesegnet. So bestätigte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) im Februar 1999 den Bescheid der Stadt München, der einem der dortigen Drogenszene zugerechneten Bürger untersagte,

„sich in dem Zeitraum von zwölf Monaten ab Zustellung des Bescheids auf allen öffentlichen Straßen, Wegen und Plätzen in den Bereichen der näheren Umgebung des Hauptbahnhofs einschließlich des Alten Botanischen Gartens, der Gebiete um die Bereiche der U-Bahnhöfe Universität und Gieselastraße einschließlich Leopoldstraße, der Münchner Freiheit mit angrenzendem nördlichen Bereich, des Ostbahnhofs und des Orleansplatzes einschließlich der Orleansstraße und der Postwiese gemäß den schraffierten Flächen in den anliegenden Lageplänen aufzuhalten“.[8]

Es handelte sich nicht nur um den Ausschluss von einzelnen Orten mit Brennpunktcharakter. Mit der beschriebenen Fläche waren der betroffenen Person weite Teile der Münchner Innenstadt unzugänglich. Unverhältnismäßig war die gewählte Sanktion auch, da bei dem Betroffenen kurz vor Weihnachten des Jahres 1997 – also rund ein Jahr vor dem Bescheid – lediglich 2,3 Gramm Haschisch sichergestellt worden waren, die er zuvor zum Kauf angeboten hatte. Dennoch erklärte der VGH in den Leitsätzen seines Beschlusses:

„1. Das von der Landeshauptstadt München als Sicherheitsbehörde gegenüber dem Antragsteller verfügte Aufenthaltsverbot für bestimmte näher umrissene Stadtgebiete verletzt nicht dessen Recht auf Freiheit der Person i. S. des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz, Art. 102 Bayerische Verfassung.
2. Ein Aufenthaltsverbot für bestimmte näher festgelegte Stadtgebiete für die Dauer von 12 Monaten verstößt nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn dem Betroffenen gestattet ist, diese Gebiete zu betreten und sich dort zeitlich begrenzt aufzuhalten, um Angelegenheiten des täglichen Lebens dort zu erledigen (z.B. Behördengang, Benützung öffentlicher Verkehrsmittel).“

Der Beschluss steht keineswegs nur für die scharfe bayerische Linie, die sich wie ein roter Faden durch alle Urteile des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes sowie nachgeordneter Gerichte zieht. Beiläufig schränkt das Urteil auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ein:

„Ein Aufenthaltsverbot ist aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nur gegen solche Personen gerechtfertigt, die in besonderer Weise an der Bildung und Aufrechterhaltung der offenen Drogenszene beteiligt sind. Dies können Drogenhändler oder Drogenkonsumenten sein, im Einzelfall aber auch Personen, die auf sonstige Weise nachhaltig zur Verfestigung zur Drogenszene beitragen … Auch wenn der Antragsteller, wie er behauptet, weder Drogenhändler noch Drogenkonsument ist, trägt er durch die Häufigkeit, Dauer und Intensität seiner Kontakte zur Etablierung und Verfestigung der offenen Drogenszene bei.“

Von der Zurückdrängung des Sozialen

Ein weiteres Modell der Zukunft scheint eine Aufgabenteilung zwischen Polizei und privaten Sicherheitsdienstleistern zu sein. Diese Arbeitsteiligkeit vollzieht sich nicht immer planmäßig und ist auch nicht im Sinne aller Polizeiführungen. Manche Polizeipräsidenten stehen den auf eine radikale „Entmonopolisierung des Staates“ ausgerichteten Thesen der „New Realists“ aus Angst vor einem Machtverlust der Polizei bisweilen skeptisch gegenüber. Nicht unattraktiv scheint es der Polizei allerdings, weniger attraktive Aufgaben privaten Firmen zu überlassen. Hierzu gehören Streifendienste in Verkehrsbauwerken, die Begleitung von U- und S-Bahnen oder die Überwachung „gefährlicher Orte“. Eine weitere Dynamisierung der „Police Private Partnership“ hat ihre Ursache darin, dass viele Behörden angesichts leerer Haushaltskassen den verlockend günstigen Anbietern nicht widerstehen können. In den alten und den neuen Bundesländern beschäftigen Sicherheitsfirmen ihre MitarbeiterInnen unter Umgehung von arbeits- und tarifrechtlichen Bestimmungen. Wach- und Sicherheitsdienste sind die wichtigsten Akteure einer Boombranche und zugleich Hoffnung von Arbeitslosen aus unterschiedlichen Berufsgruppen. Meist nur schlecht für ihre speziellen Aufgaben ausgebildete „Sicherheitskräfte“ arbeiten zu Stundenlöhnen von unter sieben Euro. Eine schillernde Vielfalt prägt das Gewerbe. Gestrauchelte und Zukurzgekommene finden sich ebenso unter den MitarbeiterInnen wie ehemalige PolizistInnen und Soldaten. Die Ausbildung beschränkt sich auf Kurse, die oftmals weniger als 40 Stunden umfassen. Ungeachtet zahlreicher qualitativer Mängel hat die Branche ihren Umsatz innerhalb von zehn Jahren verfünffacht. Die Zahl der Beschäftigten stieg von weniger als 50.000 im Jahr 1987 auf über 300.000 im Jahr 2003.

Soziale Arbeit befindet sich in vielen Situationen ihres professionellen Handelns in Widersprüchen, in die sie gelegentlich aus eigenem Antrieb gerät, die ihr allerdings häufig auch im Kontext der neuen Ausschluss- und Kontrollpolitiken zugewiesen werden. Sie muss sich zwischen dem staatlichen Versorgungs- und Normalisierungsauftrag einerseits und den konkreten Bedürfnissen und Rechten der Klienten andererseits behaupten. Die mit diesem „doppelten Mandat“ zusammenhängenden Fragen und Probleme sind eine „alte Angelegenheit“ der Professionalisierungsdebatte in der Sozialarbeit: Nagel und Rieckmann sehen in diesen Konflikten drei Komponenten eines sozialarbeiterischen Standpunktes: Zum einen geht es um Fürsprache, um Mobilisierung von Verständnis für soziale „Randgruppen“. Sozialarbeit trage zweitens auch selbst zur Segregation bei – und zwar da, wo Menschen in einer elenden Lebenssituation sich selbst überlassen werden, wo zu hochschwellige Angebote und Konzepte ausgrenzende Wirkungen entfalten. Im Überlebenskampf Sozialer Arbeit komme es drittens immer wieder zu Situationen, in denen ihre Auftraggeber eine in ihrem Sinne wirksam werdende „Problemlösungskompetenz“ unter Beweis gestellt sehen möchten.[9]

Die nicht mehr zu übersehende Flut von Regelungen und Interventionen wird bürgerschaftliche Gegenwehr weiter erschweren. Ungeachtet aller technischen Neuerungen im Sicherheits-, Überwachungs- und Vertreibungswesen bleibt freilich ein alter Kern beständig: der Versuch der Entstörung einer sich gestört fühlenden Öffentlichkeit. Von den alten Armenordnungen bis zu „Zero Tolerance“ besteht eine nahezu bruchlose Kontinuität des repressiven Umgangs mit Gruppen, die die vormals feudalistische und heute bürgerliche Ordnung des öffentlichen Raums zu stören drohen. Die Geschichte hat gezeigt, dass die erzielten Effekte eher mäßig sind: „‚Alles, was wir erreichen können‘, so drückte es einmal ein für die öffentliche Ordnung einer Großstadt verantwortlicher Polizist aus, ‚ist nichts anderes, als das Elend auf Trab zu halten und im Kreise herumzuführen‘“.[10]

Titus Simon[11] ist Professor mit dem Schwerpunkt „Jugendarbeit und Jugendhilfeplanung“ an der Hochschule Magdeburg-Stendal.
[1] Beste, H.: Thesen zum Strukturwandel sozialer Kontrolle, Frankfurt/M. 1997
[2] Simon, T.: Wem gehört der öffentliche Raum?, Opladen 2001
[3] Holm, H.; Stumpf, K.: Wem gehört die Stadt? Bestandsaufnahme von Aufenthaltsverboten auf öffentlichen Straßen und Plätzen in Köln, Köln 1998
[4] Schneider, S.: Tabula rasa am Bodensee. Sauberer isch’s konstanzerischer, in: Gefährdetenhilfe 1993, H. 2, S. 71 f.
[5] Simon a.a.O. (Fn. 2), S. 129 f.
[6] Geremek, B.: Geschichte der Armut, München, Zürich 1988, S. 161
[7] Loening, E.: Handbuch der politischen Ökonomie, Tübingen 1898, zit. n.: Sachße, C.; Tennstedt, F.: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Stuttgart 1980, S. 111
[8] Bayerischer Verwaltungsgerichtshof: Beschluss v. 18.2.1999 (Az.: 24 CS 98.3198), in: Bayerisches Verwaltungsblatt 2000, H. 3, S. 85 f.
[9] Nagel, S.; Rieckmann, H.-J.: Grenzen des sozialarbeiterischen Standpunktes, in: Wohnungslos 1999, H. 4, S. 161; vgl. Simon a.a.O. (Fn. 2), S. 148
[10] Geiger, M.: Bürger, Bettler, Punker, Polizisten. Die Stadt, die Armut und das Elend auf der Straße, in: Sozialmagazin 1996, H. 5, S. 28-32 (31)
[11] neuere Veröffentlichungen: Hufnagel, R.; Simon, T.: Problemfall Deutsche Einheit, Wiesbaden 2004; Simon, T. (Hg.): Spurensuche. Fachliche und politische Konsequenzen für die Jugendarbeit mit rechten Jugendlichen, Magdeburg 2005