Literatur

Zum Schwerpunkt

Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts über das Niedersächsische Sicherheits- und Ordnungsgesetz und des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs über das Verfassungsschutzgesetz des Landes haben noch keine größere Resonanz in der Fachöffentlichkeit gefunden, weil sie erst wenige Monate alt sind. Beide Urteile stehen in der Tradition der Urteile zum „Großen Lauschangriff“ und zur präventiven Telefonüberwachung durch das Zollkriminalamt. Dabei hat das Verfassungsgericht nicht nur den absoluten Schutz eines „Kernbereichs privater Lebensgestaltung“ bekräftigt, sondern auch einige Fragen beantwortet, die die Entscheidung zum Abhören von Wohnungen aufgeworfen hatte. Insbesondere war nach diesem Urteil strittig, inwieweit seine Maßstäbe auch für andere verdeckte Ermittlungsmethoden gelten und ob sie gleichermaßen an die (präventiven) Eingriffsbefugnisse des Polizeirechts anzulegen seien.

Märkert, Werner: Rechtliche und kriminaltaktische Anmerkungen zur Entscheidung des BVerfG zur akustischen Wohnraumüberwachung unter präventiven Gesichtspunkten, in: Kriminalistik 2004, H. 11, S. 443-448

Peilert, Andreas: Die verdeckte präventiv-polizeiliche Wohnraumüberwachung in Rheinland-Pfalz, in: Die Kriminalpolizei 2005, H. 3, S. 86-89

Die beiden Aufsätze seien stellvertretend genannt für die polizeilichen bzw. polizeinahen Reaktionen auf das Lauschangriffsurteil. Ihr Grundtenor ist dadurch gekennzeichnet, dass das Urteil kritisiert wird, weil es die polizeiliche Arbeit erschwere. Es ist deshalb konsequent, wenn die Autoren die Reichweite des Urteils möglichst zu begrenzen suchen. Unter Bezug auf die in Art. 13 Grundgesetz vorgenommene Unterscheidung zwischen präventiv und repressiv motivierten Eingriffen in das Grundrecht, gelten nach Ansicht Peilerts die Kriterien des Verfassungsgerichts nicht für polizeirechtliche Regelungen. Sein Plädoyer für die Ausweitung des Straftatenkatalogs zeigt, was eine solche Interpretation praktisch bedeuten kann. In Märkerts Beitrag überwiegt die ermittlungspraktische Perspektive. Interessanterweise führt seiner Ansicht nach der „absolute Schutz“ der Privatsphäre dazu, dass Zielpersonen und -objekte intensiver durch andere verdeckte Methoden (VE, VP, Observationen) überwacht werden müssten, damit eine Verletzung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung möglichst ausgeschlossen werden könne!

Schaar, Peter (Hg.): Folgerungen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur akustischen Wohnraumüberwachung: Staatliche Eingriffsbefugnisse auf dem Prüfstand?, Bonn 2004 (abrufbar unter: www.bfdi.bund.de)

Roggan, Fredrik (Hg.): Lauschen im Rechtsstaat. Zu den Konsequenzen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum großen Lauschangriff, Berlin 2004

Beide Sammelbände sehen in dem Urteil Maßstäbe entwickelt, die für alle verdeckte Methoden gelten, sofern sie jenen Kernbereich berühren. Dies betreffe nicht allein das Strafprozessrecht, sondern ebenso das Polizeirecht und das Recht der Nachrichtendienste. Der von Schaar herausgegebene Sammelband enthält Vorträge und Diskussion eines Symposiums, dass der Datenschutzbeauftragte des Bundes im November 2004 veranstaltete. In seinem Beitrag „Überwachungsrecht unter Novellierungsdruck“ verlangt Manfred Baldus „würdeschützende Vorkehrungen“ in allen einschlägigen Gesetzen. Zwar seien Prävention und Repression unterschiedlich zu regeln, aber die Gesetzgeber könnten sich „nicht der Pflicht entziehen, einen flankierenden Grundrechtsschutz zu gewährleisten und dabei auch die würdeschützende Funktion der Verhältnismäßigkeitsanforderungen zu beachten“ (S. 22). Baldus identifiziert einen erheblichen Nachbesserungsbedarf in den Polizei- und Geheimdienst­gesetzen, der nun realisiert werden müsse. Das Verfassungsgericht habe „in mutiger Weise Position bezogen“. Diese Wertschätzung wird in dem nachfolgenden Beitrag von Friedhelm Hufen durchaus relativiert, indem er etwa darauf hinweist, dass das Gericht in seiner Vorstellung vom Kernbereich einer „eher atypischen soziokulturellen Idylle“ anhänge.

Der von Roggan herausgegebene Sammelband enthält die Beiträge einer Tagung, zu der die Humanistische Union im Juni 2004 geladen hatte. Mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Burkhard Hirsch sind zwei der erfolgreichen Lauschangriff-Kläger unter den AutorInnen vertreten. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts wird durchweg begrüßt. Sowohl im Strafprozessrecht wie im Polizeirecht und dem der Nachrichtendienste seien umfangreiche Novellierungen erforderlich, um sowohl den „Kernbereich“ vor staatlicher Ausforschung zu schützen als auch das geforderte hohe Niveau von Eingriffsschwellen außerhalb des Kernbereichs zu realisieren. Trotz grundsätzlicher Sympathie werden aber auch einige Probleme der neuen Rechtsprechung deutlich. So verweisen Kutscha/Roggan in ihren Ausführungen über die Folgen für das Polizeirecht darauf, dass der „absolut geschützte Kernbereich“ durchaus keinen absoluten Schutz genießen könne, sofern in ihm über Verbrechen geredet oder begangen oder „die Sphäre anderer oder Belange der Gemeinschaft“ (Bundesverfassungsgericht) berührt würden. Edda Weßlau weist in ihren Ausführungen über die strafprozessualen Folgen des Urteils darauf hin, dass das Gericht durch seinen ausschließlichen Bezug auf die durch das Abhören ggf. beeinträchtigte Menschenwürde andere Verfassungsprinzipien vernachlässigt hätte – etwa das Prinzip eines fairen Strafverfahrens. Insofern handele es sich um ein durchaus „zweischneidiges“ Urteil.

Kutscha, Martin: Neue Grenzmarken des Polizeiverfassungsrechts, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2005, H. 11, S. 1231-1234

Der Aufsatz stellt einen ersten Versuch dar, die Konsequenzen der jüngeren Verfassungsgerichtsurteile und des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs über die Abgrenzung von Polizei- und Verfassungsschutzaufgaben darzustellen. Kutscha weist darauf hin, dass das sächsische Urteil Bedeutung über das Bundesland hinaus haben wird, weil das Gericht allen Versuchen eine Absage erteilt, die das Trennungsgebot von Polizei und Geheimdiensten in ein Gebot zur Herstellung eines Informationsverbundes uminterpretieren wollen. Ob sich diese Auffassung etwa bei der Bewertung des Berliner Terrorismusabwehrzentrums durchsetzt, bleibt abzuwarten. Der Autor würdigt das Urteil zum niedersächsischen Polizeigesetz, weil es „keine lineare Fortschreibung“ der Abhörurteile des Gerichts darstelle, die bislang durchweg von Rücksichten auf die „Effektivität des sicherheitsbehördlichen Handelns“ bestimmt waren. Indem das Gericht einen „absolut geschützten Kernbereich der privaten Entfaltung des Bürgers“ anerkannt habe, gehöre diese Rechtsauffassung der Vergangenheit an. Damit ist aber noch nicht darüber entschieden, zu welcher Art von Befugnissen die Kernbereichs-Doktrin führen wird. Fest steht allein, dass die Debatte über die Zulässigkeit verdeckter Polizeimethoden durch die Gerichtsentscheidungen in eine neue Phase eingetreten ist.

Sonstige Neuerscheinungen

Lange, Hans-Jürgen; Schenck, Jean-Claude: Polizei im kooperativen Staat (Studien zur Inneren Sicherheit, Bd. 6), Wiesbaden (Verlag für Sozialwissenschaften) 2004, 462 S., EUR 39,90

Seit den 1990er Jahren hat die jüngste Welle der Verwaltungsreformen auch die Polizeien in Deutschland erreicht. Mit der programmatischen Absicht, betriebswirtschaftliches Denken in die öffentliche Verwaltung einzuführen, und befördert von den staatlichen Haushaltsproblemen heißen die Zauberwörter nun „New Public Management“, „Neues Steuerungsmodell“, „Zielvereinbarung“, „Budgetierung“, „dezentrales Ressourcenmanagement“ etc. Die vorliegende, von der Hans-Böckler-Stif­tung finanzierte Studie untersucht die Möglichkeiten, die Umsetzung und die Grenzen ökonomischer Steuerung polizeilichen Handelns. Neben einer Bund und Länder umfassenden Übersicht über den Stand der Verwaltungsreform im Allgemeinen und deren polizeispezifischer Ausprägung im Besonderen (Kap. 5), wird die Implementation des Neuen Steuerungsmodells (NSM) in die nordrhein-westfälische Polizei analysiert. Gestützt auf 138 Experteninterviews oder teilnehmende Beobachtungen, die sich vom Innenministerium über verschiedene Abteilungen des Landeskriminalamtes bis auf die Ebene von Kommissariaten oder Wachgruppen bei Kreispolizeibehörden erstreckten, ist ein plastisches Bild über die einzelnen Elemente des NSM und über die Schwierigkeiten ihrer Realisierung entstanden (Kap. 6).

Nur exemplarisch kann an dieser Stelle auf den Komplex „Zielvereinbarungen“ hingewiesen werden. Angelegt als „top down“-Prozess werden die ministeriellen Vorgaben („Landesziele“) auf den nachgeordneten Ebenen „kleingearbeitet“ und auf die lokalen Verhältnisse angewandt. Dieses Verfahren gerät schnell an eine doppelte Grenze, die bestimmt wird durch das Legalitätsprinzip auf der einen, den fehlenden zeitlichen Freiräumen auf der anderen Seite. Mangelnde Akzeptanz und mangelnde Bedeutung für die Praxis sind die Folge. Statt die vereinbarten Ziele zu erreichen, wird dann (Stichwort: Outputsteuerung) kreativ mit der Arbeitsstatistik umgegangen, so dass die Ziele als erreicht vorgetäuscht werden: „Die Imagination der (statistischen) Zahlenwelt überzeugt als solche“ (S. 330).

Auch jenseits der engeren Bestandsaufnahme ist die Untersuchung mit Gewinn zu lesen. So werden mehrfach die Besonderheiten von Polizei als Eingriffsverwaltung und der Widerspruch zwischen Ökonomisierung und der „Staatsaufgabe Sicherheit“ betont. Die besondere bürgerrechtliche Sensibilität von Polizeifragen wird betont. Deshalb wird weitgehenden Privatisierungstendenzen eine klare Absage erteilt. Die Autoren vertreten eine vermittelnde Position, indem sie für die Aufnahme einzelner Elemente (Budgetierung, dezentrale Ressourcenverwaltung) in die Polizei plädieren. Andere Aspekte sind hingegen wenig überzeugend: So setzen die Autoren ihre demokratische Hoffnung mehrfach auf die Stärkung der Parlamente (S. 353, 417). Auch dass die größten Gefahren nicht in einem „starken“ Staat, sondern in der „Diffusion staatlicher Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten“ liegen soll (S. 367), scheint durchaus fraglich.

Die interessanten Befunde und Schlussfolgerungen sind leider eingebettet in mehrere zwar nachvollziehbare, aber nur schwer verdauliche Kontexte. Zum einen zeichnen die Autoren die mit dem NSM verbundenen Entscheidungsprozesse nach. Dadurch wird das betriebswirtschaftliche Vokabular um das der Policy-Analyse erweitert, ohne dass derart die Überzeugungskraft der Argumentation zunimmt. Zum anderen wird die Verwaltungsmodernisierung in Relation zu verschiedenen „Staatsverständnissen“ gesetzt (schlanker, funktionaler, aktivierender Staat) – obgleich die Analyse eindeutig belegt, dass es keinen Zusammenhang zwischen den politischen Parolen und den realen Modernisierungsschritten gibt. Schließlich plädieren Lange/Schenck für den „kooperativen Staat“, dessen Polizei sich dadurch auszeichnen soll, dass sie bereit und in der Lage ist, ihre Aufgaben im Zusammenwirken mit anderen gesellschaftlichen Kräften wahrzunehmen. Am Ende wird dies zudem noch mit konkreten Empfehlungen für die nordrhein-westfälische Polizei (u.a. Bildung größerer Einheiten, denen Ressourcenverantwortung übertragen werden kann) versehen. Insofern handelt es sich nicht um ein Buch, sondern um wenigstens vier Bücher in einem.

Möllers, Martin H.W.; van Ooyen, Robert Chr. (Hg.): Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2004/2005 (Schriftenreihe Polizei und Wissenschaft), Frankfurt/M. (Verlag für Polizeiwissenschaft) 2005, 550 S., EUR 39,–

Zum zweiten Mal ist das „Jahrbuch Öffentliche Sicherheit“ erschienen. Nach dem Selbstverständnis der beiden Herausgeber – Dozenten für Politik- bzw. Rechts- und Verwaltungswissenschaft am Fachbereich Bundespolizei der Fachhochschule des Bundes – dient das Jahrbuch der „kritische(n) Begleitung und Reflexion“ der Öffentlichen Sicherheit. Auf 550 Seiten versammelt der Band insgesamt 35 Beiträge, die in sechs thematische Gruppen gegliedert sind: „Extremismus“, „Öffentliche Sicherheit in Deutschland“, „Europäische Sicherheitsarchitektur“ und „Internationale Sicherheit“ gliederten bereits das erste Jahrbuch; der vorliegende Band wurde um die beiden aktuellen Komplexe „Herausforderungen globaler Sicherheit“ und „Menschenwürde und Sicherheit“ erweitert. Während unter globaler Sicherheit die Folgen von Klimaveränderungen und -politik sowie die wachsende Vernetzung von Gesellschaften thematisiert werden, ist der Themenschwerpunkt „Menschenwürde“ der mit dem Fall Daschner verknüpften „Folterdebatte geschuldet. In dieser Frage geben die Herausgeber ihre Zurückhaltung auf, und weisen „mit Nachdruck“ auf die „ungeheuren und schädlichen Folgen“ hin, die „allein schon das Lostreten der ‚akademisch-staatsrechtlichen‘ Diskussion auf den Bereich der praktisch orientierten Polizeiausbildung gehabt“ habe. Bereits das Eröffnen dieser Diskussion sei „unverantwortlich“.

In einer kurzen Besprechung ist das Jahrbuch kaum zureichend zu würdigen. Gemessen an seinem eigenen Anspruch wären drei Fragen zu prüfen: 1. Werden die relevanten Themen aus dem Bereich „öffentliche Sicherheit“ für den angegebenen Zeitraum behandelt? 2. Ist die Lektüre informativ? 3. Handelt es sich um die versprochene „kritische“ Begleitung? Die erste Frage ist zu bejahen. Die thematische Spannweite ist erheblich: „Großer Lauschangriff“, Guantánamo, Rechtsextremismus, Islamismus, Luftsicherheitsgesetz, westeuropäische Terrorismusbekämpfung, Polizeiaufbau im Balkan etc. Daneben werden einige aktuelle Monografien in Aufsätzen der Autoren zusammenfasst: Lange/Schenck (s.o.), J. Kinzig über Organisierte Kriminalität und W. Schulte über die politische Bildung in der Polizei. Zudem enthält der Band einige Beiträge zu Themen, die eher selten behandelt werden: etwa die Rückschau auf die Hamburger Polizeikommission oder – aufgeteilt auf zwei Beiträge – ein Portrait des neuen „Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe“.

In der Regel unterscheiden sich die Beiträge von Sammelbänden in Informationsgehalt und (kritischer) Haltung der AutorInnen. Dies ist auch hier der Fall. Insgesamt sind die Beiträge informativ. Dies gilt selbstverständlich für ansonsten eher unterbelichtete Themen, aber auch für etablierte wie – um nur zwei Beispiele zu nennen – das Verfassungsgerichtsurteil zum großen Lauschangriff (M.H.W. Möllers) oder die Polizeiliche Zusammenarbeit in der Europäischen Union (M. Baldus). Im Hinblick auf das Kriterium der „Kritik“ weisen die Teile des Bandes die größten Unterschiede auf: neben explizit kritischen Beiträgen (etwa R. v. Ooyen über Islamismus oder B. Schäfer über Guantánomo) stehen bloße Beschreibungen von Sachverhalten (etwa M. Kastner zur Sicherungsverwahrung oder C. Cremer zu Transparency International) oder Abhandlungen, die sich mit einer eher immanenten kritischen Würdigung begnügen (etwa E.M. Giemulla zum Luftsicherheitsgesetz oder W. Knelangen zur EU-Terrorbekämpfung). Aber auch in diesen Aufsätzen steht das Dargestellte eigenem Weiterdenken nicht im Wege. Insofern lohnt die Investition in jedem Fall.

(sämtlich: Norbert Pütter)

Ulbrich, Claudia; Jarzebowski, Claudia; Hohkamp, Michaela (Hg.): Gewalt in der frühen Neuzeit. Beiträge zur 5. Tagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im VHD, Berlin (Duncker & Humblot) 2005, 408 S., EUR 98,–

Das ist ein Sammelband mit erfreulich vielen gut recherchierten, knappen, aber durchgehend anregenden Beiträgen zum bekanntlich uferlosen Thema „Gewalt“, hier in den Jahrhunderten der Frühen Neuzeit beob­achtet und vorsichtig begrifflich gefasst. Das Spektrum der Beiträge reicht von Massakern, über Gewalt als kritischem und konstruktivem Teil von Leitbildern, institutionelle Formen von Gewalt im Zuge Staat fördernder Herrschaftsverdichtung, die Rolle von Gewalt zwischen Staaten und Kulturen bis zu Gewaltphantasien. Gerade wer sich mit der Entstehung und den Funktionen des modernen Staates als Gewaltträger befasst und darum an der Kontinuität und Diskontinuität des zuerst gewaltgeborenen, dann Gewalt monopolisierenden, zunächst personal verkörperten Staates interessiert ist, kann aus den diversen Beiträgen über verschiedene Gewaltdimensionen und -ausdrücke eine Menge Stoffliches und Perspektivisches erfahren. Hans Medicks Bemerkung aus seinem einleitenden Beitrag zur Sektion „Massaker in der Frühen Neuzeit“ gilt entsprechend verändert durchgehend: „Auch Massaker sollten stärker als bisher als Momente der staatenbildenden Gewaltprozesse im frühneuzeitlichen Europa gesehen werden“ (S. 19).

Obwohl sich die Herausgeberinnen offenkundig große und vom gut komponierten Band belohnte Mühe gegeben haben, keinen auseinanderfallenden Blumenstrauß diverser Beiträge zu präsentieren, haben sie es leider versäumt, über den einleitenden Beitrag hinaus eine zusammenfassende Summe zu ziehen – und hätte dieselbe noch so lückenhaft und plural ausfallen müssen. Immerhin binden sie vorweg ihren Strauß zusammen. In der Einleitung heißt es unter anderem, heute mehr denn je bedenkens- und befolgenswert: „Die Frage nach Gewalt ist in der Frühen Neuzeit immer die Frage nach Herrschaft und Herrschaftsfähigkeit“ (S. 11). Den Gewaltbegriff differenzierend und zusammenhaltend zugleich formulieren die Autorinnen: „Violentia bildet gewissermaßen das Stiefkind der historischen Gewaltforschung … Denn Gewalt ist nicht an sich legitim oder illegitim. Gewalt wird in gesellschaftlichen Diskursen und Praktiken erst legitimiert oder delegitimiert. Das gilt für potestas und violentia gleichermaßen. Spannend wird es dort, wo die Analyse von Legitimations- und Delegitimationsprozessen mit Formen der intendierten und beiläufigen Inklusion und Exklusion von Wahrnehmungen und Erfahrungen von Gewalt verknüpft werden kann. Es wird deutlich, dass im Zusammenspiel von potestas und violentia strukturelle Gewaltverhältnisse erzeugt und abgesichert werden, die auf der absichtsvollen Verdeckung der violenten Anteile an – im weitesten Sinne – sozialer Praxis beruhen. Gerade ein Zugang, der sich der Untersuchung sozialer Praxis über den Umgang mit und die Verortung von violentia in einem spezifischen historischen Kontext nähert, ist geeignet, die Tragfähigkeit gesellschaftlicher ‚Konsensmodelle‘ zu hinterfragen“ (S. 12 f.). Die Geschichte, wenn man sie denn lesen kann, könnte in der Tat die Gegenwärtigen für ihre Gegenwart lernen lassen.

Münkler, Herfried: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin (Rowohlt) 2005, 332 S., EUR 19,90

Wer sich auf gewiss stattlichen 300 Seiten und etwas mehr seinen Schreibmund so voll nimmt, muss selber ‚imperial‘ verkürzt darstellen und argumentieren, wie dies der schreibgewandte Herfried Münkler in diesem Buch tut. In ihm greift er noch vor das Antike Rom und sein Imperium zurück und über die imperiale USA der Gegenwart hinaus. Er endet damit, „Europa“ Ratschläge zu erteilen, wie es sich im Rahmen des Imperiums der USA sozusagen subimperial oder neben- und zusatz­imperial benehmen soll.

Die zentrale, durchaus diskutable These des Bandes besteht in der Annahme, es bestehe eine heute weithin übersehene und in ihren herrschaftsdynamischen Konsequenzen nicht bedachte Differenz ums Ganze zwischen Staaten und ihrem internationalen Verkehr auf der einen, Imperien und ihren Über- und Unterordnungen auf der anderen Seite. Nur im Sinne einer dichten historischen Beschreibung und Analyse wird aus dieser These bestenfalls übermäßig Holzschnittartiges gemacht. Viel zu viele strittige Annahmen werden stumm vorausgesetzt, viel zu viel einschlägige Daten und Aspekte bleiben als leider nicht stimmfähige Lücken.

Für Cilip- und auch andere Leser bietet Münklers Buch, wie schon anlässlich seiner „Miterfindung“ der sogenannten Neuen Kriege erfahren werden konnte, ein überaus geteiltes und eigenes Lernen stimulierendes Lesevergnügen. In seiner Weise belesen, gebildet, nicht scheu vor simpel zusammengezogenen Argumenten kann das eine riesige geschichtliche Zeit umfassende Buch hin und wieder sehr anregen. Und sei es nur dazu, nachdenklich herauszufinden, dass man selbst methodisch und material in entgegengesetzter Richtung argumentierte. Das Missvergnügen setzt von allem Anfang dort ein, wo Münkler mit realpolitischer Geste und ganzer Sohle als jemand auftritt, der von dem ausgeht, „was (angeblich, WDN) der Fall ist“ (S. 10) und auf das zu argumentiert, was seines Erachtens, „realistisch“ versteht sich, der Fall sein müsste. Das, was Münkler am Ende unter der Überschrift „Die imperiale Herausforderung Europas“ intellektuell einzubringen vermag, ist im Gegensatz zum vollen Mund, schlichte, selbstredend die europäische Sicherheits- und Außenpolitik als eine stramme Einheit voraussetzende Magerkost.

Was den Rezensenten zuerst schier sprachlos gemacht hat und danach zugegebenermaßen vor Zorn beinahe die Stimme heiser machte, ist nicht der Umstand, dass hier ein Universitätsprofessor wieder einmal als canis dominationis, als Herrschaftshund bellt. Was angesichts auch früherer Publikationen des Autors negativ überrascht, ist mit welcher Nonchalance ein bundesdeutscher Hochschullehrer geopolitisch im uneingeschränkt herrschaftstümelnden Sinne zu reden vermag. Keine Vergangenheit und keine Gegenwart dämpft die expansive, imperial marschmusikalische Stimme. Ansonsten aber gilt: dieses Buch lohnt den Preis auch des Lesens nicht.

(beide: Wolf-Dieter Narr)