Schleichende Ausdehnung ins Vorfeld – Aktuelle Entwicklungen des Polizeirechts in der Schweiz

von Viktor Györffy

Das Polizeirecht in der Schweiz befindet sich im Wandel. Neuere gesetzliche Regelungen zeigen, dass die Polizeitätigkeit immer mehr über die bloße Gefahrenabwehr hinaus in den präventiven Bereich vorstößt. Eine bewusste Reflexion dieses Prozesses findet in der Regel nicht statt, gedanklich bewegt man sich weiterhin auf den bisherigen Pfaden.

Bis auf wenige Ausnahmen ist die Polizei in der Schweiz Sache der Kantone. In zahlreichen Kantonen ist das Polizeirecht traditionellerweise kaum gesetzlich geregelt. Auch im Kanton Zürich, immerhin dem bevölkerungsreichsten der Schweiz, fehlt bisher ein umfassender Erlass, der die Befugnisse der Polizei festlegen würde. Detailliertere Regelungen über die polizeiliche Tätigkeit existieren lediglich in Form interner, nicht öffentlich zugänglicher Dienstanweisungen.

Wo der Polizei – wie im Kanton Zürich – eine eigentliche gesetzliche Grundlage fehlt, stützt sie sich bei ihrer Tätigkeit weitgehend auf die polizeiliche Generalklausel. Diese wird definiert als der geschriebene oder ungeschriebene Rechtssatz, welcher die zuständige Behörde ermächtigt, polizeiliche Maßnahmen zum Schutz der Polizeigüter zu treffen, um eine schwere und unmittelbare Gefahr abzuwenden oder eine bereits erfolgte schwere Störung zu beseitigen.

Soweit sich der Staat auf die polizeiliche Generalklausel stützen kann, darf er ausnahmsweise Grundrechte einschränken, ohne dass er hierfür einer gesetzlichen Grundlage bedarf. Allerdings kann die polizeiliche Generalklausel einzig in Fällen zeitlicher Dringlichkeit angerufen werden. Sie darf überdies nicht herangezogen werden für Situationen, die voraussehbar sind und immer wieder vorkommen. Damit erscheint es fragwürdig, wenn die Polizei permanent ohne spezifische gesetzliche Grundlage operiert und sich nur auf die polizeiliche Generalklausel stützt.[1]

Neue Polizeigesetze

Der erste Versuch, im Kanton Zürich ein umfassendes Polizeigesetz in Kraft zu setzen, scheiterte 1983 in einem Referendum. Die Stimmberechtigten befanden die Vorlage für zu polizeifreundlich und lehnten sie mit großer Mehrheit ab. Nachdem in den letzten Jahren einige andere Kantone ihr Polizeirecht überarbeitet haben, hat nun auch der Zürcher Regierungsrat im Sommer 2005 einen neuen Polizeigesetzentwurf vorgestellt, der über weite Strecken Neuaufguss der alten Vorlage ist.[2] Einige Neuerungen hat Zürich von anderen Kantonen abgekupfert.

So soll die Polizei gemäß § 21 des Entwurfs Personen von bestimmten Orten wegweisen, fernhalten oder ihr vorübergehend den Zugang zu einem Ort verbieten können – und zwar u.a. dann, wenn die Person die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder Dritte gefährdet, wenn sie zu einer Ansammlung von Personen gehört, von der eine solche Gefährdung ausgeht oder wenn die Person durch ihr Verhalten beim Publikum, namentlich bei Passanten, Anwohnern oder Geschäftsinhabern, begründet Anstoß oder Furcht bewirkt. In besonderen Fällen, namentlich wenn eine Person wiederholt von einem Ort weggewiesen oder ferngehalten wurde, soll ihr die Polizei unter Androhung von Straffolgen für höchstens drei Monate verbieten können, den betreffenden Ort zu betreten. Der Kanton Zürich lehnt sich mit dieser Bestimmung an das Polizeigesetz des Kantons Bern an, das seit 1998 einen ähnlichen Wegweisungsartikel enthält.[3]

Insgesamt findet sich im Entwurf eine überbordende Fülle von polizeilichen Eingriffskompetenzen. Zwar enthält das Gesetz vorweg einige Grundsätze, in denen die zu beachtenden grundrechtlichen Vorgaben anklingen. Diese werden dann aber in den einzelnen Eingriffsnormen gründlich unterlaufen. Praktisch jede erdenkliche polizeiliche Kompetenz ist in den Entwurf aufgenommen worden. Gleichzeitig sind die Voraussetzungen für den Gebrauch dieser Befugnisse entweder gar nicht benannt oder derart nichtssagend formuliert, dass sie keine effektive Schwelle für den polizeilichen Zugriff bilden.

So ist in § 22 vorgesehen, dass die Polizei „zur Erfüllung ihrer Aufgaben“ – also praktisch nach Belieben – Personen anhalten kann, um ihre Identität festzustellen. Damit setzt sich der Entwurf allerdings über höchstrichterliche Vorgaben hinweg: Das Bundesgericht hat sich 1983 zu einer ähnlich lautenden Formulierung aus dem zwei Jahre zuvor erlassenen Polizeigesetz des Kantons Genf geäußert. Es erklärte diese Bestimmung zwar nicht für verfassungswidrig, aber nur, weil es – was konstanter Praxis entspricht – einen Weg fand, die angefochtene Norm mittels einschränkender verfassungskonformer Auslegung zu „retten“, so dass von den verfassungswidrigen Intentionen des kantonalen Gesetzgebers nichts mehr übrig blieb. Das Bundesgericht hielt fest, die Befugnis der Polizei zur Durchführung von Identitätskontrollen dürfe nicht zu einer Ausweispflicht für jedermann führen. Eine mündliche Befragung dürfe keinen erniedrigenden oder schikanösen Charakter erhalten oder aus reiner Neugier erfolgen. Der polizeiliche Zugriff müsse aufgrund minimaler objektiver Gründe erfolgen, etwa aufgrund einer Gefahrensituation, wenn die angetroffene Person verdächtigt wird, eine strafbare Handlung begangen zu haben, wenn sie einer gesuchten Person gleicht oder wenn sie zu einer Gruppe von Personen gehört, bei denen aufgrund von gewissen Indizien Grund zur Annahme besteht, einzelne von ihnen befänden sich in einer illegalen Situation, die die Intervention der Polizei rechtfertigt.[4]

Neue Kompetenzen, eingeebnete Eingriffsschwellen

Mit der Fülle der vorgesehenen Eingriffskompetenzen wandelt sich der Charakter der polizeilichen Tätigkeit als solcher. Auf den ersten Blick bleiben die Eingriffsnormen zwar dem herkömmlichen Konzept der polizeilichen Gefahrenabwehr verhaftet. Bei genauerem Hinsehen ist aber zu konstatieren, dass die Kombination von neuen Kompetenzen und eingeebneten Eingriffsschwellen dazu führt, dass sich die Polizei teilweise im rein präventiven Bereich bewegt, in dem von einer konkreten oder auch nur abstrakt bestehenden Gefahr weit und breit noch nichts zu sehen ist. Der polizeiliche Zugriff kann jeden treffen, auch eine Person, die nicht den leisesten Anschein erweckt, dass von ihr eine Gefahr ausgeht. Ein Beispiel dafür ist die in § 34 des Entwurfs vorgesehene Möglichkeit, „zur Erfüllung ihrer jeweiligen Aufgabe“ in öffentlich zugänglichen Bereichen Personen oder Sachen offen oder verdeckt zu überwachen und zu diesem Zweck Bild- oder Tonaufnahmegeräte einzusetzen.

Als weitere Tendenz ist auszumachen, dass der Polizei Aufgaben zugedacht werden, die ihr nach herkömmlichem Verständnis nicht zukommen. So erlaubt es § 27, eine Person u.a. dann in Gewahrsam zu nehmen, wenn sie „voraussichtlich der fürsorgerischen oder vormundschaftlichen Hilfe bedarf“. Die Polizei mutiert so zu einer (mit Zwangskompetenzen ausgestatteten) Sozialhelferin. Überdies ist in § 30 die Möglichkeit vorgesehen, eine Person aus dem Gewahrsam heraus irgendwelchen nicht näher umschriebenen „Stellen“ zuzuführen. Die Polizei hätte also die Befugnis, jemanden festzuhalten, bis sie ihn beispielsweise im Büro der Sozialhilfe abliefern kann.

Fehlende Reflexion

Diese schleichende Ausdehnung der Polizeitätigkeit ist nicht nur im Kanton Zürich zu beobachten. Es ist auch nicht untypisch, dass es in diesem Zusammenhang an einer rechtstechnischen Durchdringung der Materie fehlt und der Funktionswandel der Polizei weitgehend unreflektiert bleibt. Auch das Bundesgericht ist vor diesem Phänomen nicht gefeit, wie eine Entscheidung aus dem Jahre 2002 zeigt, bei der das Bundesgericht die Rechtmäßigkeit eines neuen Artikels 8a der Polizeiverordnung des Kantons Graubünden zu beurteilen hatte. Anlass für die neue Bestimmung war das World Economic Forum (WEF), das jährlich während einer Woche in Davos stattfindet. Seitdem dieses Treffen von Staatsoberhäuptern und Wirtschaftskapitänen ins Blickfeld der globalisierungskritischen Bewegung geraten ist, rechnet der Kanton Graubünden jeweils mit Ausschreitungen und mobilisiert Polizeikräfte aus der ganzen Schweiz (und aus Deutschland), um die Gegend in und um Davos abzusichern. Der neue Artikel der kantonalen Polizeiverordnung hat die Polizeibeamten mit umfassenden Wegweisungs- und Fernhaltebefugnissen ausgestattet.

Das Bundesgericht befand die neuen Bestimmungen für rechtmäßig. Es war der Meinung, diese gingen nicht über das hinaus, was die Polizei aufgrund der polizeilichen Generalklausel ohnehin schon darf.[5] Damit geriet dem Gericht allerdings die Realität aus dem Blickfeld: Die Polizei führt gestützt auf die neuen Bestimmungen während des WEF jeweils weit außerhalb von Davos rigorose Zutrittskontrollen durch, in denen mitunter alle hängen bleiben, die in den Augen der Polizei nach Demo oder Krawall aussehen. Von einer unmittelbaren und ernsthaften Gefahr, wie sie die polizeiliche Generalklausel voraussetzt, kann in so einer Situation regelmäßig nicht die Rede sein. Die Polizei bewegt sich dabei vielmehr weit im Vorfeld der Gefahrenabwehr.

Polizeilicher Datenhunger

Im Bereich der Datenbearbeitung operiert die Zürcher Polizei bisher ohne gesetzliche Grundlage, was weder mit der Bundesverfassung noch mit dem kantonalen Datenschutzgesetz vereinbar ist. Das soll nun behoben werden. Das vor rund einem Jahr beschlossene Polizeiorganisationsgesetz (POG) enthält eine gesetzliche Grundlage für die Datenbearbeitung und wird demnächst zusammen mit der Verordnung über das Polizei-Informationssystem POLIS (POLIS-Verordnung) in Kraft gesetzt.[6] Auch der Entwurf des Polizeigesetzes enthält Bestimmungen über die Datenbearbeitung (§§ 50 ff.). Mit der Einsicht, dass sich die Polizei endlich eine gesetzliche Grundlage geben muss, wenn sie weiterhin Daten bearbeiten will, scheint sich das Verständnis für den Datenschutz allerdings weitgehend erschöpft zu haben: An der bisherigen Praxis der polizeilichen Datenbearbeitung wurde von datenschützerischer Seite nicht nur die fehlende gesetzliche Grundlage bemängelt, sondern auch der Umstand, dass die Datenbank der Polizei oft falsche und veraltete Informationen enthält. Wer einmal aufgrund eines laufenden Strafverfahrens in den Polizeicomputer geraten ist, bleibt darin gespeichert, ohne dass das Ergebnis des Strafverfahrens später nachgetragen würde. Auch in anderen Konstellationen war die Korrektur unrichtiger Einträge bisher eine dornenvolle Geschichte. Nach dem Willen der Polizei soll zwar in Zukunft die Berichtigung falscher Daten erleichtert werden. Die Polizei ist aber weiterhin nicht bereit, ihre Daten in Bezug auf den Stand eines Strafverfahrens aktiv nachzuführen. Wer seine Daten berichtigt haben will, soll sich selber darum kümmern.

Im Entwurf des Polizeigesetzes soll nun zusätzlich für eine – bereits bestehende – Hooligan-Datenbank eine gesetzliche Grundlage geschaffen werden. Anlass dafür ist die Fußball-Europameisterschaft, die 2008 in Österreich und der Schweiz ausgetragen wird.[7] Die Polizei soll Daten über gewaltbereite Personen bearbeiten und an gefährdete Stellen und Personen weiterleiten können. Der Begriff der „gewaltbereiten Person“ stammt aus der politischen Debatte und ist kaum justiziabel. Es wäre praktisch dem Belieben der Polizei überlassen, wen sie mit diesem Label versehen und in die Hooligan-Datenbank einspeisen will. Einmal erfasst, sollen die Daten zehn Jahre gespeichert bleiben.

Die Polizeigesetz-Vorlage des Zürcher Regierungsrates ist von verschiedener Seite kritisiert geworden. Die Kritik richtet sich in erster Linie gegen den geplanten Wegweisungsartikel. Der Entwurf wird nun noch einmal von der Verwaltung überarbeitet und dann ins Gesetzgebungsverfahren eingebracht. Am Ergebnis der parlamentarischen Beratung und einer eventuellen Volksabstimmung wird sich ablesen lassen, in wie weit der im Entwurf zum Ausdruck kommende Paradigmenwandel in der Polizeitätigkeit von den Politikern und von der Stimmbevölkerung des Kantons mitgetragen wird. Vorausgesetzt, man ist sich dieses Wandels überhaupt bewusst. Dass die Zürcher Regierung in den Erläuterungen zum Entwurf kühn behauptet, es gehe nur darum, die bestehenden geschriebenen und ungeschriebenen Regelungen, einschließlich der grundrechtlichen Vorgaben, zusammenzufassen, lässt nichts Gutes ahnen.

Viktor Györffy ist Rechtsanwalt in Zürich und St. Gallen und Mitglied der Redaktion von plädoyer, Magazin für Recht und Politik.
[1] vgl. Häfelin, U.; Müller, G.: Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Aufl., Zürich 2002, Rz. 2431 ff. und Rz. 2462 ff.
[2] www.rr.zh.ch, Rubrik „Vernehmlassungen“; vgl. die ausführliche Kritik der Demokratischen JuristInnen Zürich (DJZ): www.djz.ch, Rubrik „Vernehmlassungen“
[3] vgl. Gasser, K.: Polizei betreibt City-Pflege, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 77 (1/2004), S. 71-76 sowie Györffy, V.: Polizeiliche Wegweisungen in Schweizer Städten, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 81 (2/2005), S. 56-62
[4] Schweizerisches Bundesgericht: Urteil v. 6.7.1983 i. S. Duvanel, in: Bundesgerichtsentscheidungen (BGE), Bd. 109, Teilband Ia, S. 146 ff. (= BGE 109 Ia 146); deutsche Übersetzung in: Praxis 1983, H. 72, Entscheid Nr. 281
[5] Schweizerisches Bundesgericht: Urteil v. 26.8.2002, Az.: 1P91/2002, BGE 128 I 327; vgl. Györffy, V.: Von der Festung zum Sportstadion. Auch 2003: keine Demonstration gegen das WEF in Davos, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 74 (1/2003), S. 68-75
[6] www.sk.zh.ch/internet/sk/de/mm/mm2005q3/193_Polizeiorganisationsg.html
[7] Die EURO 08 hat auch den Gesetzgeber des Bundes auf den Plan gerufen: Das Parlament ist gerade dabei, „Massnahmen gegen Gewaltpropaganda und gegen Gewalt anläss­lich von Sportveranstaltungen“ zu verabschieden; ein Teil der vorgesehenen Maßnahmen würde die Kompetenzen des Bundes eindeutig sprengen. Vgl. www.parlament.ch; www.admin.ch/ch/d/ff/2005/5613.pdf