von Norbert Pütter
Kaum eine Idee besitzt so viel unmittelbare Plausibilität: Dass es allemal besser ist, das Kind vor dem sprichwörtlichen Sturz in den Brunnen zu bewahren, statt es mit großem Aufwand bergen zu müssen – wer wollte dem widersprechen? Die Probleme beginnen jenseits dieser Banalität. Denn unklar sind sowohl die genaue Bedeutung von „Prävention“ als auch die Voraussetzungen und Folgen präventiver Praxis.
Im Wortsinne bedeutet „Prävention“, etwas Unerwünschtem zuvorzukommen, seinen zukünftigen Eintritt zu verhindern oder, wenn es schon nicht gänzlich verhindert werden kann, seine nachteiligen Auswirkungen zu begrenzen. Jenseits dieser allgemeinen strategischen Orientierung gibt es eine bunte Vielfalt verschiedener Präventionsbegriffe, die jeweils für unterschiedliche Spielarten und Kalküle präventiver Interventionen stehen. Eine kleine Übersicht:[1]
Erstens: Weit verbreitet ist die Unterscheidung zwischen primärer, sekundärer und tertiärer Prävention. Diese aus der Medizin stammenden Begriffe beziehen sich auf den Zeitpunkt der Intervention.[2] „Primär“ ist das Handeln dann, wenn es in einer Phase stattfindet, in der noch keinerlei Abweichungen vom definierten Normal- oder Idealzustand sichtbar sind. Prävention soll diese Normalität sichern. Sekundärpräventive Interventionen setzen ein, wenn zwar deutliche Anzeichen für vom Ideal abweichende, nonkonforme Verhaltensweisen erkennbar sind, diese aber noch nicht realisiert wurden. Und als „tertiär“ gelten solche Maßnahmen, die nach der Tat zukünftige erneute Abweichungen verhindern sollen. In der Kriminalprävention werden etwa allgemeine Erziehungshilfen (Wertevermittlung …) als primär-, Strategien der Taterschwerung (Tatgelegenheiten, Entdeckungs- und Bestrafungswahrscheinlichkeit) als sekundär- und Resozialisierungsmaßnahmen als tertiärpräventiv bezeichnet.
Zweitens können präventive Programme nach ihren AdressatInnen unterschieden werden. Im Bereich der Kriminalprävention können sie sich an die potentiellen Opfer krimineller Handlungen wenden (Ratgeber „Wie verhalte ich mich an der Haustür“, Selbstverteidigungskurse etc.), sie können sich an die künftigen TäterInnen richten („Jeder Ladendiebstahl wird zur Anzeige gebracht“) oder sie können auf die Öffentlichkeit insgesamt zielen (wie die zur Zivilcourage aufrufende „Aktion-tu-was“).
Drittens unterscheiden sich Präventionsansätze dadurch, ob sie auf Personen, auf Situationen oder auf Strukturen einwirken wollen. Beratungsangebote, Aufklärungskampagnen, verhaltensorientierte Kurse sind an einzelne Personen adressiert. Auf die Verhinderung von Unsicherheit erzeugenden oder kriminogenen Situationen zielen die Einrichtung von Frauenparkplätzen, die Beleuchtung dunkler Ecken oder Freizeitangebote für Jugendliche. „Strukturelle Prävention“ umfasst dann solche Maßnahmen, die bereits das Entstehen dieser Situationen verhindern wollen: städtebauliche Planungen, Einwirkung auf soziale und sozioökonomische Gegebenheiten.
Viertens ist (Kriminal-)Prävention auf unterschiedliche Bezugsgrößen ausgerichtet. In ihrem Kern ist sie darauf aus, kriminelle Handlungen zu verhindern; dabei kann sie auf einzelne Delikte ausgerichtet sein (von der Kindesmisshandlung bis zur Korruption), sie kann aber auch auf „Kriminalität“ insgesamt zielen. Das Tandem von Kriminalitätsfurcht und gefährdetem Sicherheitsgefühl ist ein weiterer Bezugspunkt kriminalpräventiven Engagements. Unter dieser Perspektive können polizeiliche Präsenz oder die Sauberkeit im öffentlichen Raum auch dann präventiv sinnvoll sein, wenn sie nicht zu weniger Kriminalität, aber zu einem erhöhten Sicherheitsempfinden beitragen. Sofern der kriminalpräventive Ansatz aber auf die Bedingungsfaktoren abweichenden Verhaltens abzielt, können sich seine Interventionen auf allgemeine soziale Sachverhalte beziehen.
Fünftens arbeiten präventive Strategien mit unterschiedlichen Mitteln. Im Hinblick auf den Grad ihrer Verbindlichkeit lassen sich drei Gruppen unterscheiden: Zur ersten Gruppe zählen alle jene Maßnahmen, die ein bloßes Angebot darstellen, das die Zielgruppen in Anspruch nehmen oder ignorieren können: die Haustür mit den richtigen Schlössern zu sichern, die Verhaltensregeln in Konfliktsituationen zu beachten, an einem Mitternachtsturnier teilzunehmen etc. Davon zu unterscheiden sind solche Gestaltungen der Umwelt, denen sich alle unterwerfen müssen – indem beispielsweise ein dunkler Platz ausgeleuchtet, die Straßenführung verändert oder eine Pförtnerloge eingerichtet wird. Das präventive Repertoire umfasst aber auch repressive Mittel, d.h. solche Instrumente, die gezielt eingesetzt werden, um durch Kontrolle und Strafandrohung unerwünschtes Verhalten zu verhindern. Das Spektrum reicht von verdeckter und offener Überwachung bis zur gezielten, schnellen und „konsequenten“ Sanktion.
Prävention und Repression – keine Gegensätze
Diese Vielfalt von Präventionsbegriffen und -praktiken gilt nicht allein in der Kriminalpolitik, sondern ebenso etwa in den Bereichen von Gesundheit oder sozialer Arbeit. Für die Fragen der Kriminalprävention kommen zwei Besonderheiten hinzu. Die erste bezieht sich auf den Umstand, dass seit der Mitte des 19. Jahrhunderts das Strafrecht im Wesentlichen durch seine präventive Zielsetzung legitimiert wird: Bestimmte Handlungen müssen demnach deshalb verboten und bestraft werden, damit sie zukünftig nicht wieder begangen werden. Das Strafrecht soll spezialpräventiv auf den einzelnen Delinquenten wirken (also Wiederholungstaten verhindern), und es soll generalpräventiv die Allgemeinheit vom Normbruch abhalten. Beide Wirkungen, so die präventive Strafzwecklehre, sollen nicht nur negativ (durch Strafe), sondern auch positiv (durch Belohnung für konformes Verhalten) erreicht werden können. Die zweite Besonderheit ergibt sich aus dem Umstand, dass man „Prävention“ als die zentrale Kategorie polizeilichen Selbstverständnisses bezeichnen muss. Die originäre Aufgabe der Polizei besteht in der Gefahrenabwehr, d.h. die Polizei soll die Realisierung einer Gefahr verhindern, was zweifellos eine präventive Zielsetzung ist. Indem seit den 80er Jahren die „Vorsorge für die Gefahrenabwehr“ und die „vorbeugende Bekämpfung von Straftaten“ zu polizeilichen Aufgaben erklärt wurden, ist der polizeiliche Präventionsauftrag vom engen polizeilichen Gefahrenbegriff befreit worden.
Dieser kursorische Blick auf unterschiedliche Präventionsbegriffe legt einige Schlussfolgerungen nahe: Prävention ist ein vielschichtiger Begriff. Er taugt nicht zur Beschreibung von Handlungen, weil er weder etwas über den Zeitpunkt, die Reichweite, den Adressaten oder das Mittel der Intervention verrät. Gerade im Hinblick auf die angewendeten Mittel ist Prävention kein Gegenbegriff zur Repression. Vielmehr gehören repressive Maßnahmen zum anerkannten Repertoire präventiver Strategien. Auch die Vorstellung, präventive Antworten seien das Gegenteil von reaktiven, ist nur vordergründig zutreffend. Reaktive Handlungen setzen nach der Tat ein, etwa die Strafverfolgung nach begangener Straftat, aber die präventive Maßnahme entsteht keineswegs aus sich selbst heraus, sondern folgt aus einer Prognose.[3] Deshalb bedeutet Prävention allein, dass eine Haltung eingenommen wird, die aufgrund einer Prognose etwas in der Gegenwart unternehmen will, damit das Vorhergesagte nicht eintritt. Reduziert auf eine Haltung, eine bestimmte Perspektive, erlaubt die Präventionsidee, jedes Vorhaben als „Prävention“ zu deklarieren.[4] Dabei scheint der Präventionsidee – man denke an den Brunnen, in den das Kind nicht fallen soll – „eine Art selbstlegitimierender Kraft“ innezuwohnen.[5] In der Öffentlichkeit genießt die Präventionsidee große Sympathien, weil mit ihr die Hoffnung auf sanftere und gleichzeitig nachhaltigere Interventionen transportiert wird. Dass Prävention ein wohlfeiles Mittel zur Legitimation von Verbrechen war und ist (von den „Präventiv“-Kriegen bis zur „Rassenhygiene“ und zur Todesstrafe), scheint diesem Vorurteil keinen Abbruch zu tun.
Prävention: Gelegenheiten und Kosten
Auch für die Polizei gilt, dass alle ihre Tätigkeiten als präventive deklariert werden können. Ein Blick auf die Rechtsgrundlagen zeigt: Entweder handelt sie im Rahmen des Polizeirechts, dann geht es um die Aufgaben der Gefahrenabwehr in ihren unterschiedlichen Ausprägungen – das sind per definitionem präventive Tätigkeiten. Wird die Polizei aber strafverfolgend tätig, dann können die präventiven Zweckzuschreibungen des Strafrechtssystems ins Feld geführt werden. Die Strafverfolgung ließe sich deshalb problemlos als nur eine Variante innerhalb des umfassenden Präventionsauftrages begreifen, der bei der Polizei liege.[6]
Die Konjunktur, die der Präventionsgedanke auch innerhalb der Polizei in den letzten beiden Jahrzehnten erfahren hat, hat zur Bildung eigener Präventionskommissariate oder zur Einsetzung von Präventionsbeauftragten geführt. PräventionspolizistInnen sollen vor Ort den Kontakt zu den BürgerInnen halten. Sie sollen Verbindungsglied zwischen Gemeinde und Polizei sein. Ihre eigenen Leistungen bestehen in der örtlichen Beratung (etwa die traditionelle kriminalpolizeiliche Beratung zum Einbruchsschutz), in der Weitergabe polizeilichen Expertenwissens (etwa die Informationen aus dem ProPK-Angebot[7]), in der Ausführung polizeieigener Präventionsprojekte (vom Polizeidinosaurier POLDI bis zur „Wachsamer Nachbar“-Kampagne) und in der Vermittlung von Präventionsbedürfnissen in die Polizeibehörde hinein. Der jüngeren Aufwertung zum Trotz genießt diese Art der spezialisierten Präventionsarbeit innerhalb der Polizeien ein Schattendasein. Sie verfügt über kein klares Tätigkeitsprofil. Da auch hier gilt, dass alles als Prävention deklariert werden kann, ist lokale Beliebigkeit vorprogrammiert.[8]
Folgt man dem zeitlich gestaffelten Präventionsbegriff, so ist die Polizei auf allen Ebenen beteiligt. Ihren Schwerpunkt sieht sie jedoch in Maßnahmen, die als sekundärpräventiv bezeichnet werden können, weil die kriminelle Handlung kurz vor ihrer Realisierung steht bzw. stehen soll. Hier kommen dann die spezifischen polizeilichen Kenntnisse und Mittel zum Einsatz: Jenseits der Informations- und Beratungsangebote zielt die polizeiliche Sekundärprävention darauf ab, die Tatgelegenheiten zu reduzieren, die Entdeckungswahrscheinlichkeit und das Bestrafungsrisiko zu erhöhen. Eine solche Strategie fußt kriminologisch auf dem Rational-choice-Ansatz, der von TäterInnen ausgeht, die im Voraus Nutzen (materieller Gewinn, Prestige etc.) und Kosten (technisch-logistischer Aufwand, Freiheitsentzug etc.) einer Straftat bilanzieren und die durch gezielt erhöhte „Kosten“ von der Realisierung der geplanten Tat abgehalten werden können.[9] Technische Prävention („target hardening“), stadträumliche Arrangements („crime prevention through environmental design“, übersichtliche Räume, Überwachungstechniken), gezielte Kontrollen und uniformierte Präsenz in bestimmten Räumen sind probate Mittel dieser Art polizeilicher und polizeilich angeleiteter Prävention. Der Anteil der Polizei an den Interventionen variiert erheblich: Er reicht von effektivierter Repression durch den Verbund von Polizei, Ordnungsbehörden, Staatsanwaltschaft und Gerichten bis zur Vernetzung mit nicht-staatlichen Akteuren (Sozialverbänden, Wohngesellschaften) und der Aktivierung von Zielgruppen, selbst präventiv aktiv zu werden.
Beide Spielarten der (polizeilichen) Sekundärprävention stehen vor grundlegenden praktischen Problemen. Abgesehen vom begrenzten Erklärungswert des Rational-choice-Modells gilt: Sofern es sich um bloße Angebote handelt, liegt die größte Schwierigkeit darin, die Botschaften an die richtige Zielgruppe zu vermitteln. Dieses Schicksal teilt die Kriminalprävention mit der Gesundheitsprävention: Dass ihr jene Gruppen am distanziertesten gegenüberstehen, die „eigentlich“ der präventiven Botschaft am dringendsten bedürften. Die Erfolge der operativen Sekundärprävention sind hingegen von der Gefahr der Verdrängung bedroht. Diese kann nicht nur in der örtlichen Verschiebung von Kriminalität in weniger kontrollierte Räume bestehen, sondern sie kann auch zu einer Eskalation der Deliktsbegehung oder zum Ausweichen auf schwerwiegendere Delikte führen.[10]
Prävention als Projekt
Die Präventionsdebatte in der bundesdeutschen Polizei ist in der ersten Hälfte der 70er Jahre massiv durch den damaligen Präsidenten des Bundeskriminalamtes Horst Herold befördert worden. Herolds berühmte Formulierung von der „gesellschaftssanitären Aufgabe der Polizei“ fußte auf der Vorstellung, dass die Polizei durch ihre alltägliche Erfahrung über einen Informationsbestand verfüge, der – würde er nur entsprechend systematisch aufbereitet – der Polizei ein „Erkenntnisprivileg“ verschaffe, das erfolgreiche Prävention zulasse. Herolds Denken war nicht nur von kybernetischen Überzeugungen geprägt (je umfangreicher und aktueller die Informationen, desto klarer ergibt sich das, was getan werden muss, als logische Notwendigkeit), sondern sie entsprach auch der sozialdemokratischen Reformstrategie jener Zeit, die die Lösung gesellschaftlicher Probleme durch eine technokratisch angeleitete Modernisierung des Staatsapparates unterstützen wollte.[11]
Die Heroldsche Präventionsvision vertritt heute in den deutschen Polizeien niemand mehr. Geblieben ist aber seit Herolds Zeiten die gestiegene und weiter steigende Bedeutung der elektronischen Datenverarbeitung, deren technisches Potential längst über das hinausgeht, was vor dreißig Jahren denkbar war. Der Ausbau der polizeilichen Informations- und Kommunikationstechnologie wird heute nicht mehr mit gesamtgesellschaftlichen Visionen betrieben. Die realistisch gewordene Polizeistrategie zielt heute nicht auf die Abschaffung von Kriminalität (Herold: „die Formulierung von Gesetzesnormen zur Aufhebung oder Änderung der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Kriminalität entsteht“[12]), sondern auf deren „Kontrolle“. Zwar gehen unter diesen Vorzeichen die Ziele polizeilicher Präventionsanstrengungen weniger weit, aber die praktischen Herausforderungen nehmen eher zu: Wenn Kriminalität nicht beseitigt, sondern allenfalls „kontrolliert“ werden kann, dann muss eine erfolgreiche Strategie darauf ausgerichtet sein, die Kriminalität dauerhaft auf einem möglichst geringen Niveau zu halten. Eine vorausschauende Tätigkeit, die kriminelle Eskalationen verhindern oder besonders schwerwiegenden Taten zuvorkommen will, rückt ins Zentrum des polizeilichen Selbstverständnisses. Damit gewinnt die Präventionsidee eine neue Qualität: sie wird zur strategischen Orientierung, auf die die Instrumente und Verfahren der Institution auszurichten sind.
Jede Prävention steht vor einem grundlegenden Problem: Sie muss mit dem beschränkten Wissen der Gegenwart eine Prognose erstellen und auf dieser Basis ein präventives Handlungsprogramm entwerfen. Die Gewinnung und Verarbeitung von Informationen bildet deshalb die Basis jeder Präventionsstrategie. Die kriminalpolizeiliche Entwicklung der jüngeren Vergangenheit stellt den Versuch dar, auf verschiedenen Wegen polizeiliches Wissen zu vermehren. Dies betrifft erstens die Mittel der Informationsbeschaffung: Die Professionalisierung der verdeckten Polizeiarbeit (Infiltration bestimmter Milieus durch V-Personen und Verdeckte Ermittler) war und ist ein Element, Kenntnisse aus dem kriminellen Vorfeld zu gewinnen. Verdachtsmeldungen der Kreditinstitute im Rahmen der Geldwäschebekämpfung oder Online-Zugänge zu nichtpolizeilichen Datenbeständen sind weitere Mittel zur Verbesserung der polizeilichen Datenlage. Zweitens haben sich die Strategien polizeilicher Informationsarbeit geändert: Neben die Fallbearbeitung traten die aktive Verdachtschöpfung, die strategische Kriminalitätsanalyse und „police intelligence“, also der Versuch, aus vorhanden Datenbeständen neues Wissen zu generieren.[13] Und drittens zeichnet sich präventivpolizeiliche Verbrechenskontrolle durch den Versuch aus, dass sie wissenschaftliche Ressourcen zur Kriminalitätsanalyse und zur Diagnose präventiver Ansatzpunkte heranzieht.[14]
Der präventivpolizeiliche Um- und Ausbau der Polizeien kann das präventive Grundproblem jedoch nicht lösen. Um wirksam prävenieren zu können, muss man über ausreichendes Wissen verfügen. Man muss innerhalb der sozialen Wirklichkeit sowohl die zukünftigen potentiellen Gefährdungen diagnostizieren als auch jene Faktoren bestimmen, durch deren Beeinflussung das Diagnostizierte verhindert werden kann. Beides verlangt, möglichst viel über soziale Sachverhalte zu wissen und die Wirkungszusammenhänge zu kennen. Deshalb ist der Drang nach weiteren polizeilichen Erfassungen und Speicherungen und nach einer Professionalisierung des polizeilichen Umgangs mit Informationen eine zwingende Folge der präventiven Orientierung. Dieser Bedarf an Informationen nimmt in dem Maße zu, indem Unklarheit über das Ausmaß und die Bedingungsfaktoren dessen besteht, was verhindert werden soll – ein Merkmal, das auf die komplexen Phänomene „Kriminalität“ und „Sicherheit“ eindeutig zutrifft. Wer erfolgreiche Kriminalprävention betreiben will, weiß deshalb nie genug.[15]
Das Recht der Präventionspolizei
Unter dem Präventionsregime hat sich auch das Recht gewandelt. Dies gilt für das Strafrecht, das Strafprozess- und das Polizeirecht. Im Strafrecht sei nur auf die Zunahme „abstrakter Gefährdungsdelikte“ hingewiesen, die – in präventiver Absicht – ein Verhalten bestrafen, das kein Rechtsgut beschädigt, sondern von dem vermutet wird, dass von ihm die Gefahr einer Schädigung ausgehen könnte. Die präventive Öffnung des Strafprozessrechts zeigt sich einerseits darin, dass bei einer Vielzahl von Ermittlungsmaßnahmen vom Vorliegen eines personalen Tatvorwurfs abgesehen wird (Kontrollstellen, Rasterfahndung etc.).[16] Zwar handelt es sich um Normen, die der Aufklärung begangener Taten dienen sollen, aber ihre Logik und die mit ihnen verbundenen Eingriffe sind nicht länger an einen konkreten Verdacht gebunden. Andererseits wurden mittlerweile die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, um die im Rahmen von Strafverfahren gewonnenen Daten für (präventiv-)polizeiliche Zwecke zu nutzen. Den Kern des neuen Präventionsrechts stellt jedoch das Polizeirecht dar.
Die Erweiterung des polizeilichen Auftrags um die „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ eröffnet der Polizei ein neues Handlungsfeld. Statt an der konkreten Gefahr, kann polizeiliches Handeln nun an Gefahrenprognosen orientiert werden. Nicht der Verdacht auf eine begangene oder konkret vorbereitete Straftat, nicht das Vorliegen einer konkreten Gefahr stehen am Anfang polizeilicher Tätigkeit, sondern vage Hinweise, kriminalistische Möglichkeiten oder Hypothesen. Präventive Polizeiarbeit wird zur Vorfeldarbeit. Und da nicht bekannt ist, welchen Eigenschaften welches kriminogene Potential innewohnt, muss sich die polizeiliche Aufmerksamkeit entweder auf alles richten, oder sie bleibt an erfahrungs- oder hypothesengestützten Vorannahmen orientiert. Die neuen Normen des Polizeirechts reflektieren diese Offenheit. Neben die alte „Wenn … dann“-Logik des Konditionalprogramms tritt das Zweckprogramm der (präventiven) Kriminalitätsbekämpfung. Unbestimmte Rechtsbegriffe – etwa die „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ als Einsatzbereich der „besonderen Methoden der Datenerhebung“ – sind ein Element der präventiv motivierten Verrechtlichung. Ein anderes ist, die Überwachung von Personen, Gruppen oder Sozialmilieus zu legalisieren, die weder „Störer“ noch „Tatverdächtige“ sind. Zur Absicherung der strategischen Definitionsmacht der Polizei gehört auch, dass die Anordnungsbefugnis in die Hände der Behörde selbst gelegt wird.
Der Wandel des Rechts unter präventiven Vorzeichen hat erhebliche Folgen: Im bürgerlich-liberalen Rechtsstaatsmodell bildet die klar formulierte Norm des Gesetzes den Maßstab der justiziellen und politischen Kontrolle der Exekutive; für die BürgerInnen ergibt sich Sicherheit gegenüber staatlichen Eingriffen in der gesetzlich fixierten Begrenzung staatlicher Eingriffsrechte. Diese positiven Folgen des Rechts gehen verloren, wenn die Rechtsnorm auf eine Ermächtigung der Exekutive hinausläuft, in wechselnden Situationen nach Zweckmäßigkeitsüberlegungen zu handeln. Ohne eindeutige Bestimmung läuft jedoch der gerichtliche Schutz ins Leere.[17]
Der neue Schub
Das Präventionsbedürfnis steigt, je größer der Schaden ist, der prognostiziert wird. Wo gewaltige Risiken drohen – so lautet das polizeiliche Argument –, könne vernünftigerweise nicht gewartet werden, bis sie eintreten. Mag man den Ladendiebstahl noch hinnehmen wollen und sich damit beruhigen, dass der Schaden gering ist und die TäterInnen doch irgendwann erwischt werden, so wäre eine solche Haltung etwa angesichts terroristischer Bedrohungen absurd und unverantwortlich. Waren in den 90er Jahren noch maßlose Übertreibungen der Gefahr durch „Organisierte Kriminalität“ erforderlich, um neue Vorfeldbefugnisse und zusätzliche Entgrenzungen zu legitimieren, so hat der Terrorismus der Präventionsidee endgültig den Weg frei gemacht.
Bietet der Terrorismus den gegenwärtigen Anlass, so bietet der wissenschaftlich-technische Fortschritt die Mittel fortgeschrittener Präventionsstrategien. Mit dem Einzug der Digitalisierung in den Alltag wachsen die Arten der anfallenden Daten, die Datenmengen und die technischen Möglichkeiten ihrer Auswertung. Seit den Anschlägen von New York, Madrid und London scheint es das Gebot der Stunde zu sein, diese Daten nutzbar für polizeiliche Zwecke zu machen, sie mit anderen Daten und mit Erkenntnissen anderer Instanzen zu verknüpfen, um terroristische Netzwerke zerstören und terroristische Taten verhindern zu können.
Die wichtigsten Elemente dieser neuen Prävention sind:
Erstens: Ausweitung geheimdienstlicher Zuständigkeiten: Nach der Erweiterung des polizeilichen Repertoires durch ehemals nachrichtendienstliche Methoden seit den 80er Jahren und der Ausdehnung des Tätigkeitsfeldes eines Teils der Geheimdienste auf „organisierte Kriminalität“ in den 90ern, erhielten die Dienste im Terrorismusbekämpfungsgesetz Zugänge zu den Daten von Geldinstituten sowie Telekommunikations- und Luftfahrtunternehmen. Die Sicherheitsüberprüfungen wurden ausgeweitet und die Dienste am Visaverfahren beteiligt – alles mit dem Ziel, Daten aus dem Vorfeld von Kriminalität und Gefahr zu gewinnen.
Zweitens: Verknüpfung von Polizeien und Geheimdiensten im präventiven Netzwerk: Dem Ziel, alles verfügbare Wissen für die Terrorismusprävention nutzbar zu machen, sollen nicht nur neue Institutionen wie das „Gemeinsame Informations- und Analysezentrum“ auf Bundesebene und vergleichbare Gremien in einigen Bundesländern dienen, sondern auch neue technische Instrumente: die gemeinsame Anti-Terror-Datei, an deren Realisierung gegenwärtig gearbeitet wird, sowie „Projektdateien“, in denen beide Seiten ihre Informationen anlassbezogen vereinigen können. Dass mit der Kombination von polizeilichen und nachrichtendienstlichen Informationen die Eingriffsschwellen des Polizeirechts unterlaufen werden, ist der Preis, der mit dem Blick auf die erhoffte präventive Dividende und angesichts drohender terroristischer Gefahren offenbar gerne entrichtet wird. Vergleichbare Formen der institutionellen und informationellen Vernetzung finden sich bezeichnenderweise ebenfalls bei der Bekämpfung der „illegalen Einwanderung“.
Drittens: Datenspeicherung auf Vorrat: Der gegenwärtige Versuch, deutschland- und EU-weit die Nutzungsdaten der Telekommunikation zu speichern, ist das prominenteste Beispiel präventiv motivierter Datensammlung. Ähnlich wie bei der Identifizierungspflicht von Bankkunden bei Bargeschäften wird ein Datenpool geschaffen, der für präventive Aktionen (vorzeitige Entdeckung geplanter Straftaten) wie für strafverfolgerische Zwecke nutzbar gemacht werden kann. Die Weitergabe von Fluggastdaten an die USA sind ein weiteres Beispiel für den präventiv legitimierten freizügigen Umgang mit personenbezogenen Daten.
Prävention ohne Ende?
Wer der Präventionslogik folgt, erzeugt einen Sog nach immer mehr Wissen. Auch illustrieren die Erscheinungsformen des neuen Terrorismus die präventiven Konsequenzen: Weil die „Schläfer“ des 11. September 2001 gerade kein auffälliges Profil besaßen, musste die Rasterfahndung auf alle – vermutlich – muslimischen Männer ausdehnt werden; weil die „home grown terrorists“, die die Anschläge in London im Juli 2005 verübten, ganz normale Jungs von nebenan waren, muss die Infiltration in Immigrantenmilieus fortgesetzt werden; und weil der Terrorismus auch mit kleinen Überweisungen von ImmigrantInnen finanziert werden könnte oder sich seine Geldgeber hinter karitativen Organisationen verstecken, muss der internationale Geldverkehr über SWIFT gescreent werden. Die Präventionslogik zwingt dazu, das Unverdächtige auf Anhaltspunkte für Verdächtiges abzuklopfen.
Die Attraktivität der Prävention liegt nicht allein in dem Missverständnis begründet, bei ihr handele es sich um eine helfende Intervention. Vielmehr verspricht präventives Handeln große, nicht wiedergutzumachende Schäden zu verhindern. Die Präventionslogik unterstellt, dass genau jene Ansatzpunkte und Maßnahmen gefunden werden können, die es ermöglichen, den befürchteten großen Schaden abzuwenden.
Die verschiedenen Spielarten präventiver Interventionen bestätigen diese Hoffnung jedoch allenfalls ausnahmsweise. Alle Prävention steht sowohl im Hinblick auf die Entstehungsbedingungen von Kriminalität und Unsicherheitsgefühlen als auch hinsichtlich der Wirkungen und Nebenfolgen präventiven Handelns vor einem grundsätzlichen Wissens- und Erkenntnisproblem. Das gilt bereits auf der Ebene der eher kleinräumigen Prävention: Die gutgemeinten Ratschläge zum richtigen Verhalten – vorausgesetzt, das „richtige“ Verhalten erwiese sich tatsächlich als präventiv wirksam – stehen regelmäßig vor einem Akzeptanzproblem. Werden jedoch Zwang und Kontrolle intensiviert, dann sind auf der Täterseite Verdrängungseffekte zu erwarten und auf der Seite der potentiellen Opfer kann die Verunsicherung gesteigert statt verringert werden. Wie die Kontrollstrategien, so führen auch in präventiver Absicht umgestaltete öffentliche Räume zu spezifischen Arrangements, die von kriminalpräventiven Erkenntnissen bestimmt sind. Handelt es sich um sozial helfende und unterstützende Einrichtungen (vom Jugendtreff bis zur Hausaufgabenhilfe), dann ist die kriminalpräventive Komponente vielleicht für die Außenlegitimation nützlich; sie ist aber mit der Gefahr verbunden, dass sozialstaatliche Einrichtungen oder Projekte nur noch dann finanziert werden, wenn sie eine kriminalpräventive Wirksamkeit versprechen.
Die Grenzen und Gefahren der Präventionsstrategie werden auch bei deren fortgeschrittener Variante deutlich: Das Ende der RAF war nicht das Verdienst polizeilicher Präventionsstrategien. Vielmehr hat die antiterroristisch legitimierte Aufrüstung der Polizeien zur Befestigung des terroristischen Weltbildes beigetragen. Die Sonntagsreden verantwortlicher Politiker, man dürfe den Islam nicht insgesamt verteufeln, können die Wirkungen, die vom Generalverdacht gegen muslimische Männer im Innern sowie von der zunehmenden militärischen Beteiligung im weltweiten „Kampf gegen den Terrorismus“ ausgehen, wohl kaum auffangen. An der „Prävention des Terrorismus“ werden die Grenzen jeder Kriminalprävention deutlich: Sie kann die Entstehungsbedingungen dessen, was sie verhindern möchte, nicht beeinflussen. Zum Teil vermag sie dies nicht, weil ihr die Faktoren und ihr Verhältnis zueinander nicht bekannt sind, zum Teil fehlen ihr die Kompetenzen oder Ressourcen, das zu tun, was verhindernd wirken könnte. Kennzeichnend für die Präventionsidee ist, dass sie aus dem Bedingungsgefüge sozialen Verhaltens einen Komplex isoliert, auf den sie unterstellt, so einwirken zu können, dass die gewünschten Resultate erreicht werden. Prävention ersetzt deshalb politische Prozesse durch eine sozialtechnologische Intervention – deren Versagen wahrscheinlicher als die gewünschte Wirkung ist.
Bei ungewissem Erfolg sind die Kosten der Prävention deutlich. Die Präventionsorientierung setzt eine Dynamik in Gang, deren Basis ungewisse Prognosen für die Zukunft sind. Um diese Unsicherheit zu reduzieren, muss sie nicht nur immer mehr Sachverhalte in das präventive Kalkül einbeziehen, sie muss gleichzeitig auf die kriminalpräventiv intendierte Veränderung von Verhaltensweisen, Räumen und sozialen Beziehungen drängen. Das führt notwendigerweise zur wachsenden Erfassung und Überwachung des alltäglichen gesellschaftlichen Verkehrs. Indem eine Prognose die Basis polizeilicher Interventionen bildet, gehen zugleich die Begrenzungen staatlichen Zugriffs auf die BürgerInnen ebenso verloren wie die Chancen, exekutives Handeln öffentlich, politisch oder juristisch zu kontrollieren.
Prävention tritt mit einem großen Versprechen an. Ob tatsächlich etwas verhindert werden kann, ist offen. Häufig wird der öffentliche Bonus, den „Prävention“ genießt, zur bloß legitimierenden Zutat. Jede erfolglose Prävention verlangt nach mehr Verhütung. Bevormundung und Überwachung sind zu erwarten. Dass „Prävention“ das mildere Mittel gegenüber der traditionellen reaktiven Repression sei, ist das größte Missverständnis der Präventionseuphorie.
Norbert Pütter ist Redakteur von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
[1] s.a. Pütter, N.: Polizei und kommunale Kriminalprävention, Frankfurt/M. 2006, S. 77-82
[2] s. exemplarisch: Kube, E.: Systematische Kriminalprävention, Wiesbaden 1987
[3] Ziegler, H.: Prävention – Vom Formen der Guten zum Lenken der Freien, in: Widersprüche 2001, H. 79, S. 7-24 (9)
[4] Bröckling, U.: Die Macht der Vorbeugung. 16 Thesen zur Prävention, in: Widersprüche 2002, H. 86, S. 39-52 (42 f.)
[5] Riehle, E.: Von der repressiven zur präventiven Polizei – oder: Die Verpolizeilichung der Prävention, in: Appel, R.; Hummel, D.; Hippe, W. (Hg.): Die neue Sicherheit. Vom Notstand zur Sozialen Kontrolle, Köln 1988, S. 129-139 (129)
[6] Schäfer, H.: Die Prädominanz der Prävention, in: Goldtammer’s Archiv für Strafrecht 1986, S. 48-66
[7] s. den Beitrag von Hanna Noesselt in diesem Heft
[8] Die entsprechende Kritik des Landesrechnungshofes führte in Nordrhein-Westfalen zu einem Versuch, diese Art polizeilicher Prävention durch den Bezug auf die aus dem polizeilichen Fachwissen fußenden Kernkompetenzen zu begrenzen, s. Gatzke, W.; Jungbluth, Th.: Neuausrichtung polizeilicher Kriminalprävention NRW, in: Kriminalistik 2006, H. 11, S. 651-658.
[9] Sack, F.: Prävention als staatliches Sicherheitsversprechen – Wandlungen des Gewaltmonopols in Deutschland, in: Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hg.): Verpolizeilichung der Bundesrepublik Deutschland, Köln 2002, S. 21-65 (37)
[10] s. Albrecht, P.-A.: Prävention als problematische Zielbestimmung im Kriminaljustizsystem, in: Deichsel, W.; Kunstreich, T.; Lehne, W. u.a. (Hg.): Kriminalität, Kriminologie und Herrschaft, Pfaffenweiler 1988, S. 29-60 (38)
[11] s. Lehne, W.: Polizei und Prävention, in: Widersprüche 1987, H. 25, S. 45-58 (48 ff.)
[12] Interview mit Horst Herold, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 18 (2/1984), S. 30-46 (30)
[13] Brisach, C.-E.: Proaktive Strategien bei der Kontrolle krimineller Strukturen, in: Kriminalistik 1997, H. 4, S. 247-251
[14] nur drei Beispiele BKA-geförderter Forschung: zur „Organisierten Kriminalität“: Sieber, U.; Bögel, M.: Logistik der Organisierten Kriminalität, Wiesbaden 1993; zur Korruption: Bannenberg, B.: Korruption in Deutschland und ihre strafrechtliche Kontrolle, Neuwied 2002; zur Jugendkriminalität: Lösel, F.; Bliesener, Th.: Aggression und Delinquenz unter Jugendlichen. Untersuchungen von kognitiven und sozialen Bedingungen, Neuwied 2003
[15] Bröckling a.a.O. (Fn. 4), S. 46
[16] s. König, O.: Die Entwicklung strafprozessualer Zwangsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren seit 1877, Frankfurt/M. 1993
[17] s. Grimm, D.: Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Thema Prävention, in: Ders.: Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt/M. 1991, S. 197-220 (insbes. 218 f.)
Bibliographische Angaben: Pütter, Norbert: Prävention. Spielarten und Abgründe einer populären Überzeugung, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 86 (1/2007), S. 3-15