Former Europol Headquarters at the Hague Photographer: Dr. Meierhofer CC BY-SA 3.0

Neue europäische Polizeikooperation – Eine Bestandsaufnahme nach mehr als drei Jahrzehnten

Angesichts neuer internationaler Bedrohungen brauche es mehr Informationsaustausch und eine direktere Zusammenarbeit. Das waren polizeiliche Forderungen der 70er Jahre. Was ist daraus geworden?

1978 erhielt die Redaktion des gerade entstandenen Informationsdienstes CILIP einen Brief des niederländischen Kollegen Cyrille Fijnaut: Ein neues europäisches Polizeigremium sei entstanden, das sich unter dem Namen TREVI treffe. Das Kürzel stehe für „terrorisme, radicalisme, extremisme, violence internationale“ Es sei völlig unklar, was die Herrschaften dort treiben. Und es sei dringend erforderlich, das im Auge zu behalten. In der Tat zeigten sich hier die Anfänge einer neuen Polizeikooperation. Schon neun Jahre später konstatierte Fijnaut, dass sich hier ein „turbulenter“ Wandel vollzogen habe, dessen Schnelligkeit vor allem dem Umstand zu verdanken sei, dass die Terrorismusbekämpfung sein ideologisches Treibmittel war und folglich „die Sicherheit des Staates … in Frage stand oder zu stehen schien.“[1] Die „Turbulenzen“ hörten aber keineswegs auf, als das Thema Terrorismus in den 80er und 90er Jahren in den Hintergrund trat und – bis zum Herbst 2001 – durch neue Bedrohungsbilder der „organisierten Kriminalität“, des internationalen Drogenhandels, der illegalen Einwanderung etc. abgelöst wurde.

Wer sich in diese ersten Jahre der neuen Polizeikooperation zurück versetzt, muss feststellen, dass die heutigen Formen und Methoden der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit insbesondere in Europa kaum vorstellbar waren. Das gilt für den Informationsaustausch und erst recht für die operative Zusammenarbeit und physische Grenzüberschreitung. Dass souveräne Staaten es dulden könnten oder gar darum ersuchten, dass ein Nachbarstaat mit Hunderten von BereitschaftspolizistInnen und exekutiven Befugnissen auf ihrem Hoheitsgebiet tätig wird, schien damals ein undenkbares Szenario. Man nahm vielmehr an, dass Polizeikooperation auch künftig weitegehend ein „policing by information“ sein und – damit zusammenhängend – weiterhin das Geschäft der kriminalpolizeilichen und staatsschützerischen Eliten bleiben würde, ein Fehlschluss, den Raphael Behr zurecht kritisiert hat.[2] Die europäischen Polizeien, so lässt sich heute feststellen, haben die staatlichen Grenzen und die traditionellen Begrenzungen hinter sich gelassen.

Bürgerrechte & Polizei/CILIP diese Entwicklung ständig begleitet. Herausgekommen sind dabei nicht nur eine Vielzahl einzelner Beiträge, sondern seit den 90er Jahren zwei Buchveröffentlichungen[3] sowie in immer kürzeren Abständen Schwerpunkthefte zu Fragen der Zusammenarbeit insbesondere in der EU.

Die Anfänge

Nimmt man die Debatte im polizeilichen „Schrifttum“ als Gradmesser, so fällt auf, dass die internationalen Zusammenarbeit bis in die 70er Jahre hinein kaum eine Bedeutung hatte. Sie bildete allenfalls ein Randthema, das sich alle Jubeljahre in einer Veröffentlichung des Bundeskriminalamts (BKA) oder einem Aufsatz in der „Kriminalistik“ niederschlug. Das BKA schmückte seine alljährlichen Herbst-Tagungen mit dem Referat eines ausländischen Kollegen oder eines Vertreters des Interpol-Generalsekretariats. Ansonsten schien das Thema aber keine besondere professionelle oder politische Dringlichkeit zu besitzen.

Praktisch oblag die Zusammenarbeit mit dem Ausland ausschliesslich dem BKA und verlief in den Formen, die sich seit den 50er Jahren etabliert hatten: der polizeilichen Rechtshilfe und dem (kriminal-) polizeilichen Nachrichtenaustausch via Interpol. Letzterer hatte zwar quantitativ zugenommen – von 56.380 ausgehenden Funksprüchen, Fernschrei­ben und Schreiben im Jahre 1959 auf 115.848 im Jahre 1970.[4] An den Formen der Zusammenarbeit hatte sich dagegen kaum etwas geändert. Seit Mitte der 70er Jahre häuften sich nun die Klagen über die Schwerfälligkeit des Interpol-Nachrichtenverkehrs und der internationalen Rechtshilfe. Formen direkter Zusammenarbeit wurden gefordert.

Dass die folgende Kooperation in der Terrorismusbekämpfung außerhalb des Rahmens von Interpol stattfand, ergab sich zunächst daraus, dass die Statuten der Organisation damals eine Zusammenarbeit gegen politische Straftaten ausschloss. Erst 1984 erfolgte eine Neubestimmung dieses Begriffs, die sich am Vorbild des Europaratsübereinkommens zur Terrorismusbekämpfung von 1977 orientierte und den Terrorismus zur nicht-politischen Kriminalität herabstufte.

Der – zumindest formell – unpolitische Charakter von Interpol war aber nur eines der Hindernisse für eine verstärkte und direktere Kooperation: Mindestens genau so wichtig war das Ungleichgewicht zwischen den finanzstarken, hoch technisierten und professionalisierten Polizeien Westeuropas und Nordamerikas einerseits und der grossen Mehrheit der ärmeren Mitglieder, das einer schnellen Technisierung im Wege stand. Noch Anfang der 80er Jahre waren die Archive des Interpol-Generalsekretariats großteils manuell geführt und nur die Hälfte der Mit­gliedspolizeien war an das ohnehin schon überalterte Fernschreibsystem angeschlossen. Erst in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts setzte die Computerisierung der Organisation und eine stärkere Regionalisierung ein.

Zu diesem Zeitpunkt war aber bereits eine ganze Serie neuer Gremien und Organisationen der Zusammenarbeit entstanden – im Staatsschutzbereich, im Kontext der Bekämpfung von Drogen und „organisierter Kriminalität“[5] oder am Rande regionaler Foren (wie z.B. der Cross Channel Conference). Sie hatten mehrheitlich eine polizei-politische Bedeutung: Sie produzierten gemeinsame Lageeinschätzungen, förderten den Austausch über (und die Angleichung von) Methoden und führten auch zu Forderungen an die Politik. Nur die wenigsten spielten eine operative Rolle. TREVI wurde das folgenreichste dieser Gremien; dies vor allem deshalb, weil es nicht ein reines Polizeiforum darstellte, sondern die politische Ebene mit einbezog: die Konferenzen der Innen- bzw. Justizminister der EG-Staaten und die der leitenden Ministerialbeamten.

Unterhalb dieser Ebene fanden sich zunächst zwei Arbeitsgruppen: Im Rahmen von TREVI I, Terrorismusbekämpfung, wurden bereits 1977 nationale Verbindungsbüros bei den Staatsschutzabteilungen der kriminalpolizeilichen Zentralstellen und bei den Inlandsgeheimdiensten aufgebaut. 1988 folgte ein geschütztes Kommunikationssystem, das noch in der heutigen EU die Verbindungsbüros, die Bureaux de Liaisons (BdL-Netz) verbindet. TREVI II befasste sich mit Fragen der Ausbildung und Technik. 1985 folgte eine dritte Arbeitsgruppe zu Fragen der Drogen- und OK-Bekämpfung. Zwar richtete auch TREVI III nationale Kontaktstellen ein, die der schnellen Kommunikation im Bedarfsfalle dienen sollten. Da die kriminalpolizeilichen Zentralstellen in diesem Feld aber bereits über eine Reihe von Kanälen (z.B. im Rahmen von Interpol) verfügten, erreichten diese Kontaktstellen nie dieselbe Bedeutung wie die TREVI I-Verbindungsbüros. Die Leistung dieser dritten Arbeitsgruppe bestand vor allem im Austausch über neue Konzepte – von der grenzüberschreitenden Observation und der Kontrollierten Lieferung bis hin zur „Intelligence“. Eine über den „Erfahrungsaustausch“ hinausgehende Bedeutung erhielt die Gruppe mit ihrem Vorschlag einer „European Drugs Intelligence Unit“. 1989 hiess die Ministerkonferenz die Idee gut. Während die Arbeitsgruppe noch darüber beriet, ob eine solche Einheit im Interpol- oder im EG-Kontext entstehen sollte, beschlossen die EG-Staats- und Regierungschefs im Juni 1991 auf Drängen des deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl, das Europäische Polizeiamt Europol aufzubauen.

Europäische Sicherheitspolitik

Ende der 80er Jahre erhielt TREVI eine vierte Arbeitsgruppe, die eine rein politische Aufgabe hatte: TREVI 92 sollte „Ausgleichsmassnahmen“ für den mit dem Binnenmarktprojekt anvisierten Abbau der Grenzkontrollen zwischen den EG-Staaten erarbeiten. Dazu kam es nicht, weil sich Großbritannien und Irland diesem Abbau entgegenstellten.

Dennoch war mit dem Binnenmarktprojekt der Übergang vom informellen Erfahrungsaustausch und einer begrenzten „operativen“ Kooperation hin zu einer förmlichen intergouvernementalen Zusammenarbeit verbunden, die auch die Abgabe nationaler Souveränitätsrechte und damit den Aufbau gemeinsamer polizeilicher Institutionen und Informationssysteme ermöglichte. Mit dem Inkrafttreten des Maas­trichter Vertrags 1993 wurde die TREVI-Gremienstruktur in die Dritte Säule der EU transferiert. Man begann eine ganze Serie von Verträgen auszuhandeln, deren wichtigster die 1995 unterzeichnete Europol-Konvention war. Der Motor dieser Zusammenarbeit saß in den 90er Jahren jedoch nicht im Innern der EU-Strukturen, sondern in der Schengen-Gruppe, deren zunächst fünf Mitgliedstaaten sich nicht nur über den „vollständigen“ Abbau der Binnengrenzkontrollen einig waren, sondern auch den ersten umfassenderen Vertrag über polizeiliche (sowie ausländer- und asylpolitische) Fragen zustande brachten. Die Kernpunkte: Kontrolle und Überwachung der Außengrenzen nach gemeinsamen Standards, Verrechtlichung bestimmter grenzüberschreitender polizeilicher Methoden (Nacheile, Observation, kontrollierte Lieferung von Drogen), Vereinfachung des Informationsaustauschs und vor allem: der Aufbau eines gemeinsamen Sach- und Personenfahndungssystems, des Schengener Informationssystems (SIS). Das 1990 unterzeichnete Schengener Durchführungsübereinkommen trat 1995 in Kraft und übte massive Anziehungskraft auf den Rest der EU-Staaten aus. Es bildet bis heute die Basis für einen großen Teil der polizeilichen Kooperation in der EU.

Mit dem 1999 in Kraft getreteten Amsterdamer EU-Vertrag wurde der Schengener Außenbordmotor ins Innere der innen- und rechtspolitischen Maschine der EU montiert. Zudem schaffte sich die EU neue rechtliche Instrumente der leichten Hand: Statt Konventionen, die noch durch die nationalen Parlamente zu ratifizieren waren, produzierte man nun Verordnungen und Richtlinien (im Bereich Asyl, Visa und Grenzen) bzw. Beschlüsse und Rahmenbeschlüsse (im engeren Kontext der polizeilichen und strafrechtlichen Zusammenarbeit), die allenfalls noch auf nationaler Ebene umzusetzen waren. Mit dem Lissaboner Vertrag, in Kraft seit Dezember 2009, setzte sich dieser Prozess fort. Die „Säulenstruktur“ der EU wurde abgeschafft, für den größten Teil der Innen- und Rechtspolitik der Union braucht es nun nicht mehr die Einstimmigkeit, sondern nur noch eine qualifizierte Mehrheit im Rat. Das Europäische Parlament ist nun zwar am Rechtssetzungsprozess beteiligt, der aber weiterhin von der Exekutive – der Kommission und den im Rat vetretenen Regierungen der Mitgliedstaaten– dominiert wird.

Der Umfang der Politik Innerer Sicherheit auf EU-Ebene hat sich seit den Anfängen erheblich ausgedehnt. Dafür sorgten unter anderem die seit dem Tampere-Gipfel von 1999 aufgestellten Fünf-Jahres-Programme sowie die diversen Aktionspläne zu einzelnen Bereichen – angefangen mit dem zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität von 1997 über die gegen Terrorismus 2001 und 2004 bis hin zu diversen Plänen zur Sicherung der Außengrenzen und gegen „illegale Einwanderung“. Während sich die EU einerseits mit diesen Plänen dazu zwingt, die einmal beschlossene Richtung einzuhalten und das darin enthaltene Gesetzgebungsprogramm zu befolgen, sind es andererseits die verschiedenen Acquis, die Kataloge des rechtlichen „Besitzstandes“, die dafür sorgen, dass die EU als Ganze keine politische Kehrtwende machen kann und auch die Mitgliedstaaten auf der Spur bleiben.

Auf dem Weg zum Binnenmarkt für Polizeidaten

Das 1995 in Betrieb genommene SIS ersetzt heute für den europäischen Raum die internationale Fahndung via Interpol. Es war das erste supranationale polizeiliche Datensystem und lange Zeit das einzige, das nicht nur von den Zentralstellen, sondern von BeamtInnen vor Ort abgefragt werden konnte. Ausschreibungen eines Staates wurden nun automatisch von den anderen übernommen und mussten nicht mehr in ein nationales Register übertragen werden, wie das bei Interpol-Fahn­dungs­meldun­gen der Fall ist. Ende 2011 waren rund 40 Millionen Sachen und 904.000 Personen im SIS gespeichert. Nach wie vor bezieht sich der weitaus überwiegende Teil der Personendaten (76 Prozent) auf „unerwünschte Drittausländer“, denen die Einreise in die EU verweigert werden soll. Nur knapp vier Prozent der erfassten Personen sind zur Festnahme und Auslieferung, weitere acht Prozent zur Aufenthaltsermittlung (u.a. Zeugen oder Beschuldigte kleinerer Delikte) und weitere vier Prozent zur verdeckten Registrierung, sprich Überwachung, ausgeschrieben.[6]

Die Dominanz der ausländer- und grenzpolizeilichen Funktion bestand, seit das System ans Netz ging, und entspricht der Bedeutung, die das Thema Grenzen und Bekämpfung der „illegalen Einwanderung“ ständig für die EU-Innen- und Rechtspolitik hat(te). Die Koppelung von Migrationsabwehr und polizeilicher Arbeit kommt aber nicht nur in diesem System zum Ausdruck. Während das polizeiliche Fahndungssystem SIS (und sein nun voraussichtlich 2013 ans Netz gehender Nachfolger SIS II) auch für die Ausländerbehörden und Konsulate zugänglich ist, wird umgekehrt das Visa-Informationssystem (VIS) von den Konsulaten und Ausländerbehörden gefüttert und kann von den an der Grenze oder im Inland kontrolliernden PolizistInnen abgerufen werden. Auch für das 2003 in Betrieb genommene Eurodac, in dem die Fingerabdrücke von Asylsuchenden erfasst und zur Verhinderung des „Asylmissbrauchs“ abgeglichen werden, soll es demnächst einen polizeilicher Zugang geben. Mit den neuen Informationssystemen hat auch die Biometrie als Identifizierungstechnik Einzug gehalten. Sie wird in den kommenden Jahren die polizeiliche Kontrolle an den Grenzen und auf den Straßen der EU revolutionieren. Die jahrelangen Verzögerungen beim Aufbau des VIS und des SIS II halten Kommission und Rat nicht davon ab, in diese Richtung weiter zu marschieren: Ein Ein- und Ausreise-Erfassungssys­tem und ein Programm für registrierte Reisende sind in Planung.[7]

Der 1993 begonnene Aufbau von Europol schien die Träume von Kriminalpolizisten und Staatsschützern wahr werden zu lassen. Der damalige BKA-Präsident Hans-Ludwig Zachert sah in dem Amt die Quintessenz polizeilicher Zentralstellen verwirklicht: „die Informationssammlung, -auswertung und die daraus abgeleitete Koordination polizeilicher Aktivitäten“, die seit der 1819 gegründeten Zentralen Untersuchungskommission in Mainz, der politischen Polizei Metternichs also, das Wesen dieser Zentralstellen ausmache.[8] Europol sollte nicht nur den schnellen Informationsaustausch ermöglichen, sondern vor allem durch strategische und operative Auswertungen – „intelligence“ – einen Mehrwert in der Bekämpfung organisierter Formen der Kriminalität, einschließlich Terrorismus, bringen. Zu den wichtigsten „strategischen“ Produkten gehören mittlerweile die Lagebilder zum Terrorismus (TE-SAT) und zur Organisierten Kriminalität (OCTA), deren praktischer Wert aber sehr zu bezweifeln ist. Für die operative Auswertung betreibt das Amt seit Inkrafttreten der Europol-Konvention 1999 „Arbeitsdateien für Analysezwecke“ (AWF). Hier sollen alle in einem Komplex anfallenden Daten ausgewertet werden dürfen, weshalb der erfassbare Personenkreis kaum eingegrenzt wurde. Andererseits sollte der Zugang auf die zuständigen Europol-Bediensteten sowie die Verbindungsbeamten und Experten der an dem Auswertungsprojekt beteiligten Mitgliedstaaten beschränkt sein. Seit einigen Jahren liegt die Zahl dieser temporären Dateien konstant bei etwa zwanzig. Im Dezember 2003 waren in den damals 19 AWF 146.000 Personen gespeichert. Neuere Zahlen gibt es nicht.[9]

Nach langer Verzögerung ging 2005 auch das Europol-Infor­ma­tions­system (EIS) ans Netz, in dem die Kripo-Zentralen der Mitglied­staaten, die Europol National Units (ENU), alle in das breite Mandat des Amtes fallenden Fälle samt der zugehörigen (potenziellen) Verdächtigen gespeichert werden sollen. Dreizehn ENUs benutzten hierzu Ende 2011 automatisierte „data loader“. Das System wird von den Mitgliedstaaten in sehr unterschiedlichem Maße genutzt und die Europol-Jahresberichte lesen sich deshalb auch re­gel­mäßig wie Werbebroschüren eines Hände ringend nach KundInnen suchenden Unternehmens. Von den 183.240 Ende 2011 im EIS gespeicherten „Objekten“ (davon 41.193 zu Personen) stammten 27 Prozent aus Deutschland, das damit vor Belgien, Frankreich und Spanien der wichtigste „Datenbesitzer“ ist. Rund sechs Prozent der „Objekte“ hat Europol selbst aufgrund der Mitteilungen von Drittstaaten und –organisationen wie Interpol eingegeben. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Abfragen: Fünf ENUs waren für 79 Prozent aller Recherchen im EIS verantwortlich (BKA – 34 Prozent).[10]

Die Polizeien der Mitgliedstaaten erklären zwar regelmässig, dass sie eine Aufwertung Europols wollen, handeln aber oft anders: Praktisch interessiert sie vor allem der schnelle Informationsaustausch, der vor allem über die bei Europol stationierten VerbindungsbeamtInnen der ENUs und damit an den Informationssystemen des Amtes vorbei läuft.

Der im Haager Fünfjahresprogramm von Ende 2004 verkündete „Grundsatz der Verfügbarkeit“ signalisierte eine Neuausrichtung der EU-Da­ten­bankpolitik. Erklärtes Ziel war es nun, keine weiteren zentralen Informationssysteme aufzubauen, sondern den gegenseitigen Zugriff der Polizeien der Mitgliedstaaten auf ihre jeweiligen nationalen Datenbestän­de zu ermöglichen. Praktisch würde dies einen grenzenlosen Binnenmarkt für Polizeidaten mit entsprechend erhöhten Risiken für den Datenschutz bedeuten. Zwar sind dennoch weitere zentrale Datenbankprojekte in Planung und Aufbau (neben den Projekten im Bereich der verpolizeilichten Migrationskontrolle, ein gemeinsames Strafregister, ein Kriminalaktennachweis, eine Sammlung über „troublemakers“, gegebenenfalls im SIS), dennoch zeigt sich eine Abkehr von der zentralistischen Perspektive hin zu einer Vernetzung, die von zentralen Informationssystemen und Institutionen wie Europol unterstützt wird. Mit dem Prümer Vertrag bzw. dem entsprechenden EU-Beschluss wurde der Grundsatz für DNA-, Fingerabdruck- und KFZ-Daten realisiert. Für nachfolgende Informationsersuchen im Falle eines Datenbanktreffers wurden nationale Kontaktstellen errichtet – ein Konzept, das bereits seit längerem für den Informationsaustausch bei Sportereignissen und Demonstrationen praktiziert wird. Mit der „schwedischen Initiative“ wurden zudem verbindliche Fristen für die Beantwortung von Ersuchen eingeführt (acht Stunden für dringende Anfragen, 14 Tage im Normalfall). Europol soll bei allen Eruschen, die in sein Mandat fallen, Kopien erhalten. In diesem Kontext rückte auch die Rolle der für internationale Zusammenarbeit zuständigen nationalen Stellen stärker ins Blickfeld: Sie sollen „one-stop-shops“ sein, d.h. als ENU wie als Interpol-Zentral­büro, als Kontaktstellen für den „Prüm“- wie  für den Schengener Datenaustausch (SIRENE) fungieren.[11]

Dichte Grenzen

Die Zusammenarbeit der Grenzpolizeien hat seit den 90er Jahren in der EU mindestens einen genauso großen Stellenwert wie die der Kriminalpolizeien. Noch im Jahrzehnt davor schien das kaum vorstellbar. Seit den frühen 80er Jahre nämlich waren sich die Länder des nördlichen Westeuropas mit ihrer Abschottungspolitik gegen Flüchtlinge und ImmigrantInnen immer wieder in die Quere gekommen. Man verfolgte zwar das gleiche Ziel, die Begrenzung oder Verhinderung von Einwanderung vor allem aus der Dritten Welt, und bediente sich derselben Mittel – von der sukzessiven Verschärfung des Asyl- und Ausländerrechts über die Ausdehnung des Visumszwangs bis zu verstärkten Grenzkontrollen. Allerdings betrieb man diese Abschottung jeweils im eigenen nationalstaatlichen Interesse und damit in Konkurrenz zu den Nachbarstaaten.

Das SDÜ von 1990 markierte einen ersten Schritt zur Europäisierung. Die Vertragsstaaten (später die EU-Mitgliedstaaten) sollten die Gren­zen im „gegenseitigen Interesse“ kontrollieren und überwachen. 1991 beschloss der Schengener Exekutivausschuss ein ent­sprechendes Handbuch, das die „gemeinsamen Standards“ genauer definierte und sich fünfzehn Jahre später zum Schengener Grenzkodex mauserte. 1993, im Vorfeld der Inkraftsetzung des SDÜ, entsandte der Exeku­tivausschuss erstmals Beobachterteams, um zu überprüfen, ob und wie die Vertragsstaaten die Standards umsetzten. 1997 folgte eine zweite „Evaluation“, nach der formellen Eingliederung der Schengen-Koopera­tion in die EU wurde dies zur Aufgabe einer ständigen Ratsarbeitsgruppe, die vor allem die Beitrittskandidaten unter die Lupe nahm. Trotz der Angleichung von Standards, des Austauschs von VerbindungsbeamtInnen und der technischen Verzahnung insbesondere durch das SIS betrieben die Mitgliedstaaten das Geschäft der Kontrolle und -überwachung ihrer Aussengrenzen jeweils in eigener Zuständigkeit. Das änderte sich seit dem Amsterdamer Vertrag nur insoweit, als die rechtlichen Regelungen für die Grenzen nicht mehr von den Mitgliedstaaten, sondern von der EU gesetzt wurden; die Grenzpolitik wurde „vergemeinschaftet“, ihre Ausführung oblag weiter den nationalen Grenzbehörden.

Diese rechtliche Aufteilung blieb auch erhalten, als die Zusammenarbeit der EU-Grenz­poli­zeien seit den Nullerjahren enger wurde: Ab 2002 begann man mit gemeinsamen Operationen und richtete gemeinsame Zentren ein, die 2005 in der Grenzschutzagentur Frontex zusammengefasst wurden. Diese ist, wie Christoph Marischka bemerkte, eine „Vernetzungsmaschine“.[12] Sie sorgt für den Kontakt zwischen den Grenzpolizeien, mit Europol und anderen EU-Stellen, mit den Pufferstaaten rund um die Außengrenzen, aber auch mit der Sicherheitsindustrie. Frontex spielt eine zentrale Rolle bei der Entwicklung neuer Techniken, bei den Biometrieprojekten der EU wie bei der Grenzüberwachung per Satellit oder Drohnen.

Die Agentur hat zwar selbst keine exekutive Befugnisse, aber die von ihr initiierten und „koordinierten“ gemeinsamen Operationen haben nicht nur quantitativ zugenommen, sondern sich insbesondere im Mittelmeer verstetigt. Die 2011 novellierte Frontex-Verordnung verpflichtet die Mitgliedstaaten, nicht nur für Soforteinsatzteams (RABITs), sondern auch für reguläre gemeinsame Einsätze feste Kapazitäten an Personal und Ausrüstungen vorzuhalten. Die Agentur kann nun auch mehr eigenes Material anschaffen und erhält zudem neben dem Mitgliedstaat, auf dessen Gebiet oder in dessen Gewässern die Operation stattfindet, Leitungsfunktionen. Mit dem geplanten Grenzüberwachungssystems Eurosur wird ihr Einfluss auf die nationalen Grenzpolizeien weiter wachsen.[13]

Grenzüberschreitungen

Dass PolizistInnen auf dem Gebiet anderer Staaten tätig werden, ist längst keine Ausnahme mehr. Hier ein kurzer Überblick:[14]

  • Ermittlungen: Forderungen nach einer direkteren Kooperation bei Ermittlungen standen am Anfang der neuen Polizeikooperation in den späten 70er und frühen 80er Jahren. Gemeint war damit vor allem ein direkterer Informationsaustausch. Um den zu erleichtern, begannen damals auch die europäischen Staaten Verbindungsbeamte zu Polizeien anderer Länder – nicht nur in Europa – zu entsenden. Um die Rechtshilfe zu beschleunigen, behalf man sich zudem mit abgestimmten Parallelermittlungen. Das EU-Rechthilfeübereinkom­men aus dem Jahr 2000 und ein Rahmenbeschluss von 2002 erlaubten zusätzlich die Einrichtung gemeinsamer Ermittlungsgruppen (GEG), die in allen jeweils beteiligten Staaten ermitteln können. Nach anfänglichem Zögern haben sich die Mitgliedstaaten mittlerweile mit dem neuen Instrument angefreundet. Laut dem Eurojust-Jahresbericht gab es 2011 insgesamt 41 neue GEG, darunter 33 mit Beteiligung von Eurojust und Europol.
  • Verdeckte Methoden: Das SDÜ hatte bereits Regelungen für grenzüberschreitende Obswervationen und kontrollierte Lieferungen von Drogen vorgesehen. Mittlerweile ist das Spektrum der verdeckten Einsätze auf fremdem Territorium erheblich breiter und umfasst auch die Entsendung und Ausleihe von verdeckten Ermittern. Die Zeit der nicht abgesprochenen Aktionen und der Skandale ist weitgehend vorbei. Das SDÜ und die diversen bilateralen Abkommen fordern zwar noch eine Meldung grenzüberschreitender Einsätze an die Zentralstellen, ob diese in der Realität tatsächlich erfolgt, darf bezweifelt werden. Insbesondere in dringenden Fällen oder bei Operationen, an denen mehr als zwei Mitgliedstaaten beteiligt sind, übernehmen die Verbindungsbüros bei Europol oder Eurojust eine vermittelnde Rolle.
  • Grenznahe Zusammenarbeit: Durch bilaterale Abkommen auf der Grundlage des SDÜ wurde seit den 90er Jahren auch die Bandbreite der polizeilichen Zusammenarbeit an den Binnengrenzen erweitert. Gemeinsame Zentren fungieren dabei als Drehscheibe für Informationen und Abstimmung von Einsatzplänen. Auch gemeinsame Streifen und Ob­servationsgruppen gehören inzwischen zur Normalität. Mit dem Prümer Vertrag verfügt der größte Teil der EU über Rechtsgrundlagen, die selbst die Ausübung exekutiver Befugnisse auf der anderen Seite erlauben.
  • Großereignisse: Bereits Ende der 80er Jahre begannen die damaligen TREVI-Mitglieder eine Kooperation gegen „Fußballrowdies“, 1996 folgte eine erste „gemeinsame Maßnahme“ über die Zusammenarbeit in Sachen „public order“. Ab 2001 rückten auch Demonstrationen gegen EU- oder G8-Gipfeltreffen ins Blickfeld der EU. Neben dem Informationsaustausch über nationale Kontaktstellen, der Entsendung von Verbindungsbeamten in die Einsatzzentralen und von „spotters“ – szenekundigen Beamten – an die Orte des Geschehens gehört zu dieser Kooperation mittlerweile auch die Gestellung von Wasserwerfern und die Entsendung größerer Bereitschaftspolizei-Einheiten. Die BRD hat sich dabei als Vorreiterin profiliert.
  • Militarisierte Außenpolitik: Polizeiliche Auslandseinätze finden zwar nicht nur unter dem Dach der EU, sondern auch unter dem der UN und der NATO statt. Seit Ende der 90er Jahre bemüht sich die EU allerdings um eine eigene „Sicherheits- und Verteidigungspolitik“. Die Mitgliedstaaten verpflichteten sich nicht nur zur Bereitstellung von militärischen, sondern auch zu polizeilichen „Kapazitäten“ für Auslandseinsätze. Ziel ist u.a., „robuste“ Polizeikräfte auch in „prekären Situationen“ und zeitweise unter militärischem Kommando einsetzen zu können. Dies geht am einfachsten mit Polizeien, die wie etwa die italienischen Carabinieri zwar zivile Aufgaben wahrnehmen, aber dem Verteidigungsministerium und einem militärischem Dienstreglement unterstehen. Das bedeutet aber auch, dass Mitgliedstaaten wie die BRD, deren Polizeien keinen Kombattantenstatus (mehr) haben, unter Anpassungsdruck stehen.

Folgen

Die Folgen der neuen europäischen Polizeikooperationen zeigen sich nicht nur in neuen Institutionen, Datenbanken oder Kooperationsmechanismen auf EU-Ebene, sondern haben auch die Polizeien, die diese europäischen (und internationalen) Instrumente benutzen, selbst verändert. Das zeigt sich im deutschen Falle zuvorderst am BKA. Dass seine neue Abteilung „Internationale Koordinierung“ vom Wiesbadener Haupsitz nach Berlin umgezogen ist, mag angesichts der heutigen technischen Möglichkeiten ein rein symbolischer Akt gewesen sein. Festzuhalten bleibt jedoch, dass die mit internationalen Fragen beschäftigten Organisations­teile über die Jahrzehnte stetig gewachsen sind und an Bedeutung zugenommen haben.[15]

Anders als in früheren Phasen den internationalen Zusammenarbeit wirken sich die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte aber nicht nur auf die Zentralstellen, sondern auf nahezu die gesamte polizeiliche Organisation aus. Die heute ungleich vielfältigeren Kooperationsformen haben dazu geführt, dass das BKA sein Monopol auf die Zusammenarbeit mit dem Ausland verloren hat. Das Bundespolizeipräsidium erhielt bei der letzten Organisationsreform eine eigene Abteilung „Internationale Angelegenheiten/Europäische Zusammenarbeit“, richtete einen Personal-„Pool für Auslandsverwendungen“ ein und baut eine Auslandshundertschaft auf. [16] Die Polizeien der meisten Bundesländer sind heute an der grenznahen Zusammenarbeit beteiligt. Und selbst eine Identitätskontrolle durch einen „einfachen“ Streifenbeamten mitten in der BRD erhält durch die Abfrage des SIS eine europäische Dimension.

Dass die EU längst mehr ist als die Summe ihre Einzelteile, mehr als ein Konglomerat von (souveränen) Staaten, die enger zusammenarbeiten, haben wir in dieser Zeitschrift schon des öfteren thematisiert.[17] Es sind zwar die nationalen Regierungen, die die Innen- und Rechtspolitik im Rat definieren; sie tun dies aber gemeinsam und für die Mitgliedstaaten verbindlich. Es gibt zwar nicht die europäische Polizei; Europol hat nicht die zentrale Bedeutung, die die Minister ihm und das Amt sich selbst geben wollen. Und auch das EU-Grenzschutzkorps, das der deutsche Innenminister Otto Schily 2001 forderte, gibt es noch nicht. Dennoch sind die nationalen Grenzen für die Polizeien der Mitgliedstaaten keine wirklichen Begrenzungen mehr und die EU-Agenturen und Informationssysteme spielen in dieser „Konvergenz“ eine tragende Rolle.

Für die BürgerInnen Europas verheißt diese neue eigentümliche Staatlichkeit nichts Gutes: Die Möglichkeiten, von unten auf die Gestaltung (nicht nur) des polizeilichen Europas Einfluss zu nehmen, sind schon allein durch dessen räumliche Dimension beschränkt. Dass seit Lissabon nun auch Klagen vor einem EU-Gericht gegen Handlungen von EU-Agenturen möglich sind, ist da nur ein sehr kleiner Fortschritt.

Für diejenigen, die an Europas Außengrenzen scheitern, ist dieses Klagerecht kaum existent. Sie müssten nicht nur nachweisen können, dass Frontex ihnen ihre Rechte genommen hat. Sie müssten überhaupt erst den Zugang zu einem Gericht finden. Für sie ist die EU längst ein einheitliches staatliches Gebilde – eines mit oft tödlichen Folgen.

[1]      Fijnaut, C.: Internationalization of criminal investigation in Europe, in: ders.;Hermans, R.H.: Police Co-operation in Europe, Lochem 1987, S. 32-56 (47)
[2]     Behr, R.: Vom Nachtwächter zur Weltpolizei, Hamburg Oktober 1999 http://hdp.hamburg.de/contentblob/2238620/data/zukunft-der-polizei.pdf
[3]     Busch, H.: Grenzenlose Polizei, Münster 1995 sowie ders. u.a.: Polizeiliche Drogenbekämpfung – eine internationale Verstrickung, Münster 1999
[4]     Töpfer, E.: Weltpolizist Bundeskriminalamt, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 96 (2/2010), S. 15-24 (16)
[5]     s. Busch u.a.: Polizeiliche Drogenbekämpfung, a.a.O. (Fn. 2, Kapitel 2
[6]     Ratsdok. 8281/12 v. 28.3.2012
[7]     s. Hayes, B.; Vermeulen, M.: Borderline. EU Border Surveillance Initiatives, Berlin 2012
[8]     Zachert, H.-L.: Die zukünftige Bedeutung der kriminalpolizeilichen Zentralstellen, in: BKA-Vortragsreihe Bd. 38, Wiesbaden 1993, S. 31-42 (32f.)
[9]     Busch, H.: Europol, in Bürgerrechte & Polizei/CILIP 91 (3/2008), S. 33-41 (37f.)
[10]   EIS-Statistik für 2011 in Ratsdok. 6038/12 v. 8.2.2012
[11]    Ratsdok. 7968/08 v. 4.4.2008
[12]   Marischka, C.: Vernetzungsmaschine Frontex, in Bürgerrechte & Polizei/CILIP 89 (1/2008), S. 9-17
[13]   siehe Hayes, B.; Vermeulen, M.: Borderline a.a.O. (Fn. 7)
[14]   detailliert in Bürgerrechte & Polizei/CILIP 96 (2/2010): Grenzüberschreitungen
[15]   siehe insgesamt Töpfer, E. Weltpolizist BKA, a.a.O. (Fn. 4)
[16]   Mauer, A.: Entgrenzung der Bundespolizei, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 90 (2/2008), S. 21-31 (29f.)
[17]   Busch, H.: Europäischer Staat (im Aufbau), in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 84 (2/2006), S. 3-8