(K)ein Grund zur Panik? Staatliche Überwachung und bürgerrechtliche Kritik

Interview mit drei unabhängigen Datenschützern

Seit die ersten Mainframe-Computer in den 70er Jahren im Rechenzentrum des Bundeskriminalamtes in Betrieb gingen hat der informationstechnische Fortschritt die Polizeiarbeit revolutioniert. Atemlos eilen Recht und Datenschutz dem wachsenden Potenzial zur unkontrollierten Überwachung hinterher. Was sich verändert hat, welche Gefahren sich daraus ergeben und wie die Chancen stehen, die Entwicklung bürgerrechtlich einzuhegen, diskutierten Markus Dengel, Sönke Hilbrans und Constanze Kurz. Die Fragen stellte Eric Töpfer.

Vor einigen Jahren schrieb der US-amerikanische Soziologe Gary Marx, dass sich die Formen der Überwachung unbestreitbar verändert haben. Unklar, so Marx, sei aber, ob sich damit auch das Verhältnis von persönlichen Informationen, die gegen den Willen der Betroffenen gesammelt werden, zuungunsten der freiwillig preisgegebenen Informationen verschoben habe. Befinden wir uns angesichts des wachsenden Arsenals neuer polizeilicher und geheimdienstlicher Überwachungsmethoden und Datensammlungen wirklich auf dem Weg in den “Überwachungsstaat”? Oder sind solche Warnungen Alarmismus, die letztlich die Glaubwürdigkeit bürgerrechtlicher Kritik untergraben?

Markus Dengel: Der Begriff der “Freiwilligkeit” bei moderner Datenerfassung keine hilfreiche Kategorie; für Einzelne stellt sich bei jeder Datenerfassung immer die Frage, welche Sanktionen eine Verweigerung nach sich zieht. Will mensch kein biometrisches Foto an die Polizei geben, ist die Konsequenz ein Leben ohne behördliche Meldung. Die Weigerung, Bewegungs- und Kommunikationsprofile bereitzustellen, resultiert in sehr weitgehenden Einschränkungen in den Kommunikationsmöglichkeiten. Wer die Fingerabdrücke nicht erfassen lassen will, darf keinen Pass brauchen, wer nicht über Wochen hinweg Videoaufzeichnungen von sich in irgendwelchen Rechnern liegen haben will, muss Bahnhöfe und vergleichbare Plätze meiden. Die Weigerung, an einem “freiwilligen” DNA-Massenscreening teilzunehmen, mag schließlich ganz ohne Konsequenzen bleiben – oder auch nicht. Was davon ist freiwillig, welche Daten werden dann “freiwillig” abgegeben?

Die in den Beispielen gegebenen Kategorien zeigen jedenfalls: Der Staat greift auf immer vielfältigere Datenquellen zu, und Menschen können ihr Verhalten anpassen, um auf die wachsende Überwachung zu reagieren. Viele tun das. Wie viele das sein müssen und wie intensiv die Verhaltensänderungen sein müssen, um das Prädikat “Überwachungsstaat” zu rechtfertigen, ist eine Frage der Perspektive. Aus Sicht der praktischen Rechtshilfe würde ich die Schwelle klar überschritten sehen

Sönke Hilbrans: Überwachungstechnologien und -kapazitäten wachsen in der modernen Welt schneller, als die Freiräume der Einzelnen wachsen. Von daher nimmt Überwachung relativ – und real – zu. Das bedeutet nicht automatisch, dass auch Repression zunimmt, sondern es steigt vor allem das Repressionsrisiko. Und: es gibt keine trennscharfe Definition des “Überwachungsstaat”. Von einem insgesamt totalitären System, in dem Freiheitsräume wegen des bestehenden Überwachungsdrucks zerquetscht zu werden drohen, können wir wohl im Moment nicht sprechen. Das kann sich freilich ändern, wenn nicht nur die Informationskapazitäten, sondern auch die Repressionskapazitäten zunehmen. Bis dahin leben nicht wir alle im Überwachungsstaat, aber manche Gruppen und Individuen – insbesondere die Zielpersonen von Überwachungsmaßnahmen – in einer lokalen Überwachungsblase.

Daraus folgt übrigens nicht viel für die Glaubwürdigkeit von bürgerrechtlicher Kritik. Diese ist als politische Kritik nicht allzu eng an die Überwachungsrealität angekoppelt. Kleine Manipulationen am Überwachungsgetriebe können politisch große Wellen schlagen, wenn sie die Grenzwerte des politisch Erträglichen erreichen (wie zum Beispiel eine Anti-Terror-Datei). Es geht bei den Bürgerechten nicht nur um eine fachlich zu bestimmende Überwachungsbilanz, sondern auch um gefühlten Überwachungsdruck.

CILIP-Redakteur Fredrik Roggan diagnostizierte angesichts der permanenten Ausweitung polizeilicher und geheimdienstlicher Befugnisse vor mehr als zehn Jahren, dass die Bundesrepublik “auf dem legalen Weg in den Polizeistaat” sei. Allerdings bleibt es eine empirische Frage, ob die neuen Befugnisse auch tatsächlich regelmäßig in Anschlag gebracht werden. Bei ihrer Einführung heftig umstrittene Instrumente wie die Online-Durchsuchungen oder der Große Lauschangriffe werden aber relativ wenig praktiziert. Können sie also vernachlässigt werden, und muss die Aufmerksamkeit nicht vielmehr auf den Überwachungspraktiken liegen, die massenhaft angewandt werden, aber noch nie sonderlich kontrovers waren, wie z. B. die DNA-Analyse?

Markus Dengel: Staatliche Einbrüche in Computersysteme und auch der Große Lauschangriff verdienten die Aufmerksamkeit, weil sie Kulturbrüche waren; in beiden Fällen betrat der Staat in gewissem Sinn Neuland – in beiden Fällen schon mal, indem die Polizei weitere Schritte zum Geheimdienst machte. Dass unterdessen die Erfassung biometrischer Daten (Bilder und Fingerabdrücke) durch das Melde- und Passrecht fast undiskutiert durchsegelte, dass die Schaffung und Nutzung der Telekommunikations-Datenhalden über Jahre hinweg fast unbeobachtet stattfand, dass die Zusammenführung zahlreicher Datenbestände im Rahmen des Zensus im letzten Jahr keinen messbaren Protest auslöste; all das und mehr ist bedauerlich. Es illustriert aber auch, dass Protest nicht planbar ist; insofern ist es vielleicht etwas müßig, darüber nachzudenken, wogegen mensch den Protest gerne sehen würde.

Was planbar ist: Die Instrumentalisierung von Empörung durch den Sicherheitsapparat. Die DNA-Nutzung hat sicher auch deshalb relativ wenig Widerstand gefunden, weil das allgemeine Gefühl ist, sie betreffe ja nur Kinderschänder und Vergewaltiger, und für die könne ja niemand ernsthaft Menschenrechte einfordern. “Universalität von Menschenrechten” ist insofern auch zwischen Proteststürmen ein gutes Thema, wenn es um die Abwehr künftiger Angriffe geht – ein ebenso gutes wie die Vermittlung der Realität des Einsatzes des Überwachungsapparats gegen Ladendiebe und Democlowns.

Constanze Kurz: Angesichts der Menge neuer Überwachungstechnologien, die in den beiden letzten Dekaden erheblich verbessert und weiterentwickelt wurden und zur Anwendung kamen, scheint der Protest dagegen tatsächlich reichlich selektiv. Das wird vor allem deutlich, wenn man potentiellen Nutzen und Gefahren abwägt, die sich mit einzelnen Praktiken verbinden.

Ein Beispiel: Die standardmäßige Biometrie- und Körpermerkmalvermessung in abgleichbaren digitalen Formaten, die mit der Einführung der biometrischen Pässe ihren Beginn nahm und ab November 2011 faktisch auf alle Bundesbürger ausgeweitet wurde, die einen Pass, Ausweis oder eine Aufenthaltskarte besitzen, hat kaum nennenswerten Proteste ausgelöst. Obgleich schon die Begründungen für die Einführung rationalen Kriterien nicht standhalten und ein Heidengeld dabei verbraten wird, blieb vor allem der Aspekt, dass es sich um eine invasive Überwachungstechnologie handelt, fast unbetrachtet. In diesem Jahr kam nun raus, dass die Wirtschaftsunternehmen, die besonders von der Einführung der Pässe und Ausweise profitiert haben, längst eine Ausweitung der Körpermerkmale auf DNA-Daten in den Ausweispapieren erforschen und testen.

Sönke Hilbrans: wenn jemand Zeit und Ressourcen hat, sich empirisch den alltäglicheren Überwachungspraktiken zuzuwenden, bitte schön! Die Orientierung an Gesetzgebung und dort an spektakulären Novitäten hat jedenfalls zu bahnbrechenden Gerichtsentscheidungen und der Entwicklung neuer rechtlicher Instrumente geführt und die Praxis auch bei Eingriffen mit regelmäßig geringerer Eingriffstiefe sensibler gemacht. Natürlich gibt es viel zu tun, auf dem falschen Dampfer ist die bürgerrechtliche Kritik aber nicht.

Polizei und Geheimdienste sind längst nicht die einzigen Datensammler. Im staatlichen Bereich müssen sich Menschen bei Sozial- und Arbeitsämtern regelmäßig “gläsern” machen – von den Ausländer- und Asylbehörden ganz zu schweigen. Auch die Privatwirtschaft erhebt umfangreich Daten. Was ist also das Besondere an der Datensammelei durch Polizei und Dienste und in welchem Verhältnis steht sie zu den Massen von Informationen in anderen staatlichen und gesellschaftlichen Bereichen, die sie mitunter – wie Versicherungen – bedienen oder – wie Banken, Fluggesellschaften und Telekommunikationsanbieter – abschöpfen?

Constanze Kurz: Im Bereich der Polizeien und der Dienste wird ein großer Teil der festgehaltenen Daten ohne Wissen des Betroffenen erhoben. Während man üblicherweise in Ämtern und Behörden darüber Kenntnis erlangt, dass und welche Informationen gesammelt werden, und auch in der Wirtschaft der Datengeber regelmäßig wenigstens informiert ist, dass und zu welchen Zwecken was gespeichert oder weitergegeben wird, bleibt bei Ermittlungen die Existenz einer Datensammlung und im geheimdienstlichen Bereich auch deren Inhalt meist verborgen.

Polizei und Dienste nutzen jedoch privatwirtschaftliche und behördliche Informationssammlungen routinemäßig, insbesondere wenn Daten über alltägliche Verhaltensweisen und Telekommunikation ermittelt werden. Typisch sind etwa der Einbezug der Bankdaten der Betroffenen, aber auch das gesetzliche Auslagern von Ermittlungen im Bankbereich (beispielsweise bei der Geldwäsche). Auch die noch immer geforderte Speicherung von Telekommunikationsverbindungsdaten (Vorratsdatenspeicherung) fiele in diese Kategorie.

Markus Dengel: Und es macht eben doch einen Unterschied, ob Kommunikations- oder Konsumprofile nur in den Business Intelligence-Clustern umhergeschoben werden oder ob die Polizei sie hat: Weder Google noch die Deutsche Bank werden so bald eine Hausdurchsuchung anberaumen, und beiden ist meist egal, wie ihr Kunde zur Bundeswehr oder zu Naziaufmärschen in Dresden steht. Die Polizei hingegen interessiert sich da brennend, und sie rockert dann auch mal durch Wohnungen und Zentren. Geheimdienste tun das zwar nicht, aber nicht nur die gerade jetzt 40-jährige Geschichte der Berufsverbote in der BRD zeigt deutlich, dass auch diese erhebliche Eingriffsmöglichkeiten haben. Das macht die im Normalfall “rein privaten” Daten nicht viel besser: Sie sind normalerweise nur einen Schritt von der Sicherstellung durch die Repressionsbehörden weg – man denke nur an die Kassendaten der OBI-Märkte in Sachsen, die plötzlich in “Terror”-Ermittlungen auftauchen.

Constanze Kurz: Es ist absehbar, dass sich die Polizeien und Dienste in Zukunft vermehrt an behördlichen und privaten Datensammlungen gütlich tun werden. Ursache hierfür ist vor allem die Aktualität der Daten, aber auch Effizienzbetrachtungen bei Ermittlungen.

Die Polizei hat massiv an Mitteln und Methoden der Informationssammlung und -auswertung zugelegt. Trotzdem schien es lange Zeit so, dass die Vision des ehemaligen BKA-Chefs Horst Herold von einer umfassenden polizeilichen Informationsverarbeitung als Basis universeller Kriminalprävention vorbei sind und sich stattdessen mit Konzepten des “intelligence-led” oder “problem-orientied policing” eher schmalspurige Varianten der letztlich auf Repression setzenden Kriminalkontrolle durchgesetzt haben. Was taugen die IT-gestützten Analysen wirklich? Sind die Kriterien beispielsweise des Staatsschutzes – Personen, Institutionen, Orte, Sachen – nicht eher altbacken? Oder droht in Zeiten von “Big Data” die Renaissance von Herolds Visionen?

Markus Dengel: Das Versagen aller Rasterfahndungen seit den ersten Erfolgen unter Herold oder auch das Faktum, dass die “Data Mining-Anwendung” ViCLAS zu den NSU-Morden nichts nützliches ausgespuckt hat, mögen Hinweise sein, dass all die großen Konzepte zur Polizeiinformatik mehr mit Budgets als mit Brauchbarkeit zu tun haben. Letztlich spielt das aber keine Rolle, denn erstens hilft das panoptische Prinzip, die allgemeine Wahrnehmung einer Polizei, die “eh schon alles hat”, und zweitens spielen theoretische Ansätze ohnehin keine Rolle, wenn man über Biometrie und Bewegungsprofile einfach die Unschuldsvermutung umkehren kann. In diesem Meer von Daten reicht die Sorte eher schlichtes Denken, die gerne als “kriminalistische Erfahrung” in Stellung gebracht wird.

Constanze Kurz: Bei den Datensammlungen ist vor allem an die Störerdateien, die derzeit in Karlsruhe angegriffene Anti-Terror-Datei und insgesamt an die polizeilichen und geheimdienstlichen Informationssysteme INPOL und NADIS zu denken. Dazu sind heute Computer mit ausreichender Rechenleistung und adäquaten Auswertungsalgorithmen zugänglich und preiswert, die das Erkennen von Beziehungsgeflechten, Informationsflüssen in sozialen Gefügen, Absichten und Gewohnheiten aus solchen Sammlungen vereinfachen. Die Visionen von Horst Herold, nämlich die “abseitigen, abweichenden Verhaltensweisen in der Gesellschaft forschend zu durchdringen” sind jedoch nur partiell Wirklichkeit geworden, denn das Durchkämmen der Bestände findet bisher nicht in umfassender Weise auf die gesamte Gesellschaft bezogen statt.

Markus Dengel: …und das, weniger die Kontrolle der Datensammlung selbst, dürfte als Erfolg bürgerlichen Datenschutzes durchgehen. Um so schlimmer natürlich, wenn dann große Record-Linking-Kampagnen wie der Zensus 2011 mal eben so durchsegeln.

Sönke Hilbrans: Wir stehen erst am Anfang einer Entwicklung. Gegenwärtig fluten die nicht-staatlichen Datenbestände an wie nie zuvor, und es werden die rechtlichen und physischen Schnittstellen zu den Behörden erst erprobt. Fortschritte macht sicherlich die Telekommunikationsverkehrsdatenanalyse. Von der gleichsam mitlaufenden Auswertung des Datenaufkommens der Gesellschaft zu behördlichen Zwecken sind wir technisch noch ein gutes Stück entfernt, nur liegt das nicht am altbackenen behördlichen Sprachgebrauch. Vielmehr wird das verfassungs- und bürgerrechtliche Denken in der Kategorie des Personenbezugs von der Realität des Dataminings überholt. Darin liegt eine gefährliche Entwicklung, die den Schutz von Freiheitsräumen aushöhlen kann. Es sieht nicht aus wie ein Zufall, dass mit den aktuellen Vorschlägen der EU-Kommission zur zukünftigen Definition des persönlichen Datums – jedenfalls vom deutschen Standpunkt aus – eine Relativierung des Datenschutzes droht.

So falsch der Spruch “Wer nichts zu verbergen hat …” ist, tatsächlich hat, wer angepasst und im relativen Wohlstand lebt, nur selten etwas zu befürchten. Wen trifft die polizeilich/geheimdienstliche Informationserhebung und wie wirkt sie auf die – wirklich – Betroffenen?

Markus Dengel: Ich würde behaupten, dass kaum jemand wirklich an das “wer nichts zu verbergen hat” glaubt. In der einen oder anderen Weise passen alle ihr Verhalten an das von ihnen empfundene Ausmaß an Überwachung an, und insofern geht ein Überwachungsstaat an keinem seiner Bürger vorbei. Die üblichen Verdächtigen – also irgendwie “links” engagierte Menschen – haben dabei natürlich Demonstrationscharakter. Wer im Bericht des Landesdatenschutzbeauftragten Baden-Württemberg liest, dass ein Azubi im öffentlichen Dienst gefeuert wurde, nachdem die Polizei ihn bei einer Sicherheitskontrolle vor dem Besuch des Bundesverfassungsgerichts aus politischen Gründen zurückgewiesen hat, wird sich mit wohligem Schauer freuen, dass die Polizei ja nichts über den Leser selbst hat. Und dabei, gerade weil der Landesdatenschutzbeauftragte das alles fast bereinigt hat, immer noch fühlen wird, der Rechtsstaat laufe doch prima.

Sönke Hilbrans: Die Wirkung von Überwachung auf die real Betroffenen ist (ebenso wie die Wirkung auf Wahnbetroffene) eine Sache der individuellen Disposition. Es haben ja auch andere Übergriffe – von Schamlosigkeit und Unverschämtheiten über Ehrverletzungen bis hin zu schweren Straftaten – sehr unterschiedliche Folgen für das Weiterleben der Betroffenen. Die Fähigkeit, Frustrationen, Unsicherheit und Zumutungen auszuhalten, ist völlig unabhängig davon verteilt, ob die Betroffenen überhaupt und ggf. zu Recht Objekte von Überwachung geworden sind.

Constanze Kurz: Ich lebe weitgehend angepasst und im relativen Wohlstand. Ihr glaubt gar nicht, was ich alles zu verbergen habe und was ich erst zu befürchten hätte, wenn das rauskäme. Aber mal Sarkasmus beiseite: Ich halte die Unterscheidung in Betroffene und Nicht-Betroffenen nicht für sinnvoll, denn Konformitätsdruck durch Repression und technische Präventiv-Überwachung trifft auf lange Sicht alle Teilnehmer eines sozialen Gebildes.

Technik wirkt bekanntlich nicht nur nach außen, sondern verändert auch die sie nutzenden Menschen und Organisationen. Was hat sich innerhalb der Polizei durch den dramatisch gewachsenen Einsatz von Informationstechnologie gewandelt? Wie haben sich die Institution Polizei, ihr Personal und die Polizeiarbeit verändert?

Sönke Hilbrans: Das fragt Ihr natürlich besser die Polizisten. Technisierung verlangt tendenziell wohl einen höheren Ausbildungsstand und fördert intern die Technikspezialisten, potentiell wohl auch den Kostendruck auf den Einzelnen. Aber auch eine technisierte Polizei kann eine demokratische Polizei sein.

Markus Dengel: Was sich geändert hat, ist von außen schwer zu sagen, auch wenn die Routine, mit der offenbar Funkzellenabfragen im Gesamtspektrum polizeilichen Handelns angesetzt werden, Böses ahnen lässt. Klar ist auf der anderen Seite, was sich ändern wird, je mehr Daten auf Vorrat bei der Polizei landen: global personalisierbare Fingerabdrücke, Bewegungsprofile, DNA-Spuren, prädiktive Analytik, Kameraaufzeichnungen und vielleicht noch ein paar Techniken mehr werden einen Satz Verdächtiger liefern, und wer nicht seine Unschuld beweisen kann, wird jedenfalls eine ordentliche Untersuchung abbekommen. Die Verfahren mit DNA-Massenscreening geben da schon einen Vorgeschmack.

Was kann unter den geänderten Vorzeichen Datenschutz heute erreichen? Ist die Orientierung auf den Schutz der Privatsphäre oder gar nur noch ihres “Kernbereichs” nicht der falsche Ansatzpunkt? Geht es nicht vielmehr darum, das Handeln in der Öffentlichkeit, bei der politischen Tätigkeit, bei unseren sozialen Beziehungen zu schützen?

Constanze Kurz: Konzepte des Datenschutzes wurden und werden von einer juristischen Perspektive aus entwickelt. Seit dem Volkszählungsurteil und dem prägenden Begriff der informationellen Selbstbestimmung sowie dem Streit um den “Großen Lauschangriff” und der Weiterentwicklung der Idee eines unantastbaren “Kernbereiches der privaten Lebensgestaltung” durch die Karlsruher Richter haben sich allerdings mit den technischen Alltäglichkeiten andere Herausforderungen ergeben, denen der juristische Diskurs lange hinterherhinkte. Neben diesen neuen technischen Gegebenheiten läuft auch die Kommerzialisierung von Daten in dem heute zu beobachtenden gewaltigen Ausmaß quer zu den typischen Datenschutzkonzepten, die als Abwehrrechte gegen den Staat konzipiert waren, nicht als Abwehrrechte gegen inländische, vor allem aber ausländische Unternehmen. Typische Standards des Datenschutzes, vor allem die Idee der Datensparsamkeit und der Zweckbindung, erscheinen heute vielen als anachronistisch, auch deshalb, weil die Politik viele Jahre lang den Datenmarkt ebenso “liberalisiert” hat wie andere Märkte.

Ich halte es nach wie vor für richtig, dass der “Kernbereich” ganz besonders schützenswert ist, auch dass die großen Linien im Datenschutz an der Menschenwürde orientiert sind. Sie sollten aber neu interpretiert und für den kommerziellen Bereich erweitert werden.

Was das politische Handeln betrifft, so wird der geneigte Aktivist auch in Zukunft nicht umhinkommen, sich gegen Repression zur Wehr zu setzen. Das heißt heute ganz praktisch: seine Kommunikation absichern und seine Daten schützen, aber auch dafür Sorge tragen, dass er sein Umfeld nicht durch eigene mangelnde Datenhygiene kompromittiert.

Markus Dengel: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist sicher zweischneidig. Einerseits erlaubte das Volkszählungsurteil das direkte Andocken des Datenschutzes an die Menschenwürde und damit an das ganz große Kaliber der Menschenrechte. Andererseits lenkt der Begriff des “Kernbereichs privater Lebensführung” aber ab von den Bedenken, die das Gericht im Volkszählungsurteil völlig richtig formulierte, dass nämlich unüberschaubare Überwachung politische Partizipation der Überwachten ersticken wird. Denn dafür ist es egal, ob die Polizei mein Klo verwanzt, aber höchst relevant, ob sie über Jahre Dossiers anlegt und verknüpft, bei welchen Demos ich war, mit welchen Menschen ich in der Öffentlichkeit gesprochen habe, zu welchen Publikationen ich beigetragen habe.

In dem Sinn ist Hauptaufgabe des Datenschutzes aus meiner Sicht, im gesellschaftlichen Bewusstsein zu erhalten, dass Freiheitsrechte historisch gegen die Staatsgewalt durchgesetzt wurden, und dass sich der moderne Staat in der Hinsicht nicht wesentlich von seinen Vorgängern unterscheidet. Wie früher der Hofnarr, erbringen heute die diversen Beauftragen für Datenschutz für Herrscher wie Beherrschte eine wichtige Dienstleistung – aber immer in der Logik der Machtausübung und ihrer Ausweitung. Die Staatsmacht zu beschränken oder in Bahnen zu leiten, die den Beherrschten vielleicht sogar (z.B. gegen die Akteure am Datenmarkt) nützen: Das können sie nicht leisten, das war Sache der Untertanen, und das wird sich so schnell nicht ändern.

Sönke Hilbrans: Die Orientierung am personenbezogenen Datum ist nicht falsch und verfassungsrechtlich unumgänglich, aber die Entwicklung darf nicht dabei stehen bleiben. Das Schutzgut des Datenschutzes ist fortzuentwickeln in Lebenslagen, in denen ein Personenbezug (noch) nicht hergestellt wird (Bsp.: RFID-Tags, Geopositionsdaten von Geräten, Protokoll- und Logdaten in Netzwerken und von Services usw.) und in denen es keines Personenbezugs bedarf, um Einfluss auf individuellen Freiheitsgebrauch zu nehmen (Bsp: Übersichtsaufnahmen von Videokameras, Erfassung von Gruppen, Profiling). Dadurch ließe sich das autonome politische und soziale Handeln des Einzelnen in einer zunehmend von Manipulationstechniken mitbestimmten Welt erhalten.

Was kann Datenschutzrecht noch bewirken, wenn die Politik regelmäßig die Grenzen verschiebt, wenn Recht keine Grenzen mehr setzt, sondern Zwecke definiert?

Sönke Hilbrans: Dass der Datenschutz abgeschafft würde, kann ich nicht erkennen. Und eine Krise der Steuerung von komplexen Gesellschaften durch Recht wird auch am Datenschutz nicht vorbeigehen. Wir müssen uns aber von der Vorstellung verabschieden, dass Datenschutz gleichsam ein Stoppschild für politisch oder bürgerrechtlich unerwünschte Entwicklungen sein könnte. Wer immer gefordert hat, dass der Datenschutz populär werden solle, muss sich jetzt nicht wundern, dass er nicht mehr ein Zauberstab in der Hand einiger – im günstigen Fall wohlmeinender – Experten ist, sondern eine unter vielen auszuhandelnden Interessen.

Markus Dengel: Dabei war allerdings der Datenschutz in den vergangenen zwanzig Jahren ein erstaunlich scharfes Schwert, nicht nur im Bereich des Dammbaus im Repressionsbereich, sondern etwa auch für Personalräte im öffentlichen Dienst, die mit seiner Hilfe “über Bande” teils erstaunliche Mitspracherechte erzwingen konnten. Dass die Zeiten vorbeigehen, in denen ein Rekurs auf “den Datenschutz” tatsächliche Mobilisierung – ob auf der Straße gegen die Vorratsdatenspeicherung oder im Betrieb gegen kleinsträumige Zeiterfassung – recht weitgehend ersetzen konnte, das ist gut möglich. Die diversen Gegenseiten haben zweifellos aus ihren kleinen Niederlagen der Vergangenheit gelernt.

Das Datenschutzrecht wird auch in Zukunft einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Akteuren bewirken, deren widerstreitende Interessen hier aufeinandertreffen – z.B. Online-Verkäufer, deren Glaubwürdigkeit jedenfalls an der Wahrnehmung der Kunden hängt, ihr Rechner und das Netz seien nicht kompromittiert, versus Überwachungsapparat, der natürlich gerne in jedem Rechner und auf jedem Draht sitzen würden. Irgendwo dazwischen ist sicher auch Platz für Bürgerrechtsgruppen, aber wahrscheinlich ist es für diese Zeit, eher wieder die “Zwecke” direkt anzugehen. Und das findet jedenfalls traditionell auf der Straße statt und allenfalls mal taktisch im Gerichtssaal.

Wie lässt sich der Datenschutz repolitisieren?

Markus Dengel: Wollen wir das überhaupt? Oder wollen wir nicht lieber die Gesellschaft insgesamt repolitisieren, und schon ohnehin das weite Feld zwischen Gefahrenprognose und Sicherungsverwahrung?

Markus Dengel gehört zu den Betreibern der Website datenschmutz.de, einer Sammlung von Informationen zu Datenbanken von Polizei und Geheimdiensten, die von Datenschutzinteressierten innerhalb der Roten Hilfe getragen wird.
Sönke Hilbrans, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht in Berlin, Mitglied im Vorstand des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV) und der Deutschen Vereinigung für Datenschutz (DVD).
Constanze Kurz ist Informatikerin und wissenschaftliche Projektleiterin am Forschungszentrum Kultur und Informatik der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Sie ist ehrenamtliche Sprecherin des Chaos Computer Clubs und Sachverständige der Enquête-Kommission “Internet und digitale Gesellschaft” des Deutschen Bundestages.