Antirepressiondemo am 22.3.2014 in Berlin. www.montecruzfoto.org

Ach, der Verfassungsschutz! Der Inlandsgeheimdienst und die Antifa

von Ulli Jentsch (apabiz)

Für das Antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin (apabiz) ist klar: Es braucht ein Frühwarnsystem gegen Neonazis – aber kein geheimdienstliches, sondern eines, das aus der Gesellschaft selbst kommt.

Zu keiner Zeit seit 1990 gab es so vielfältige Einblicke in die Arbeitsweise und Denkweise der Verfassungsschutzbehörden wie in den letzten zwölf Monaten. Plötzlich liegt all das auf dem Tisch: die undemokratischen Einstellungen der MitarbeiterInnen, das systemische Versagen in der Analyse der Naziszene und die andauernde Fehlbewertung der tödlichen Gefahren, die sich daraus ergeben. Und auf einmal stellt sich die Frage, ob der Verfassungsschutz (VS) abgeschafft gehört. Eine politische Forderung, die noch vor Jahresfrist einem politischen Selbstmord immerhin ziemlich nahe kam.

Wer sich kontinuierlich mit Nazis beschäftigt, sei es als JournalistIn, als Engagierte in Initiativen oder in einem der staatlich finanzierten Projekte, kommt früher oder später nicht um die VS-Behörden herum. Die meisten bedauern das, aber manchmal muss es eben sein. Die Papiere, die dort verfasst werden, sind oft nicht der Rede wert, manchmal banal, immer wieder ärgerlich. Antifaschistische Initiativen stehen zudem selbst im Visier des VS, werden bespitzelt, überwacht und denunziert. Und der VS drängt seit Jahren verstärkt in die politische Bildung und dient sich der Politik als billige, staatliche Demokratievermittlungsinstanz ohne öffentlichen Auftrag an.

Die erste und naheliegende Auseinandersetzung dreht sich um die öffentliche Deutungshoheit über das Thema „Rechtsextremismus“. Hier geht es um Analysen, Zahlen, Strukturen und Entwicklungstendenzen der extremen Rechten und um die Zurückweisung des vom Amt verwendeten „Rechtsextremismus“-Begriffs. Wir, das apabiz, stellen seit vielen Jahren nicht nur unser Archiv und die darin enthaltenen Materialien zur Verfügung, sondern auch unsere „Expertise“. Wir reden gerne mit möglichst vielen Menschen über die verschiedenen Aspekte und Entwicklungen in der Naziszene – und geben gerne unseren eigenen Senf dazu. Nach unserer Erfahrung ist für viele der Umgang mit Behördenquellen überaus pragmatisch. Es ist eine Quelle unter anderen, sie ist staatlich, was ihr ein gewisses Gewicht verleiht. In der kritischen Forschung mehr noch als im Journalismus gilt das Behördenurteil aber vergleichsweise wenig. Der verwendete Extremismusbegriff entwertet die Analysen und hat sich in der Forschung, obwohl beide von „Rechtsextremismus“ reden, überwiegend diskreditiert.

VS ist praktisch

Aber alle wollen Zahlen. Zahlen sind griffig, sie verdeutlichen ein offenbar ansonsten diffuses Phänomen. Hier haben nicht-staatliche Initiativen ein echtes Problem. Sie erheben nur wenig belastbares Zahlenmaterial.[1] Seriöse Angaben beispielsweise über die Mitgliederzahl der NPD in den Bundesländern machen zu können, ist schwierig. Jahrelang haben selbst überaus staatskritische antifaschistische Initiativen die Zahlen des VS verwendet. Und mal 20 oder 30 Prozent oben drauf gerechnet, sozusagen um den durchschnittlich anzunehmenden Verharmlosungsfaktor der Behörde auszugleichen. Das mag hier banal klingen, ist aber in der Auseinandersetzung um die Deutungshoheit nicht zu vernachlässigen. Die Forschung dürfte solche Zahlen streng genommen außer als Hinweis nicht zu weiteren Analysen verwenden, denn sie kann ihre Entstehung nicht prüfen. Die Medien, zumindest die kritischen, verlangen oft nach alternativem Zahlenwerk, das aber leider nur in Ausnahmefällen vorhanden ist. So bleiben die Zahlen des VS trotz aller Mängel gesetzt, sie erlangen Faktizität, weil es an Alternativen fehlt.

Die Redaktionen der großen Medien, aber auch die einzelnen JournalistInnen tragen ohnehin einen großen Anteil daran, die Arbeit des VS immer wieder zu legitimieren. Die Chefetagen halten Artikel über das Thema „Rechtsextremismus“ für überwiegend unseriös, so lange sie im Text kein Zitat der Behörden finden, und sei es auch noch so flach. Thomas Leif hat in einem zu wenig beachteten Artikel deutlich niedergelegt, wie der Informationshandel zwischen den Behördenquellen und den Medien im Bereich der Geheimdienste funktioniert und schreibt Klartext: „Die beiden relevanten Nachrichtenmagazine, ganz wenige führende Tageszeitungen und die ‚Geheimdienst-Experten‘ der öffentlich-rechtlichen Anstalten werden privilegiert und abgeschottet ‚informiert’. Im Gegenzug wird von ihnen erwartet, dass sie die platzierten Interpretationen, Warnungen und Analysen eins zu eins übernehmen und möglichst als breaking news agenturfähig vermarkten. Was als ‚exclusiv‘ verkauft wird, ist oft nicht mehr als eine bestellte Botschaft.“[2] Selbst als „Edelfedern“ gepriesene AutorInnen lieferten im NSU-Komplex Artikel ab, deren Newsgehalt aus einer einzigen, ungeprüften Nachricht von einer nicht genannten Person aus „Sicherheitskreisen“ bestand: kein Konjunktiv, keine zweite Quelle, kein Hinweis auf die generelle Fragwürdigkeit der Behördenaussagen in diesem konkreten Fall. Da fällt es den Behörden wahrlich leicht, die Medien für die eigenen PR-Kampagnen einzuspannen. So zuletzt geschehen im Oktober, als das Bundesamt für Verfassungsschutz in einem Hintergrundgespräch ausgewählten MedienvertreterInnen die angebliche Gefährdung ihrer V-Leute durch die Vielzahl der Aktenweitergaben nahe brachte. Es hagelte prompt entsprechende „bestellte Artikel“.[3]

Auch der Umgang mit den zu Recht viel gescholtenen VS-Berichten ist oft problematisch. Während antifaschistische Initiativen monatelange Prozesse in Kauf nehmen, um falsche Anschuldigungen aus den VS-Berichten tilgen zu lassen, gelten ansonsten hier nieder geschriebene Wertungen als „gerichtsfest“. Es ist praktisch und einfach für die Rechtsvertretung und vor allem für die Medien: Bringe einen Auszug aus einem VS-Bericht und das Gericht ist schon beinahe überzeugt. Nun urteilen nicht alle Gerichte nach Aktenlage und stellen amtliche Schriftstücke über alle anderen Beweise, aber der Fingerzeig auf die VS-Aussage erleichtert die Beweisführung doch erheblich. Und kurze Beweisführungen gefallen den meisten Gerichten und den AnwältInnen und MandantInnen auch. Ein wissenschaftlich begründeter „Rechtsextremismus“-Begriff jenseits staatlicher Vorgaben sollte zwar auch vor Gericht standhalten können, die Mühen werden jedoch meist gescheut.

Die Analysen hinterher getragen

Antifaschistische Initiativen haben der Politik und den Behörden in den letzten zwanzig Jahren so manche Analyse hinterhergetragen. Es ist ja ein Teil des Selbstverständnisses des VS wie aller anderen im Staatsschutz aktiven Behörden, dass sie die Verfolgung von Straftaten ermöglichen als auch Grundlagen für weiter gehendes staatliches Handeln wie bei Partei- und Vereinsverboten liefern wollen. Über ihr Versagen, sei es nun absichtlich, aus Versehen oder strukturell erzwungen, wissen wir inzwischen einiges mehr. Der Druck, offen neo-nationalsozialistische Strukturen überhaupt wahrzunehmen, kam in vielen Fällen aus der Gesellschaft und nicht aus den Behörden. Bei den letzten Vereinsverboten gegen die Heimattreue Deutsche Jugend (HDJ) oder die Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene (HNG) beispielsweise waren es Recherchen von antifaschistischen Initiativen und JournalistInnen, die die Politik in Gang gebracht haben. Diese setzte erst die Behörden in Bewegung, um die Verbote vorzubereiten.

Der Blick in die momentan so im Fokus stehenden 1990er-Jahre zeigt, dass es auch damals bei anderen Phänomenen nicht viel anders lief. Es brauchte beispielsweise jahrelange Hinweise auf die gewaltbereite Nazi-Skinhead-Szene, bis diese wahrgenommen wurde. Und selbst dann wurde ihre Bedeutung notorisch klein geschrieben: als subkultureller Bereich ohne besondere organisatorische Bedeutung. Viele Publikationen jener Jahre hinterließen den Eindruck, dass den Behörden alle Organisationsformen, die keine Mitgliedsausweise verteilen, nicht ins Raster passten. Heute wissen wir, welche Bedeutung diese politisch, organisatorisch und sozial hatten, denn sie waren der Geburtsort des bedeutendsten rechtsterroristischen Netzwerkes Deutschlands, dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU). Inzwischen verläuft der „Kompetenztransfer“ aus der Zivilgesellschaft in die Politik und die Behörden sicherlich über mehr und eingespieltere Kanäle als früher, es sind nicht die „kleinen Antifagruppen“ alleine, die sich daran abmühen. Aber der Informationsfluss geht dennoch meistens von unten nach oben. So wird denn nach wie vor in manchen VS-Analysen gerne und völlig opportunistisch aus „Antifa“-Quellen abgeschrieben, die sonst überwacht werden. Und selbst Fotos oder ganze Vortragskonzepte wurden von Behörden schon abgekupfert ohne einen Hinweis auf die VerfasserInnen, die solche Arbeitsweise in der Regel nur Achsel zuckend zur Kenntnis nehmen können. Das Urheberrecht, so hieß es auf Nachfrage, gelte für die Dokumentationen der Behörden nicht. Und Transparenz schadet nur, möchte man hinzu fügen.

Anfang der 2000er-Jahre geriet der VS abermals ins öffentliche Hintertreffen in punkto Deutungshoheit oder wie die Innenminister heute beschwören als „maßgebliche Bewertungsinstanz für Extremismus“[4]. Der sogenannte „Aufstand der Anständigen“ öffnete kurzfristig das Fenster für nicht-staatliche „Bewertungsinstanzen“, und es dauerte eine Weile, bis der VS wieder zurück ins Spiel fand.

Kein „alternativer Verfassungsschutz“, please!

Die Arbeit der antifaschistischen Initiativen ist in den letzten Monaten oft und manchmal durch berufenen Mund gelobt worden. Unser aller ehrenamtliches und kritisches Engagement gilt zunehmend als „seriös“[5], kompetent und mit einem größeren Potential ausgestattet als die Verfassungsschutz-Behörden. Wir selbst wurden namentlich und öffentlich als Alternative genannt zu einer offensichtlich überforderten VS-Behörde, der von Mecklenburg-Vorpommern. Grund dafür war die Unfähigkeit des Landesamtes, die dort erscheinenden Nazi-Publikationen aufmerksam auszuwerten. Dadurch war den Verfassungsschützern ein offener Gruß an den NSU entgangen, der 2002 im Editorial des Nazi-Blättchens „Der Weiße Wolf“ erschienen war. Nach einem Hinweis veröffentlichten wir diesen Beleg einer frühen Zusammenarbeit von Terrorzelle und Naziszene. Es folgte ein Ermittlungsverfahren und eine Hausdurchsuchung gegen den damaligen Macher, der heute als Abgeordneter der NPD im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern sitzt.

Das geschmähte Amt soll sich angeblich jede Mühe gegeben haben, von uns nicht noch einmal erwischt zu werden.[6] Heraus kam ein frisch erschienener VS-Bericht, in dem die antifaschistische Band „Feine Sahne Fischfilet“ mit mehr Zeilen bedacht ist als der gesamte NSU, der in diesem Bundesland immerhin einen Menschen ermordet hat und mehrerer Banküberfälle verdächtigt wird. Und ebenfalls mehr Aufmerksamkeit erhält als ein neonazistischer Online-Infodienst (MUPINFO), der von eben jenem NPD-Abgeordneten betrieben wird, der noch 2012 im Besitz eines Briefes des NSU war. Dafür wird dieser neonazistische Infodienst ganze zwanzig Mal als Quelle bemüht.[7] „Allerdings braucht es keinen Verfassungsschutzbericht, um zu wissen, was auf MUPinfo steht, da reicht ein Blick auf die Seite selbst. Hintergrundinformationen? Woher denn?“, kommentierte ein linker Blog zutreffend.[8]

So etwas wie einen „alternativen Verfassungsschutz“ kann es nicht geben, und wir kennen keine antifaschistische Initiative, die sich für so etwas hergeben würde. Der Ruf nach alternativer Beobachtung und Recherche ist älter als die aktuelle Geheimdienst-Krise und diese Beobachtung wird seit Jahrzehnten auch durchgeführt, eben durch AntifaschistInnen. Dies geschieht, wie dankenswerterweise manche in der heutigen Debatte nicht müde werden zu betonen, teilweise unter Einsatz der Gefährdung von Leib und Leben der Beteiligten. Beim Spaziergang durch einen abgelegenen Wald im herbstlichen Dauerregen von einem entgegenkommenden „Dienst“-Pärchen augenzwinkernd gegrüßt zu werden, gehört dabei noch zu den witzigen Momenten der antifaschistischen Feldforschung. Die anwesenden Dienste treten einem hier wenigstens nur bildlich gesprochen auf den Füßen herum.

Antifaschistische Recherche wird durch polizeilichen Staatsschutz und VS beständig kriminalisiert. In Berlin hat es in schöner Regelmäßigkeit Versuche gegeben, das Fotografieren von Nazi-Aufmärschen oder überhaupt die Dokumentation neo-nazistischer Aktivitäten zu unterbinden. Die hierzu verwendete Konstruktion lautete immer, die Dokumentation geschehe zur Vorbereitung von Straftaten. Oder sie sei an sich schon strafbar. Aus solchen Erfahrungen heraus haben wir vor Jahren begonnen, die öffentliche Dokumentation von Nazi-Aufmärschen offensiv nach außen zu vertreten. „Dokumentation ist gerechtfertigt und notwendig!“, lautete die Botschaft. Diese Arbeit hat bisher zu einer Reihe von Strafverfahren und Verurteilungen gegen gewalttätige Nazis aufgrund der Ton- und Bilddokumente geführt. Aber auch zu einem eingestellten Ermittlungsverfahren gegen das apabiz, das auf die Anzeige durch eine Stadt bekannte Neonazistin beim Berliner Staatsschutz zurück ging. Absurderweise hieß es, wir hätten gegen das Jugendschutzgesetz verstoßen, weil wir eine indizierte Naziseite als Quelle (!) in einem Dokument angegeben hatten. So konterkarieren die „Extremistenjäger“ eine Arbeit, die der Berliner Senat fördert.[9]

In der jetzigen Debatte über den VS wird leicht übersehen, dass manche Landesämter sich in den letzten Jahren um einen Imagewandel bemüht hatten, hin zu einem Konzept des „offenen Demokratieschutzes“[10]. Dazu gehörte neben dem Ausbau der Bildungsarbeit der Versuch, sich als eine Art Politikagentur im öffentlichen Raum zu etablieren. Hier wird dann nicht das Gewicht der eigenen, staatlichen Kompetenz in den Vordergrund gestellt, sondern man möchte in einer soften Variante als ein Akteur unter vielen im öffentlichen Diskurs wahrgenommen werden. Da fallen in Podiumsdiskussionen gerne solche Sätze wie: „Eigentlich machen sie und wir doch die gleiche Arbeit!“, um daran irgendeine anschleimende Perspektive der Zusammenarbeit zu knüpfen. Es kostet Mühe, sich dieser Avancen zu erwehren und oft noch mehr, den Anwesenden die Gründe für solche Distanz zu Strafverfolgungs- und Geheimdienstbehörden darzulegen. Besonders KommunalpolitikerInnen und MitarbeiterInnen bei Verwaltung und Justiz, aber auch viele LehrerInnen, klammern sich gerne an das, was ihnen als Behördenurteil sakrosankt scheint. Mit diesen Anmaßungen müssen sich vor allem überwiegend staatlich finanzierte Projekte der mobilen und Opferberatung herumschlagen. Und auch nicht jedes Landesamt hat diesen Aspekt des „offenen Demokratieschutzes“ bereits umsetzen können. Denn Kooperation und Dialog wollen die Innenminister nur „allgemein anerkannten Initiativen der Gesellschaft“ angedeihen lassen.[11] Und das sind im Zweifelsfall wenige.

Wir selber wurden dafür kritisiert, dass wir uns auch mit VS-VertreterInnen auf Podien gesetzt haben. Solche Events lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen, und kein Fall war nicht vorher diskutiert worden. Es gibt pragmatische Gründe, die für die Teilnahme sprechen. In manchen Fällen war klar, dass wir das Sprachrohr derjenigen sein sollen, die nicht auf das Podium gelassen werden: die Antifagruppen vor Ort. Trotz dieser stellvertretenden Funktion blieb das Setting schwierig: Zu gerne wurde die Rolle der Initiativen darauf reduziert, die „bunten Bildchen“ zu liefern, die der staatliche Repräsentant interpretieren durfte – eine Arbeitsteilung, die leider auch heute noch zu beobachten ist und von der auch VertreterInnen der Forschung gelegentlich ein Lied singen können. In der jetzigen Situation, in der jedes öffentliche Auftreten des VS eine PR-Maßnahme ist, verbieten sich solche Podien unserer Meinung nach schon aus grundsätzlichen Erwägungen.

Wir wollen euren Schlapphut nicht!

In irgendeiner Konkurrenz zum VS, vor allem zu dem in Berlin, sahen wir uns aber bisher nie. Sicher klatschen wir uns im Archiv ab, wenn im Fernsehen in einer Meldung die Worte „apabiz“, „Verfassungsschutz“ und „abschaffen“ in einem einzigen Satz fallen. Und wir registrieren auch aufmerksam, wenn die eigenen Veröffentlichungen woanders abgeschrieben werden. Dies sind Hinweise auf die Reichweite der eigenen Arbeit. Ob das mit der Konkurrenz andersherum auch so gesehen wird, bezweifeln wir aber zunehmend. Im Zusammenhang mit dem „offenen Demokratieschutz“ stehen die Bemühungen des VS, sich verstärkt in der politischen Bildungsarbeit zu engagieren, in den Schulen und außerhalb. Antifaschistische Initiativen in unserem Netzwerk erfuhren dies dadurch, dass bereits zugesagte Veranstaltungen plötzlich wieder abgesagt wurden – manches Mal, weil der VS mit seinem Umsonstangebot den späten Zuschlag der Schule erhalten hatte. Da wir und andere Bildungsträger den VS als Akteur vor allem an den Schulen für inakzeptabel halten, riefen wir mit vielen anderen im Juni 2011 die Initiative „Bildung ohne Geheimdienst“[12] ins Leben. Den Aufruf unterzeichneten weit über hundert Personen und Bildungsträger.

Ersatzlos abschaffen – jetzt!

Die momentane Diskussion über den Sinn des Verfassungsschutzes ist erfreulich, birgt aber auch Gefahren. Denn hier verlaufen zwei Diskussionen parallel zueinander: Die KritikerInnen wollen den Inlandsgeheimdienst abschaffen oder zumindest degradieren, um damit die demokratische Kontrolle über diesen Bereich zu verbessern. Die anderen, die „Sicherheitsarchitekten“, wollen die institutionelle Krise nutzen, um mehrere Behörden zu effektivieren, sie umzubauen und zu zentralisieren. Auch in diesem Szenario könnte der eine Dienst oder die andere Landesbehörde faktisch „abgeschafft“ werden – zugunsten einer neuen effizienten „Superbehörde“. Generalbundesanwalt Harald Range hat sein Amt dafür schon mal ins Spiel gebracht.

Bei dieser Debatte drohen Aspekte ins Hintertreffen zu geraten, die allen antifaschistischen Initiativen und Projekten wichtig sein sollten: Wie wichtig ist der Gesellschaft ein verlässliches Frühwarnsystem über die Entwicklungen der extremen Rechten, speziell auch der gewalttätigen neonazistischen Szene? Es ist ein Witz der Geschichte, dass Deutschland seine Aufklärungsarbeit über „Rechtsextremismus“ einem Geheimdienst in die Hände gelegt hat. Es braucht zivile, nicht-staatliche Beobachtung und Aufklärung, denn der Staat, ja dessen eigene Instanz für Beobachtung und Aufklärung, der Inlandsgeheimdienst selber, hat seinen eigenen Beitrag zu der Existenz und Weiterentwicklung der neonazistischen Strukturen geleistet. Der VS hat nicht hier und da versagt, er hat sich mitschuldig gemacht. Und die Parlamente haben sich jahrelang um die Kontrolle des VS nicht ansatzweise geschert. Verglichen damit ist in diesem Land die Kontrolle von Lebensmittelprodukten besser geregelt.

Was können antifaschistische Projekte von den weiteren Debatten erwarten? Die Law-and-Order-Strategen bringen sich in den letzten Monaten wieder deutlich in Stellung und werden alles daran setzen, ihre Agenda einer reformierten und modernisierten „Superbehörde“ umzusetzen. Es wird viel davon abhängen, wie sich die SPD an dieser Stelle verhalten wird. Sollte sie sich gegen diese „Verschlimmbesserung“ stellen und eine wirkliche demokratische Kontrolle verlangen, könnte es nach den Neuwahlen im Herbst auch tatsächliche Veränderungen geben. Sie könnte sich aber auch dafür entscheiden, die „Superbehörde“ hinzunehmen und sich mit einem neuen NPD-Verbotsverfahren zufrieden geben.

Fordern wir also das Unmögliche: die sofortige Abschaffung des Verfassungsschutzes. Den Rest müssen wir, wie gehabt, mal wieder selber machen.

[1] Ausnahmen sind die durch die Opferberatungsprojekte erhobenen Zahlen der Opfer rechter Gewalt sowie die journalistischen Recherchen über die Todesopfer rechter Gewalt.
[2] vgl. Leif, T.: Bestellte Wahrheiten. Ganz exklusiv, http://carta.info
[3] vgl. Gensing, P.: Operation PR-Offensive, www.publikative.org
[4] vgl. Innenminister der Länder: Strategiepapier zur Neuausrichtung des Verfassungsschutzes vom 28.8.2012, www.mi.niedersachsen.de
[5] so Hans Leyendecker in der Süddeutschen Zeitung v. 29.3.2012, in dem unser Archivfund allerdings auch als mögliche Fälschung gehandelt wurde
[6] Das behauptet der Online-Infodienst endstation rechts, der über etwas verfügt, was gerne „gewöhnlich gut unterrichtete Kreise“ genannt wird, www.endstation-rechts.de.
[7] Ministerium für Inneres und Sport Mecklenburg-Vorpommern: Verfassungsschutzbericht 2011, Schwerin Oktober 2012, www.verfassungsschutz-mv.de
[8] vgl. Gensing, P.: Komplett im Visier des Verfassungsschutzes, www.publikative.org
[9] vgl. Litschko, K.: Berliner LKA ermittelte gegen apabiz, in: taz v. 28.9.2012
[10] vgl. Grumke, T.; Pfahl-Traughber, A.: Offener Demokratieschutz in einer offenen Gesellschaft, Opladen 2010
[11] vgl. Innenminister der Länder: Eckpunktepapier zur Neuausrichtung des Verfassungsschutzverbundes vom 28.8.2012, www.mi.niedersachsen.de
[12] http://bildenohnegeheimdienst.blogsport.de

Bibliographische Angaben: Jentsch, Ulli: Ach, der Verfassungsschutz! Der Inlandsgeheimdienst und die Antifa, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 101-102 (1-2/2012), S. 77-85