von Heiner Busch
Die Bundesregierung und die etablierten Parteien haben sich längst festgelegt: Mangelnde Koordination, fehlender Informationsaustausch und unklare Kompetenzen seien die Gründe für das Versagen der Sicherheitsbehörden angesichts der Morde des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ gewesen. Dementsprechend sehen auch ihre Folgerungen aus.
Der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) und die Arbeit der „Sicherheitsbehörden“ beschäftigen derzeit mehrere parlamentarische Untersuchungsausschüsse. Jener des Bundestages wurde im Januar 2012 nach dem üblichen Gerangel zwischen Regierung und Opposition eingesetzt. Das Innenministerium Thüringens – jenes Bundeslandes, aus dessen Neonazi-Szene der NSU hervorgegangen ist – beauftragte zunächst ein Dreiergremium unter Leitung des ehemaligen Bundesrichters Gerhard Schäfer mit einem Gutachten,[1] bevor der Landtag ebenfalls Ende Januar einen Untersuchungsausschuss auf die Beine stellte. Die Parlamente Sachsens und Bayerns zogen im März bzw. im Juli nach.
Die Fragen sind immer wieder dieselben: Wie war es möglich, dass diese Neonazigruppe fast dreizehn Jahre lang unbehelligt in ihrem Untergrund leben und während dieser Zeit zehn Morde, zwei Sprengstoffanschläge und vierzehn Banküberfälle begehen konnte? Wie konnte es geschehen, dass ihre drei ProtagonistInnen Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe 1998 vor den Augen von Verfassungsschutz und Polizei abtauchten? Welche Rolle spielten die V-Leute der verschiedensten Geheimdienste und der polizeilichen Staatsschutzabteilungen? Hat man gar versucht, Mitglieder der Gruppe selbst als amtliche „Quellen“ anzuwerben? Wieso konnten oder wollten Polizei und Dienste den rassistischen Hintergrund dieser Morde und Anschläge nicht erkennen?
Vor der Sommerpause hatte der Bundestagsausschuss bereits rund 400.000 Blatt Akten zusammengetragen und zwei Dutzend ZeugInnen einvernommen.[2] Und auch die Medien schaffen kräftig mit an der Aufklärung. Ständig erzeugte und erzeugt der große Skandal neue kleine Skandale: Akten, die geschreddert wurden, V-Leute aus dem Umfeld der Gruppe, die die Verfassungsschutzämter oder – im Falle Berlins – der polizeiliche Staatsschutz des Landeskriminalamts (LKA) dem Ausschuss zu benennen „vergaßen“, Informationen, die nicht weitergegeben wurden etc. Amtschefs traten reihenweise zurück: vom Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV), Heinz Fromm, über den des Thüringer Landesamtes, Thomas Sippel, und seine Kollegen aus Sachsen und Sachsen-Anhalt, Reinhard Boss und Volker Limburg, bis hin zur Chefin der Verfassungsschutzabteilung des Berliner Innensenats, Claudia Schmid. Und vielleicht wird auch noch der eine oder andere Innenminister seinen Hut nehmen.
Die Aufklärung, so scheint es, nimmt ihren Lauf. Parlamente und mediale Öffentlichkeit bringen Licht ins Dunkel, benennen die Verantwortlichen und erzwingen Konsequenzen. Dennoch: die Gefahr besteht, dass auch der Fall NSU wie so viele Geheimdienstskandale zuvor im Sande verläuft. Denn da ist zum einen die banale Logik des Skandals, die darin besteht, dass er auch irgendwann zu Ende sein muss und durch den nächsten abgelöst wird, dass die Öffentlichkeit ob der zeitweise fast täglichen Enthüllungen den Überblick verliert, die Schnauze voll hat und sich endlich wieder etwas anderem zuwenden will.
Und da ist zum anderen der Rhythmus des Parlamentarismus: Im nächsten Herbst wird gewählt. Der Untersuchungsausschuss des Bundestages muss seine Arbeit vorher abschließen – ob er will oder nicht. Konkret heißt das, dass mit der Einvernahme von ZeugInnen und der eigentlichen Untersuchung allerspätestens vor der Sommerpause 2013 Schluss sein muss. Dann gilt es, den Bericht zu schreiben, damit noch in dieser Legislaturperiode eine Debatte im Plenum stattfinden kann. Der Hoffnung, dass die etablierten Parteien die Arbeit von Polizei und Geheimdiensten oder gar ihren Umgang mit ImmigrantInnen zum Thema des Wahlkampfs machen würden, sollte sich niemand hingeben. Der NSU-Skandal könnte also allenfalls noch durch die Untersuchungsausschüsse der Landtage am Köcheln gehalten werden.
Eine allzu pessimistische Prognose? Es ist bekanntlich nicht das erste Mal, dass Geheimdienste und Polizei Gegenstand jener Ausschüsse sind, die üblicherweise als das „schärfste Schwert“ der parlamentarischen Aufklärung und Kontrolle gelten.[3] Hier sei nur an die beiden letzten des Bundestages erinnert: Der 2006 eingesetzte Untersuchungsausschuss zum Bundesnachrichtendienst (BND) und zu diversen Aspekten der „Terrorismusbekämpfung“ trug eine Unmenge Informationen zusammen, zeigte die deutsche Verwicklung in die Praxis der CIA, „Terrorverdächtige“ nach Guantánamo oder in Folterstaaten zu entführen, demonstrierte, wie der BND am Irak-Krieg mitmischte, obwohl die Bundesregierung eigentlich proklamiert hatte, nicht mit von der Partie zu sein u.a.m. Er endete kurz vor den Wahlen 2009 mit einem umfangreichen Bericht.[4] Konsequenzen gab es keine.
Der Plutonium-Ausschuss, der die (un-)kontrollierte Lieferung von 560 Gramm schweren Plutoniumgemischs aus Russland nach München aufklären sollte – eingesetzt im Mai 1995 –, endete drei Jahre später mit einem unsäglichen Bericht, der die Bundesregierung und den BND rein wusch. Die Oppositionsparteien verfassten abweichende Meinungen.[5] Im Juli 1998 nahm das Plenum das Ganze zur Kenntnis, im September wurde gewählt. Die Konsequenzen bestanden in Kleinigkeiten: Die Parlamentarische Kontrollkommission wurde in Kontrollgremium umbenannt und erhielt ein paar zusätzliche Instrumente. Sie blieb aber an die Geheimhaltung gebunden und ist nach wie vor darauf angewiesen, von der Bundesregierung gnädigerweise informiert zu werden.[6] Das Gremium blieb der Kuscheltiger der Geheimdienste.
Nichts als Pannen?
Die Gefahr, dass auch der NSU-Ausschuss ohne ernsthafte Folgen bleibt, ist umso größer, als die Bundesregierung, die „Sicherheitsbehörden“ selbst und die etablierten Parteien sich längst auf eine Interpretation des Falles festgelegt haben und erste Folgerungen daraus bereits in institutionelle und gesetzliche Formen gegossen haben.
Diese Interpretation lautet: Der Fall NSU war zwar eine gravierende „Niederlage der Sicherheitsbehörden“,[7] aber letztlich war er ein Unfall, eine Serie von schlimmen Pannen, deren Ursachen in mangelnder Kommunikation und Kooperation zwischen Ländern und Bund, zwischen Polizeibehörden und Geheimdiensten zu suchen seien. Im Prinzip vorhandene Informationen seien nicht zusammengezogen worden.
Stimmt diese These? Eines ist sicher: Pannen und Beispiele mangelnder Zusammenarbeit hat es zu Hauf gegeben. Sie begannen mit der mangelhaft vorbereiteten Durchsuchung der Garage von Zschäpe 1998, bei der man zu allem Überfluss Böhnhardt laufen ließ, setzen sich fort in der miserablen Kooperation des Thüringer Landesamts für Verfassungsschutz (LfV) mit dem dortigen LKA bei der Fahndung nach den Untergetauchten, in der Nicht-Beachtung und Nicht-Weitergabe von Hinweisen darauf, dass das Trio sich bewaffnete und seine Geldbeschaffung durch Überfälle organisierte etc. Und sie reichten weit über das Bundesland hinaus – erkennbar zum Beispiel daran, dass auch die Hinweise eines V-Mannes des Berliner Landeskriminalamts nicht in die Suche nach den Flüchtigen eingingen.
Wenn das alles nur Pannen gewesen sein sollen, dann waren es solche mit System. Das V-Leute-System gehört zur Quintessenz der geheimdienstlichen und polit-polizeilichen Arbeit. Der damit verbundene „Quellenschutz“ – im Klartext: die Geheimhaltung auch gegenüber anderen Behörden – wurde und wird regelmäßig über die Strafverfolgung und die Fahndung gestellt (und erst recht über die parlamentarische Aufklärung). Dass auch V-Leute angeworben wurden, die in Neonazi-Organisationen wie dem „Thüringer Heimatschutz“ eine eindeutige Führungsrolle innehatten, die ohne jeden Zweifel die politischen Positionen ihrer Gruppen weiter vertraten, die auch Straftaten begingen oder begangen hatten, die zum Teil einen enormen Finanzbedarf (sowohl für sich selbst als auch für ihre Gruppen) hatten und für dessen Deckung teils horrende Summen als Honorar erhielten – das alles mag den offiziösen Handbüchern zum Verfassungsschutzrecht und den offiziellen Vorschriften, die für das BfV und einige Landesämter damals schon galten, zuwiderlaufen.[8] Es entspricht jedoch der Dynamik des V-Leute-Systems. Denn sowohl die Verfassungsschutzämter als auch die Staatsschutzabteilungen der Polizei sind daran interessiert, möglichst Interna aus den von ihnen überwachten Organisationen zu erhalten – und die erwarten sie am ehesten von Leuten, die zu den inneren Zirkeln gehören, die wegen ihrer kriminellen Vorgeschichte eine entsprechende Glaubwürdigkeit bei ihren „Kameraden“ haben etc. Es ist deshalb eine Illusion zu meinen, dass sich diese „Pannen“ künftig verhindern ließen, wenn man die Richtlinien für alle Bundesländer förmlich für verpflichtend erklärt.
Das ist aber längst nicht das ganze Dilemma: Offenbar hat das „Frühwarnsystem“ Verfassungsschutz das Gewaltpotenzial der Neonazi-Szene massiv unterschätzt. Der Verfassungsschutzbericht des Bundes für das Jahr 2010, der nur wenige Monate vor der (Selbst-)Aufdeckung des NSU erschien, zeigt das deutlich: Dort ist die Rede von der „Affinität (der Neonazis, d. Verf.) zu Waffen und Aktivitäten, die Disziplin und Kampfbereitschaft … fördern“, von einer „latenten“ und „prinzipiellen Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt gegen politische Gegner und andere Personen“. Allerdings, so heißt es weiter: „Die Anwendung systematischer Gewalt wird aber nach wie vor weitgehend abgelehnt.“[9] Obwohl die Polizei bei Razzien immer wieder Waffen und (funktionsfähige) Bomben bei Neonazis fand,[10] blieben diese in den Augen des Inlandsgeheimdienstes weiterhin bloße Waffennarren, die allenfalls Brandflaschen auf die Büros ihrer Gegner werfen, aber nicht „systematisch“ Leute umbringen.
Was für den Verfassungsschutz gilt, das trifft in ähnlicher Weise auch für die Polizei zu: Der Aufwand, den die Polizeibehörden bei den Ermittlungen in der Mordserie an den Gewerbetreibenden türkischer bzw. griechischer Herkunft betrieben, war durchaus hoch. Sieben Sonderkommissionen gab es quer durch die Republik, die durch eine „Steuerungsgruppe“ unter Beteiligung des Bundeskriminalamts (BKA) koordiniert wurden. Allein die Besondere Aufbauorganisation (BAO) „Bosporus“ in Nürnberg war mit 160 BeamtInnen „eine der größten Sonderkommissionen, die es in Deutschland je gab“.[11] Ein Spiegel-Artikel von Anfang 2011 spricht von „3.500 Spuren, 11.000 Personen und Millionen Datensätzen von Handys und Kreditkarten“, die im Zuge der Ermittlungen überprüft wurden.[12] Dass es Kompetenzgerangel zwischen den Bundesländern um die Frage gab, wer denn nun die Führungsrolle bei den Ermittlungen in der Mordserie haben sollte, ist heute offensichtlich.
Gescheitert sind die Ermittlungen jedoch nicht, weil die Länder eine Übernahme durch das Bundeskriminalamt (BKA) verhinderten, sondern weil sie in die falsche Richtung geführt wurden. Erst 2006 vermuteten bayerische Profiler einen rassistischen Hintergrund, konnten sich aber mit ihrer Auffassung weder beim BKA noch bei den Sonderkommissionen der anderen Bundesländer durchsetzen. „Die Spur führt zur Wettmafia“, titelte 2009 die Süddeutsche Zeitung, „Düstere Parallelwelt“ ist der zitierte Spiegel-Artikel von 2011 überschrieben und gibt damit nicht nur die unter den „Fahndern“ auch nach 2006 vorherrschende Meinung, sondern auch das Bild in der (Medien-)Öffentlichkeit wieder: jenes der in kriminelle Machenschaften verwickelten Einwanderer, die zwar Opfer, aber gleichzeitig Mitschuldige sind.
Auch für den Anschlag in der Kölner Keupstraße 2004 schloss man bereits nach wenigen Tagen einen rechtsextremen Hintergrund aus: Offenbar war der damalige Bundesinnenminister Otto Schily heilfroh, nicht einen neuen rassistischen Anschlag wie in Mölln 1992 oder in Solingen 1993 vermelden zu müssen.[13] Um die These von den „Milieustreitigkeiten zwischen türkischen und kurdischen Geschäftsleuten“ zu erhärten, setzte das nordrhein-westfälische LKA – diesmal nicht die Staatsschutzabteilung – zwei Verdeckte Ermittler und fünf V-Leute ein und ließ sie eine Scheinfirma gründen. Einige der bespitzelten AnwohnerInnen, so der Abschlussbericht der Operation im Jahre 2007, „spekulierten über einen fremdenfeindlichen Hintergrund“ und vermuteten „einen Zusammenhang mit den Serienmorden an türkischen Geschäftsleuten“.[14] Durch solche „Spekulationen“ ließen sich die Ermittlungsbehörden jedoch nicht beirren.
Retouchen an der „Sicherheitsarchitektur“
Wer die Ursachen für das Versagen der „Sicherheitsbehörden“ nur im Mangel an Koordination und Informationsaustausch sowie in unklaren Kompetenzen verortet, zieht auch entsprechende politische Schlussfolgerungen aus dem „Unfall“ NSU. Die ersten schnellen Schüsse hat Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich bereits Ende November 2011 abgefeuert.[15] Nach dem Modell des Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrums (GTAZ) und der Anti-Terror-Datei kündigte er nun den Aufbau eines Gemeinsamen Abwehrzentrums Rechtsextremismus (GAR) von Polizei und Geheimdiensten und einer Rechtsextremismusdatei (RED) an, die beide Seiten in trauter Eintracht füllen sollten.[16] Das GAR nahm Anfang Dezember 2011 seine Arbeit auf – ohne eigene Rechtsgrundlage – und die RED ging im September 2012, nachdem das Gesetz gegenüber den KoalitionspartnerInnen von der FDP und im Parlament durchgesetzt war, in Betrieb.
Auch die darüber hinaus diskutierten Folgerungen aus dem NSU-Debakel liegen bezeichnenderweise auf der Linie jener Vorschläge zur Veränderung der „Sicherheitsarchitektur“, die seit Anfang letzten Jahrzehnts – im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämpfung – diskutiert werden. Ähnlich wie sein Vor-Vorgänger Otto Schily im Jahre 2004 fordert auch der heutige Bundesinnenminister eine Zentralisierung bei der Polizei und vor allem beim Verfassungsschutz.[17] Zumindest auf Bundesebene ist auch die SPD für eine Stärkung der Rolle des BfV als „Zentralstelle“. Sie will „den Verfassungsschutz fit machen für den Schutz der Demokratie.“[18] Dazu gehört auch das mittlerweile obligate, aber folgenlose Bekenntnis zu einer stärkeren parlamentarischen Kontrolle. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) plädiert für eine Zusammenfassung von Landesämtern für Verfassungsschutz und für die Abschaffung des Militärischen Abschirmdienstes.[19] Wie 2004 findet der eigentliche Streit nicht zwischen den Parteien statt, sondern zwischen dem Bund und den Ländern, deren Ämter ihre Selbstständigkeit weitgehend einbüßen würden.
Ein Ende des V-Leute-Systems oder gar eine vollständige Abschaffung der Ämter fordern unter den Parteien allenfalls Teile der GRÜNEN und die LINKE, die dafür bereits in einigen Landesparlamenten Gesetzentwürfe vorgelegt hat.[20] Für die Staatsparteien, die den Inlandsgeheimdienst für sein Versagen in Sachen NSU mit Fitnessprogrammen und Wellnesskuren belohnen wollen, kommt dies nicht in Frage. Ein Jahr nach dem Auffliegen der Neonazi-Truppe sind zwar die Untersuchungsausschüsse der Parlamente immer noch mit der Aufklärung des Geschehens befasst, die etablierte Politik der inneren Sicherheit ist hingegen wieder im gewohnten alten Fahrwasser gelandet. Bundesinnenminister Friedrich hat dafür Mitte November den schlagenden Beweis erbracht: Er gliederte das noch nicht einmal ein Jahr alte GAR in ein neues Gemeinsames Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum (GETZ) ein, mit dem nun Geheimdienste und Polizei auch gegen „Linksextremismus“, „Ausländerextremismus“, Spionage und Proliferation kooperieren sollen.[21] Ansonsten bleibt von der „entschlossenen Bekämpfung des Rechtsextremismus“ nur ein erneuter NPD-Verbotsantrag, der an der Realität des Rassismus in diesem Land nichts ändern wird.
Kampf gegen Rechts aber wie?
Eine Alternative zu diesem Programm setzt nicht auf den weiteren Ausbau geheim(dienstlich)er Überwachung, sondern zum einen auf eine offene politische Auseinandersetzung sowohl mit den rechten und rechtsextremen politischen Gruppierungen als auch mit dem alltäglichen und dem institutionellen Rassismus. Das notwendige Wissen für diese gesellschaftliche Auseinandersetzung, auch das Detailwissen über rechte Organisationen und Seilschaften ist vorhanden, den Verfassungsschutz braucht es dafür nicht.
Dies umso weniger, als das Problem rechter Gewalt nicht in einer Gefährdung der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ oder des „Bestandes und der Sicherheit des Bundes und der Länder“ besteht – so die Floskeln der Verfassungsschutzgesetze – und auch nicht in einer Bedrohung des „Standortes Deutschland“, die die Regierung unter Gerhard Schröder Anfang des letzten Jahrzehnts dazu bewog, den „Aufstand der Anständigen“ auszurufen. (Die großen Bekenntnisse haben sie jedenfalls nicht davon abgehalten, das Ausländerrecht mehrfach zu verschärfen.)
Weil nicht die staatliche Sicherheit und Ordnung hier bedroht sind, sondern das Leben, die Gesundheit und die Bewegungsfreiheit der Angehörigen von Minderheiten, braucht es zum andern eine Polizei, die das Vertrauen und die Mithilfe der Betroffenen sucht, auch wenn sie keinen deutschen Pass haben und sich nicht im politischen und gesellschaftlichen Mainstream bewegen.
„Jedes Jahr werden Menschen aus rassistischen, antisemitischen, homophoben oder sozialdarwinistischen Motiven angegriffen und ermordet. Dass diese Tatmotive von gesellschaftlicher und staatlicher Seite anerkannt werden, wäre ein erster Schritt der Solidarität mit den Opfern und den Hinterbliebenen“, schreiben die Opferberatungsstellen der östlichen Bundesländer (inkl. Berlins) im Begleittext ihrer Jahresstatistik für 2011.[22] Sicher: wenn die Polizei im Falle der Mordserie und der Anschläge des NSU der Hypothese einer rassistischen Tatmotivation nachgegangen wäre, so hätte dies noch längst keine Garantie für Ermittlungserfolge bedeutet. Aber immerhin wären die Familien und das Umfeld der Betroffenen von einer nachträglichen Kriminalisierung verschont geblieben.
[1] Schäfer, G. u.a.: Gutachten zum Verhalten der Thüringer Behörden und Staatsanwaltschaften bei der Verfolgung des „Zwickauer Trios“, Erfurt Mai 2012, www.thueringen.de/imperia/md/content/tim/veranstaltungen/120515_schaefer_gutachten.pdf
[2] Kleffner, H.: Wir sehen nur die Spitze des Eisbergs. Der Nationalsozialistische Untergrund und die Rolle der Geheimdienste, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2012, H. 9, S. 72-80 (72); s. auch den Beitrag von Gerd Wiegel in diesem Heft
[3] s. die Auflistung bis 1995: Diederichs, O.: Die Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse zu Polizei und Geheimdiensten, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 52 (3/1995), S. 48-58
[4] BT-Drs. 16/13400 v. 18.6.2009
[5] BT-Drs. 13/10800 v. 18.5.1998
[6] Such, M.: Kontrolle ist vorgesehen?, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 63 (2/1999), S. 73-79
[7] so BfV-Chef Fromm vor dem Innenausschuss des Bundestages, 58. Sitzung v. 21.11.2011
[8] Droste, B.: Handbuch des Verfassungsschutzrechts, Stuttgart u.a. 2007, S. 268-274; Bundesamt für Verfassungsschutz: Dienstvorschrift für die Beschaffung, Köln 1981
[9] Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, Berlin 2011, S. 63
[10] siehe z.B. die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion, BT-Drs. 16/12564 v. 6.4.2009
[11] so der informative Beitrag „Neonazi-Mordserie“ auf wikipedia
[12] Der Spiegel v. 21.2.2011
[13] faz.net v. 10.6.2004
[14] s. den Bericht von Andreas Förster in der Berliner Zeitung v. 22.11.2012
[15] BT-Innenausschuss, 58. Sitzung v. 21.11.2011
[16] s. den Beitrag von Sönke Hilbrans in diesem Heft
[17] s. Busch, H.: Staatsschützerische Großbaustelle, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 78 (2/2004), S. 14-28 (insb. 14-17)
[18] Oppermann, T.; Hartmann, M.; Högl, E.: Den Verfassungsschutz fit machen für den Schutz unserer Demokratie. SPD-Eckpunkte v. 20.8.2012
[19] s. u.a. Süddeutsche Zeitung online v. 16.7.2012
[20] s. z.B. Thüringer Landtag, Drs. 5/4161 v. 13.3.2012
[21] s. die knappen Informationen unter www.bmi.bund.de
[22] 706 Fälle rechter Gewalt haben sie 2011 in Ostdeutschland registriert und nachrecherchiert, http://opferperspektive.de/service/print?id=1106.
Bibliographische Angaben: Busch, Heiner: Unfall NSU? Falsche Interpretationen und übliche Lösungen, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 101-102 (1-2/2012), S. 4-12