Egal ob Hühnerstall oder Castor: Der Staatsschutz überwacht immer

Interview mit dem Hamburger Strafverteidiger Martin Lemke

Die Staatsschutzabteilungen der Polizei und der Staatsanwaltschaft ziehen alle Register – auch jenseits des rechtlich Zulässigen. Diese Bilanz zieht der Martin Lemke, Hamburger Strafverteidiger und Mitglied des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV). Martin Beck fragte ihn nach seinen Erfahrungen in politischen Strafverfahren.

Sie sind seit 20 Jahren als Strafverteidiger in Hamburg tätig. Hat sich aus ihrer Sicht in diesen zwei Jahrzehnten das Agieren des Staatsschutzes verändert?

Insbesondere im Wendland bei Castortransporten oder bei Demonstrationen in Hamburg – zu diesen beiden Bereichen kann ich am meisten sagen – geht die Polizei in ihrem Bemühen, Demonstrierende zu verfolgen, immer weiter.

Sie schreckt dabei teilweise noch nicht einmal davor zurück, ihre eigene Dämlichkeit kundzutun. Ein Beispiel: Polizisten fühlen sich ja leicht beleidigt. Wenn dann ein Beamter schreibt, er sei durch eine Geste beleidigt worden und „Geste“ mit Doppel-E schreibt, zeigt das meines Erachtens, dass er gar nicht genau weiß, was damit gemeint ist.

Solche und ähnliche Bagatellen werden inzwischen in der Regel von Staatsschutzabteilungen bearbeitet. Insbesondere im Wendland ermitteln die Staatsschutzabteilungen von Polizei und Staatsanwaltschaft praktisch bei jedem Vorwurf, bei dem es um Widerstand, um Beleidigung oder um Verstöße gegen das Vermummungsverbot geht. Soweit ich weiß, ist das in Berlin ähnlich. Solche Verfahren werden nicht eingestellt, sondern von der Staatsanwaltschaft in aller Regel verfolgt und angeklagt. Auch im Laufe der Verhandlungen sind die politischen Abteilungen der Staatsanwaltschaften meist nicht bereit, die Verfahren einzustellen, vielmehr ist ihnen alles daran gelegen, verurteilen zu lassen.

Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

Es hat nicht unbedingt das Strafmaß zugenommen, aber die Intensität der Verfolgung. Heute werden auch kleine Vorwürfe verfolgt, da durch die verbesserten Überwachungsmöglichkeiten einerseits und die Verschärfung der Gesetze andererseits die Möglichkeiten der Staatsschutzabteilungen gewachsen sind.

Beispielsweise wird seit Mitte der 1980er Jahre jede Form von Vermummung, ob nun mit Sonnenbrille, Schal, einem Tuch oder einer Kapuze, angeklagt. Und inzwischen werden auch solche Beleidigungsvorwürfe verfolgt, die früher eher eingestellt wurden. Zwar gab es in diesem Zusammenhang schon immer Willkür, aber es kam nicht immer zu einer Anklage. Heute reicht es schon aus, dass man ein Schimpfwort einfach vor sich hinsagt und ein Polizist, der fünf Meter weit entfernt steht, es wie natürlich auf sich bezieht.

 

Was heißt das konkret?

Ich habe zunehmend mit Verfahren zu tun, bei denen die Polizei vor Ort selbst entweder keine oder andere Beobachtungen gemacht hatte, aber es nach der Sichtung des Internets, von Fotos, Videos, Filmen oder der öffentlichen Berichterstattung zu Ermittlungen kommt.

Die Polizei hat zwar auch schon früher Demonstrationen überwacht. Damals waren aber die Beweis- und Dokumentationstrupps lediglich mit einem Fotoapparat oder vielleicht einer Videokamera ausgestattet. Heute kann die Polizei auf vielerlei Quellen zurückgreifen: Videos, die ihr an jeder zweiten Straßenecke von einer Überwachungskamera geliefert werden etwa oder die technische Möglichkeit, Einzelne gezielt aus großen Menschenmengen heranzuzoomen.

Die Polizei ist heute in der Lage, einerseits selbst mit eigenen Mitteln mehr, besser, genauer, akribischer und konzentrierter zu überwachen, und andererseits durch die kontinuierliche Überwachung der – wie es immer genannt wird – elektronischen Datenströme Vorwürfe herauszufiltern, die ihnen im Zusammenhang insbesondere mit Demonstrationen relevant erscheinen, und dann tatsächlich Verfahren durchzuführen. Eine große Rolle spielt dabei die Überwachung von Sozialen Netzwerken.

 

Verstehe ich das richtig, dass die Polizei zum Beispiel Facebook gezielt durchsucht?

Nach meinem Eindruck wird Facebook systematisch durchforstet, wenn es Anhaltspunkte auf bestimmte Personen und Personengruppen im Zusammenhang mit bestimmten Ereignissen gibt. Bei Ermittlungsverfahren gehört es ohnehin absolut zum Standard, sämtliche elektronische Medien nach Hinweisen zu durchsuchen, die aus Sicht der Polizei nachteilig für den Betroffenen sind. Das gilt aber nicht nur für Staatsschutzdelikte, das gilt ganz allgemein für sämtliche strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Es wird der kleine Marihuanaverkäufer genauso durchgescannt wie ein Staatsschutzbeschuldigter oder jeder andere, der einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ausgesetzt ist.

 

Es gibt also auch die präventive Sichtung von Sozialen Netzwerken?

Ja, ich habe zumindest den Eindruck, dass das so ist – auch wenn es in der Regel nicht in den Akten auftaucht. Im Wendland findet eine umfassende Überwachung bestimmter als Exponenten bekannter oder von der Polizei vermuteter Personen im Vorfeld der Castortransporte statt. Dazu gehört aus Sicht der Polizei auch, das Internet abzuklären, weil sie natürlich gemerkt hat, dass die elektronischen Medien gerade für Jüngere eine größere Rolle bei politischen Protesten spielen, als es vor 20 Jahren Flugblätter, Plakate oder Mund-zu-Mund-Propaganda getan haben.

 

Insofern ist die Polizei sehr froh, dass ihr durch die Polizeigesetze zunehmend präventive Möglichkeiten an die Hand gegeben werden …

Ganz genau, und vor allem in Niedersachsen! Die niedersächsische Polizei ist sehr stolz darauf, dass sie führend ist in der Überwachung und Auswertung der elektronischen Medien. Nach meinem Eindruck muss man für Niedersachsen inzwischen von einer institutionalisierten Überwachung auf Grundlage der dortigen Polizeigesetze sprechen.

Und das gilt nicht nur für Großereignisse wie Castortransporte oder Anti-Nazi-Proteste wie in Bad Nenndorf oder bei Politikerauftritten, sondern auch für kleinere Aktionen. Die elektronischen Medien auszuwerten und auf Grundlage dieser Erkenntnisse die Polizeitaktik auszurichten, ist inzwischen Routine der polizeilichen Präventions-, aber wohl auch Repressionsarbeit.

 

Bevor wir den Aspekt der Überwachung weiter vertiefen – hat die Verfolgung von kleineren Vergehen auch mit veränderten Polizeitaktiken zu tun?

Früher ist eine Hundertschaft auf Befehl losgestürmt und hat Leute festgenommen bzw. verprügelt – je nachdem, was der polizeiliche Auftrag war. Die zunehmende Spezialisierung und Parzellierung der Polizeieinheiten hat inzwischen dazu geführt, dass eine Hundertschaft nicht mehr aus ein oder zwei Anführern und 98 Polizeiwachtmeistern besteht, die auf Kommando losstürmen. Wir haben es vielmehr mit einer sehr differenzierten Führungsstruktur zu tun. Es gibt Gruppenführer und Unterführer, die für Kleingruppen zuständig sind, die aus drei bis fünf Beamten bestehen. Es gibt Polizisten, die sind nur damit beschäftigt, Beweise zu sichern. Sie filmen und fotografieren, machen Tonaufnahmen oder diktieren das laufende Geschehen in Diktiergeräte und leiten entsprechende Informationen an die Einsatzleitung weiter. Das ist das eine.

Auf der anderen Seite gehören diesen Hundertschaften neben den reinen Eingriffseinheiten in der Regel zivile Beamte an, die sich aufseiten der Demonstranten tummeln und über Kleinfunk, also Knopf am Ohr, den Polizeieinheiten durchgeben, wo etwas los ist. Es gibt Polizisten, die kümmern sich um nichts anderes, als beispielsweise eine bekannt gegebene Person im Auge zu behalten. Die Person wird dann gegebenenfalls über Stunden verfolgt, um sie abseits der Demonstration festzunehmen, weil es ansonsten zu viel Aufruhr verursacht würde.

Nach meinem Eindruck ist eine Hundertschaft heute eine differenziertere, klüger und umfassender ausgebildete und spezialisierte Einheit, als das früher der Fall war. Es wird viel trainiert und Einsätze bei sogenannten Großlagen vorbereitet. Aus Ereignissen wie in Heiligendamm 2007, in Dresden, bei Castortransporten oder dergleichen, bei denen Blockaden durchgeführt oder polizeiliche Absperrmaßnahmen umgangen wurden, versucht die Polizei zu lernen und ihre Einsatzhundertschaften auf diese neue Situation einstimmen, damit sie nicht wie eine Gruppe Schafe in der Gegend rumstehen, sondern darauf auch reagieren können – und sei es alleine dadurch, dass das Geschehen scheinbar lückenlos dokumentiert wird und im Anschluss Leute festgenommen werden.

 

Trotz allen Trainings – unfehlbar ist dieses System nicht…

Es ist deshalb nicht unfehlbar, weil die Polizei in ihrer Annahme, alle seien verdächtig und begingen Straftaten, nach wie vor wenig differenziert. Ich hatte es erst neulich mit einem Fall zu tun, bei dem behauptet wurde, aufgrund eines bestimmten Aufnähers auf einem T-Shirt sei ein Beschuldigter eindeutig zu identifizieren. Wir konnten allerdings nachweisen, dass zum fraglichen Zeitpunkt rund hundert Leute ebenfalls solche T-Shirts mit solchen Aufnähern getragen haben, es also kein Individualisierungsmerkmal war. Aber natürlich ist es ein Unterschied, ob jemand bei einer konkreten Situation von der Polizei unmittelbar erkannt, fotografiert und dokumentiert wird. Das konnte einem früher auch passieren, aber die Gefahr ist heute durch die weitere Technisierung der Polizei größer geworden.

 

Sie haben vorhin davon gesprochen, dass es eine Ausweitung bei den Delikten gibt, für die sich die Staatsschutzabteilungen der Polizei und der Staatsanwaltschaften verantwortlich fühlen. Was meinen Sie damit?

Früher waren die Staatsschutzabteilungen vornehmlich für klassische Demonstrationsdelikte und Verfahren nach §129 bzw. 129a Strafgesetzbuch verantwortlich. Heute trifft es beispielsweise auch Tiermastgegner, also Menschen, die sich gegen die industrielle Ansiedlung von Hühnerfarmen wehren, die unter anderem den Boden verseuchen und durch ausgesetzte Keime die Gesundheit der Anwohner gefährden.

Momentan wird der Ausbau dieser Industrieanlagen in Niedersachsen forciert, und es sind Initiativen entstanden, die dagegen protestieren. Nachdem mehrere im Bau befindliche Anlagen abgebrannt sind, werden die Gegner solcher Hühnermastställe inzwischen von der Polizei systematisch überwacht. Es wurden entsprechende Verfahren eingeleitet und inzwischen ist jeder Hühnermastgegner, der in der Nähe eines solchen Stalls wohnt, ins Visier der Polizei geraten.

Grundlage sind in vielen Fällen Hinweise der lokalen Betreiber dieser Farmen nach dem Motto: „Der Herr Meier, der ist schon immer dagegen gewesen und ist neulich am Stall vorbeigefahren.“ Nun hat Herr Meier die Polizei am Hals, die ihn beobachtet und schaut, mit wem er sich getroffen hat und ob er mal an den einschlägigen Orten gewesen ist.

Die Überwachung nimmt dabei unglaubliche Formen an. In einem Fall wurde fast ein ganzes Dorf kriminalisiert, weil es einem dieser Hühnerbarone zur Silberhochzeit Glückwunschkarten geschrieben hat nach dem Motto: „Herzlichen Glückwunsch, aber überleg Dir das noch mal mit dem Hühnerstall.“ Danach waren alle sofort verdächtig und sind in den Fokus polizeilicher Überwachung geraten samt nachträglicher Handydatenauswertung. Das ist Staatsschutz heute.

Egal ob Hühnerstall oder Castor – überwacht wird immer. Das ist etwas, wo die Polizei – um im Bild zu bleiben – kein Federlesen macht. Wenn man protestiert und sei es, dass man nur kritisch nachfragt, wird man schon Objekt polizeilicher Überwachung.

 

Bislang haben Sie vor allem von Überwachung mit technischen Mitteln berichtet. Kommen klassische Methoden nicht mehr zum Einsatz?

Nein, ganz im Gegenteil. Erst jüngst hatte ich mit einem Fall zu tun, in dem ein V-Mann der Polizei zum Einsatz kam – und in dem deutlich wurde, welche Folgen die präventiven Befugnisse der Polizei mittlerweile haben.

2011 ermittelte die Polizei gegen eine Gruppe von Personen, die nach Angaben dieses V-Mannes geplant hätten, mit Chemikalien die Schienen für einen Castortransport unbrauchbar zu machen. Wie sich später herausstellte, hat der V-Mann die Chemikalien selbst besorgt. Wir wissen das, weil die V-Mann-Akte, was selten vorkommt, von der Staatsanwaltschaft freigegeben worden ist, nachdem er bei einem Unfall umgekommen ist. Beim Aktenstudium stellte sich nicht nur heraus, dass der V-Mann die Chemikalien selbst besorgt hat, er hat auch die Leute angesprochen, ob sie nicht so eine Aktion machen wollten. Dann hat er seinen V-Mann-Führer darüber informiert, dass ein Anschlag geplant sei und wo die Chemikalien zu finden wären. Außerdem nannte er einen Ort an der Schienenstrecke, an dem angeblich das Vorgehen geprobt worden sei.

Die Polizei nimmt die Ermittlungen auf, stellt nach der Untersuchung des Ortes, an dem angeblich geübt worden sei, fest, dass es dort nichts zu finden gibt, und konfrontiert den V-Mann mit ihren Ermittlungsergebnissen. Der bleibt allerdings bei seiner Aussage. Daraufhin wird der gesamte Überwachungsapparat der Polizei angeworfen. D.h. 24-Stunden-Observation, Handyüberwachung inklusive Auswertung der Gespräche sowie der Verbindungs- und Geodaten, Funkzellenüberwachung, Überwachung der elektronischen Datenströme, also sämtlicher Internetzugänge, der E-Mail-Accounts und elektronischer Kommunikationsmittel. Laut Akte ist auch davon auszugehen, dass ausgewertet wurde, was die Beschuldigten auf ihrem Rechner geschrieben haben, welche Dateien sie aufgerufen und zu welchen Themen sie im Internet recherchiert haben. Wir haben es also mit einer typischen umfassenden Überwachung im Rahmen des 129 StGB „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ zu tun.

Nachdem sich auch weitere Informationen des V-Manns nicht bestätigen lassen, dämmert es selbst dem zuständigen Staatsanwalt, dass an der Sache etwas nicht stimmen kann. Er stellt das Verfahren ein, fordert aber gleichzeitig die Polizei auf, sie müsste nun in eigener Zuständigkeit entscheiden, was zu tun sei. Die Polizei führt danach auf Grundlage der Polizeigesetze die Überwachung fort.

Zuständig ist jetzt ein Richter, der sich im Rahmen seiner nur eingeschränkten Prüfungsmöglichkeiten damit zufrieden gibt, dass die Polizei behauptet, die Situation sei gefährlich und man müsse weiter überwachen. Jetzt gelten auf einmal nicht mehr die strafprozessualen Normen eines Tatverdachts, sondern die Gefahrenprognose der Polizei, die natürlich weit gefasst ist. Das Ergebnis: Losgelöst von den strafprozessualen Bindungswirkungen bei Überwachungsmaßnahmen führt die Polizei genau dieselbe Überwachung durch, obwohl festgestellt ist, dass strafrechtlich an der Sache nichts dran ist.

 

Das ist genau das Szenario, vor dem immer gewarnt wurde. Was kann man dagegen tun?

Nicht viel: Wir haben eine nachträgliche gerichtliche Überprüfung eingeleitet. Dass sich die präventive Arbeit der Polizei in dieser Weise ausweitet, davor haben wir immer gewarnt. Uns wurde immer entgegengehalten, dass die der Polizei durch die Polizeigesetze an die Hand gegebenen Überwachungsmöglichkeiten nicht die Fortsetzung der strenger kontrollierten strafprozessualen Mittel, sondern nur für den Einzelfall und nur für unmittelbar bevorstehende Gefahren gedacht seien. Dieser Fall ist das beste Beispiel dafür, dass das alles nur vorgeschobene Argumente waren und dass die Polizei qua eigener Definitionsmacht die Überwachung fortsetzt.

 

Sie haben davon gesprochen, es sei in diesem Fall auch überwacht worden, was die Betroffenen in ihre Rechner eingegeben haben. Wir sprechen vom Einsatz eines Trojaners?

So ist es. Ein solcher Einsatz ist natürlich bestritten worden, aber ich muss nach Aktenlage davon ausgehen, dass mit einer entsprechenden Überwachungssoftware gearbeitet wurde. Als sich der Sachverhalt in einem anderen Strafverfahren, hier ging es um ein Drogendelikt, ebenso darstellte, haben Polizei und Staatsanwaltschaft den Einsatz eines Trojaners mit der denkwürdigen Begründung bestritten, so etwas sei zu teuer. Dabei wissen wir ja: Dieses Argument hat noch nie irgendeine Überwachungsmaßnahme verhindert.

 

Wir halten fest: Zum normalen Ermittlungsrepertoire gehören inzwischen eine umfassende Kommunikationsüberwachung, die Auswertung von Mobilfunkdaten, Bewegungsbilder, Stille-SMS, V-Leute …

Ja, das ganze Programm. Hinzukommen flächendeckende Ermittlungen. Es werden beispielsweise mit einer völligen Selbstverständlichkeit die Videoaufnahmen von Tankstellen- und Restaurantbetreibern herangezogen. Bei Ermittlungen in einem Betäubungsmittelverfahren wurden etwa die Datenströme samt Inhalt sämtlicher Internetcafés in Hamburg-Eimsbüttel und zusätzlich alle Telefonzellen in dem Stadtteil überwacht sowie in einigen Internetcafés Wanzen und Kameras installiert. Das ist natürlich schon eine Dimension, die nahe an der Totalüberwachung ist.

Auch wird gerne bei der Bank nach Konten und Kontenbewegungen nachgefragt, um herauszufinden, wer wann wo was bezahlt hat. An der Tankstelle 20 Liter Super getankt, dann ist man schon ganz schnell verdächtig, wenn 80 Kilometer weiter gerade ein Hühnerstall brennt. Wenn man das mit den Handydaten in Verbindung bringt und das Auto drei Monate vorher bei einer Demo registriert wurde, dann kann man da schon einiges zusammenkonstruieren. Dann bringt man vielleicht auch noch einen IMSI-Catcher zum Einsatz, um Handydaten herauszubekommen und bei dieser Gelegenheit gleich die Gespräche mitzuhören, was dann zwar nicht in den Akten auftaucht, aber passiert.

Es kommt inzwischen immer wieder auch zu Anordnungen sogenannter heimlicher Durchsuchungen, obwohl die Strafprozessordnung dem widerspricht. Hier ist die Polizei in Schleswig-Holstein führend. Sie lassen z.B. heimlich Fluggepäck durchsuchen. Auch haben sie versucht, Apple anweisen, Mobiltelefone bei Reparaturaufträgen der Polizei zur Verfügung zu stellen. Das hat Apple verweigert – allerdings nicht aus Datenschutzgründen, sondern weil das Unternehmen befürchtete, die Polizei würde Geschäftsgeheimnisse ausspionieren wollen.

Auch wenn die beiden letzten Beispiele aus Betäubungsmittelverfahren stammen, nach über 20 Jahren Tätigkeit als Strafverteidiger ist es meine Erfahrung, dass das, was in anderen Verfahren gemacht wird, in Staatsschutzverfahren erst recht zum Einsatz kommt.

 

Wie politisch hoch geladen sind Staatsschutzverfahren?

Das kommt auf die Umstände an. Ein Beispiel: Während eines Castortransports kommentierte ein Mandant die Verkehrsordnungsmaßnahmen eines Polizisten mit den Worten „Du Kasper“ und wurde wegen Beleidigung angeklagt. Wir haben nachgewiesen, dass die Polizei zur Verkehrserziehung sogenannte Verkehrskasper-Bühnen an die Schulen im ganzen Land schickt und insofern die Bezeichnung „Kasper“ für einen Polizisten, der Anweisung gibt, ein Auto richtig zu parken, nicht strafbar sein kann. Das Verfahren wurde eingestellt.

Anders ist es bei Verfahren, in denen die Staatsanwaltschaft aus prinzipiellen Gründen Stärke signalisieren will. Das ist z.B. immer der Fall, wenn die Polizei behauptet, es sei ein Stein, eine Flasche oder ein Böller in ihre Richtung geworfen worden. Hier handelt es sich immer gleich um versuchte Körperverletzung bzw. schwere Körperverletzung, unabhängig davon, ob der geworfene Gegenstand trifft und wohin er geflogen ist. Das wird generell verfolgt und selten oder nie eingestellt.

Hat sich Ihrem Eindruck nach im Selbstverständnis des Staatsschutzes etwas verändert?

Das kommt darauf an, worauf man das bezieht. Das Selbstverständnis des Staatsschutzes hat sich vielleicht insofern verändert, dass vor 20 Jahren der normale Staatsschutzbeamte seinem Selbstverständnis nach „nur“ seinen Job gemacht hat, also er hat den Staat geschützt. Heute sieht das Selbstverständnis der Staatsschutzabteilungen der Polizei und Staatsanwaltschaften so aus, dass sie sich zusätzlich noch als Menschen fühlen, die nicht nur das richtige machen, sondern auch noch moralisch im Recht sind. Die Polizei versucht zunehmend, auch noch das gute Gewissen zu repräsentieren. Das ist tatsächlich ein Unterschied zu früher.

Am deutlichsten wird diese Entwicklung, wenn man die Pressearbeit der Polizei betrachtet. Als 1995 die ersten Castortransporte stattfanden, hatte die polizeiliche Pressestelle drei Mitarbeiter. Beim Castortransport 2011 waren es schon mehr als 110 Mitarbeiter, die 24 Stunden am Tag, zwei Wochen lang eine Pressemitteilung nach der anderen produziert haben – und zwar immer aus Sicht der Polizei, immer mit einer Staatsschutzsicht.

Die Polizei macht hier Politik. Mittlerweile ist sie in der Lage, auf breite Bündnisse nicht nur polizeilich, sondern politisch zu re- und agieren. In ihrem Bemühen, das Thema offensiv zu besetzen, ersetzt sie sogar häufig die nicht vorhandenen Statements der politischen Verantwortlichen – und zwar aus polizeilicher Sicht. Das führt dazu, dass sich die Polizei in eine angeblich übergeordnete, neutrale Schiedsrichterposition bringt, die entscheidet, was gut und was böse ist.

 

Welche Rolle spielt dabei ein stark aufgeladenes Feindbild?

Sicherlich hat man es heute zunehmend mit Polizisten zu tun, die sich als gute Menschen darstellen, die für alles Verständnis haben, leider aber nicht für den gerade Angeklagten. Diese moralische Ebene, die ist neu. Früher war das kategorischer, da war der Anklagte ein Linker und deshalb der natürliche Feind einer Staatsschutzabteilung. Auch wenn das heute nicht mehr so schematisch ist, unterscheiden sich die Auswirkungen und Konsequenzen nicht.

Allerdings heißt das für uns, dass wir uns nicht nur Gedanken über die handwerkliche und oftmals rechtswidrige Tätigkeit der Polizei machen müssen. Wir müssen ihr auch ihr vermeintlich gutes Gewissen nehmen. Wer sich als Atomkraftgegner bezeichnet und dann AKW-Gegner mit Pfefferspray attackiert, der kann kein gutes Gewissen haben und ist eben kein guter Mensch.

Meiner Meinung nach kann man in der direkten Konfrontation mit der Polizei nicht gewinnen. Hier ist Vorsicht angeraten. Anders sieht es in der politischen Auseinandersetzung aus. Hier hat man gute Karten. Die Polizei ist häufig so dämlich, das muss man entlarven – und wenn es gelingt, trifft sie das auch tief.