Kommentar: Wie der «Gefährder» sich ins Recht schleicht

Rechtlich gesehen, kümmerte sich die Polizei traditionell um zwei Gruppen von Personen: Die einen waren Verdächtige oder gar Beschuldigte einer Straftat. Die Ermittlungsbefugnisse, die den Strafverfolgungsbehörden und damit auch der Polizei dabei zur Verfügung stehen, fanden und finden sich in der Strafprozessordnung. Die andere Gruppe waren die Störer, die man heute meist etwas weniger martialisch als Verantwortliche einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit (und Ordnung) bezeichnet, wobei es sich in aller Regel um eine «konkrete Gefahr» handeln musste, also um «eine Sachlage, die bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens im Einzelfall in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einer Verletzung eines polizeilichen Schutzguts führt.» Was die Polizei gegen Störer unternehmen konnte, stand in den Polizeigesetzen. Die Bindung polizeilichen Handelns an den (konkreten) Verdacht und die konkrete Gefahr sollte verhindern, dass die Polizei x-beliebige Personen ins Visier nehmen könnte.

Seit einigen Jahrzehnten hat sich jedoch eine neue Gruppe von polizeilichen Adressaten herangeschlichen: die «Gefährder». Notorisch wurden sie zunächst da, wo die Polizei gegen Fußballfans vorging. Fans, von denen die Polizei annahm, dass sie Ärger machen könnten, erhielten vor bedeutenden Fußballspielen Besuch. Polizeibeamt*innen tauchten zu Hause oder an der Arbeitsstelle auf und teilten den Betroffenen mit, dass sie sich das Spiel doch besser am Fernsehen und nicht im Stadion anschauen sollten. Diese Art unerwünschter Besuche nannte sich «Gefährderansprache» und um in ihren Genuss zu kommen, reichten häufig die «Erkenntnisse» szenekundiger Beamter.

Dass die «Gefährder» auch im Staatsschutzbereich auftauchen würden, war nur eine Frage der Zeit. 2004 beschloss die AG Kripo, also die Leiter des Bundeskriminalamts und der Landeskriminalämter, eine Definition: «Ein Gefährder ist eine Person, bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des § 100a der Strafprozessordnung (StPO), begehen wird.» Mit dem Verweis auf den § 100a StPO (Telekommunikationsüberwachung) war der ganze Rattenschwanz des politischen Strafrechts erfasst. Wichtiger noch war jedoch, dass es sich um bloß mögliche Straftaten handelte, von denen die Polizei aufgrund ihrer Prognose annimmt, dass die «Gefährder» sie begehen könnten. Als der Abgeordnete Wolfgang Neskovic 2006 nach der Rechtsgrundlage dieser Definition fragte, teilte man ihm mit, dass es die nicht brauche.

2010 nahm der Journalist Kai Biermann den «Gefährder» in sein Lexikon des «Neusprechs» auf. Ein «Gefährder» sei «im staatlichen Sinne jemand, von dem eine Gefahr ausgeht, vor allem eine terroristische. Klingt bedrohlich. Tatsächlich aber ist jemand gemeint, gegen den es keine gerichtsfesten Beweise gibt, den man daher nicht anklagen und nicht verurteilen kann und der nach bisherigem Rechtsverständnis unschuldig ist. Was G. eigentlich sind, sagt niemand. Möglicherweise Fast-Verdächtige. Zumindest aber Menschen, die es zu beobachten und zu überwachen gilt.»

Biermanns Kommentar erschien, bevor «Dschihadisten» aus Europa in den syrischen Bürgerkrieg zogen, um den «Islamischen Staat» zu unterstützen und bevor Europas Sicherheitspolitiker*innen und Staatsschützer*innen die «ausländischen terroristischen Kämpfer» zum Thema machten. Und lange bevor der als «Gefährder» eingestufte Anis Amri mit einem LKW in die Menschenmenge auf einem Berliner Weihnachtsmarkt fuhr.

Das Wort «Gefährder» geht Journalist*innen und Politiker*innen mittlerweile problemlos über die Lippen. Und wenn es um die politischen Folgerungen aus dem Attentat geht, stellt sich offenbar nicht mehr die Frage, ob es denn richtig sei, Überwachungs- und Zwangsmaßnahmen gegen eine Person zu ergreifen, gegen die nur eine polizeiliche Prognose, aber eben kein konkreter Verdacht vorliegt, gegen die es – um Kai Biermann zu wiederholen – «keine gerichtsfesten Beweise gibt, die man daher nicht anklagen und nicht verurteilen kann» – und das obwohl das Anti-Terror-Strafrecht weit im Vorfeld von konkreten strafbaren Handlungen ansetzt.

Die Regierungsparteien haben sich schnell geeinigt, dass das Repertoire an Maßnahmen gegen «Gefährder» zu erweitern sei. Dabei ist dieses Repertoire schon heute sehr groß. Und zwar nicht nur im Polizeirecht, sondern auch im Ausländerrecht: Bei einem Ausländer, der «die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet», wiegt das «Ausweisungsinteresse» besonders schwer. Von einer solchen Gefährdung «ist auszugehen, wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass er einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt oder er eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat oder er eine in § 89a Absatz 1 des Strafgesetzbuchs bezeichnete schwere staatsgefährdende Gewalttat nach § 89a Absatz 2 des Strafgesetzbuchs vorbereitet oder vorbereitet hat …» (§ 54 Abs. 1 Nr. 2 Aufenthaltsgesetz). Aufgrund einer solchen «Schlussfolgerung» können Überwachungsmaßnahmen verhängt werden: regelmäßige Meldepflichten, Kontaktverbote, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit (§ 56 AufenthG). Eine Abschiebeanordnung kann erlassen werden (Art. 58a AufenthG). Und schließlich sind auch Ausreisegewahrsam und Abschiebehaft – bis zu 18 Monaten – möglich (§ 62 Abs. 3 Nr. 1a AufenthG).

Noch im April letzten Jahres hatte das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass große Teile der Befugnisse des BKA bei der «Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus» zu weit gehen, weil sie eben nicht nur Abwehr von konkreten Gefahren im klassischen Sinne sind, sondern eine kaum begrenzte «Verhütung» von Straftaten erlauben. Das Gericht war dabei recht gnädig: Es schloss Überwachungsmaßnahmen im Vorfeld konkreter Gefahren nicht vollkommen aus, es müssten aber «bestimmte Tatsachen festgestellt sein, die im Einzelfall die Prognose eines Geschehens, das zu einer zurechenbaren Verletzung der hier relevanten Schutzgüter führt, tragen.» Allgemeine Erfahrungssätze reichten nicht.

Per Copy & Paste hat das Bundesinnenministerium nun die Formulierungen des Gerichts in seinen Neuentwurf des BKA-Gesetzes übertragen. Und so dürfte demnächst auch eine «Gefährder»-Definition ins Polizeirecht Einzug halten. Der «Gefährder» ist demnach eine Person, bei der «bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen» oder «deren individuelles Verhalten die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass sie innerhalb eines übersehbaren Zeitraums auf eine zumindest ihrer Art nach konkretisierte Weise» eine terroristische Straftat begehen wird. Gegen solche Leute sollen dann nicht nur Überwachungsmaßnahmen erlaubt sein – vom Einsatz von V-Leuten und Verdeckten Ermittlern über die längerfristige Observation und die Telekommunikationsüberwachung bis hin zum Großen Lauschangriff und zur Online-Durchsuchung. Möglich sein sollen auch Aufenthalts- und Kontaktverbote sowie deren Durchsetzung per «elektronische Aufenthaltsüberwachung» vulgo «elektronische Fußfessel» (§ 55 und 56 des Entwurfs)

Noch einmal: Freiheitsbeschränkende Maßnahmen, das Verbot «den Wohn- oder Aufenthaltsort» zu verlassen, sollen an eine polizeiliche Prognose geknüpft werden, die dann der Ermittlungsrichter am Amtsgericht Wiesbaden zu genehmigen hat. Das BKA hat übrigens vorgesorgt, dass damit die richtigen getroffen werden. Mit einer Software kann in Zukunft bestimmt werden, wer «Gefährder» ist und wer nicht. Dann ist doch alles in Ordnung.

Heiner Busch ist Mitglied im Vorstand des Grundrechtekomitees. Auf dessen Webseite erschien dieser Kommentar zuerst.

Beitragsbild: Das BKA-Risikobewertungsinstrument RADAR-iTE

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