Wandlungen und Kontinuitäten: Vier Jahrzehnte Kritik der „Inneren Sicherheit“

„Innere Sicherheit“ zu versprechen, das ist in Deutschland gleichbedeutend mit einem Angriff auf die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern. Anders als durch den Eingriff in und den Abbau von Grundrechten scheint „Sicherheit“ nicht herstellbar. Je hilfloser die Politik gegenüber gesellschaftlichen Problemen ist, desto intensiver forciert sie den Ausbau des kontrollierend-strafenden Staates. Und desto wichtiger ist bürgerrechtliche Beobachtung als Voraussetzung des Widerstands.

Im März 1978 erschien die „Nummer 0“ von CILIP, dem „news-letter on civil liberties and police development“. Unter der Überschrift „Wozu ein Informationsdienst zur Polizeientwicklung“ wird im Editorial auf die Gefahr hingewiesen, dass – verglichen mit dem Militär – die „Polizei-Entwicklung über Gebühr verharmlost wird“. „Veränderungen der liberalen Demokratie, die durch den Funktionswandel der Polizei und ihre veränderten Instrumente bewirkt werden können oder schon bewirkt worden sind, fallen nicht auf.“ Der Informationsdienst wolle eine „kritische Öffentlichkeit herstellen“, denn „alles, was angesichts beobachtbarer Tendenzen getan werden kann, um rechtsstaatliche Verfahren bezogen auf die Substanz der Grund- und Menschenrechte zu verteidigen bzw. ihre Gefährdung zu dokumentieren, sollte man versuchen.“[1]

Um die Gründung von Cilip nachvollziehen zu können, muss man sich die Bundesrepublik in den 1970er Jahren in Erinnerung rufen. Cilip-Gründer haben 1977 vom „Jahrzehnt der Inneren Sicherheit“ gesprochen:[2] Offiziell eingeläutet hatte dieses Jahrzehnt die Innenministerkonferenz (IMK) mit ihrem „Programm Innere Sicherheit“. Das Programm etablierte das Politikfeld „innere Sicherheit“. Es leitete die umfassende Modernisierung der Polizeiapparate und – wie man heute sagen würde – der inneren Sicherheitsarchitektur ein.

Das Jahrzehnt war innenpolitisch von den Folgen von „68“ bestimmt. Das programmatische Angebot „Mehr Demokratie wagen“ aus der Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt 1969 wurde durch den „Radikalenerlass“ der Ministerpräsidenten von 1972 entwertet. Die Auseinandersetzungen über die Berufsverbote – heute kaum noch vorstellbar: es ging auch um Lokomotivführer und Postboten – rückten den „Verfassungsschutz“ in das öffentliche Interesse. Die 1970er Jahre waren auch das Jahrzehnt des RAF-Terrorismus. Er erreichte im Herbst 1977 seinen Höhepunkt. Der „Kampf gegen den Terrorismus“ stand von Anfang an Pate bei der Etablierung der Politik Innerer Sicherheit – mit Konjunkturen ist er es bis heute geblieben.

Diese Kontexte klingen im zitierten Editorial an. Ausbau und Modernisierung der Polizeiapparate, erweiterte Eingriffsbefugnisse mit neuen polizeilichen Instrumenten, die Ausweitung geheimdienstlicher Tätigkeiten und deren Verhältnis zur Polizei, schließlich auch die – ebenfalls antiterroristisch forcierte – Europäisierung der Polizeiarbeit: Das waren (und sind) die Problemfelder, die der Informationsdienst aus bürgerrechtlicher Perspektive dokumentierend aufdecken will.

Cilip tat das in den ersten acht Ausgaben (Nr. 0-7) im für damalige Zeiten typischen Schülerzeitungsformat: DIN A4, getippt mit Schreibmaschine, grafische Elemente deutlich sichtbar eingeklebt. Cilip war und ist ein Teil alternativer Öffentlichkeit. Die äußere Form hat sich gewandelt, an der kritischen Distanz zum Mainstream des Sicherheitsdiskurses hat sich nichts geändert.

Themen: vom sozialen Protest …

In den vergangenen Jahrzehnten sind in Bürgerrechte & Polizei/Cilip Beiträge zu sehr vielen Aspekten der Entwicklung von Polizeien und Geheimdiensten erschienen. Innerhalb dieser Vielfalt lassen sich deutliche Schwerpunkte ausmachen, die die Wandlungen und Konjunkturen Innerer Sicherheit(spolitik) widerspiegeln. Solange Cilip im Rahmen von Forschungsprojekten an der Freien Universität Berlin herausgegeben wurde, spiegelten die Themen auch die der Forschungsprojekte wider, deren Ergebnisse wiederum in Monografien veröffentlicht wurden.[3]

Bis Mitte der 1980er Jahre nahm das Thema „Polizei und sozialer Protest“ eine prominente Rolle ein: Hausbesetzungen und -räumungen, die Auseinandersetzung um Atomkraft und Aufrüstung machten die Polizei zum gewalthaften Akteur in manifesten gesellschaftlichen Konflikten. Cilip widmete den Hausbesetzungen sein erstes Doppelheft;[4] in der 1985 erschienenen Bilanz des polizeilichen Reformjahrzehnts nahm das Thema „Polizei und sozialer Protest“ eine zentrale Rolle ein.[5] Es hat seither nichts an seiner bürgerrechtlichen Brisanz verloren und tauchte zu entsprechenden Anlässen auch immer wieder im Heft auf – von der Berliner IWF-Tagung 1988 bis zum Hamburger G20 2017.

Bis in die Gegenwart bleiben die Probleme dieselben: Werden Konflikte polizeilich-gewalthaft oder politisch gelöst? Wird polizeiliche, legalisierte Gewalt zum Mittel der Politik? Tragen polizeiliche Vorfeld- und Einsatzstrategien zur Diskreditierung des Protests und zur Kriminalisierung der Protestierenden bei? Wer Antworten auf diese Fragen geben will, muss sich mit der Polizeibewaffnung beschäftigen (etwa mit der Diskussion über Gummigeschosse oder Gaswaffen), muss polizeiliche Einsatzkonzepte kennen (von der „Leberwursttaktik“ über die Deeskalation bis zu Einkesselungen und zum Einsatz von „Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten“), muss die Kriminalisierung in Rechnung stellen (von der Ausweitung des „Landfriedensbruchs“ bis zum Vermummungsverbot), muss die polizeilichen Befugnisse betrachten (von der Einrichtung von Kontrollstellen bis zur Infiltration mit V-Personen) und muss schließlich die polizeiliche Öffentlichkeitsarbeit (von Teilnahmewarnungen bis zur gezielten Desinformationen) einbeziehen.[6]

… über die „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ …

Schon 1983 hatte der Arbeitskreis II der IMK ein Papier zu „Neuen Methoden der Verbrechensbekämpfung“ beschlossen.[7] Anfang der 90er Jahre traten diese „neuen Methoden“ erneut – auch in Cilip – stärker in den Vordergrund.[8] In der politischen Öffentlichkeit wurden sie legitimiert mit „der Organisierten Kriminalität“, insbesondere – aber nicht nur – dem internationalen Handel mit verbotenen Rauschmitteln. Die „vorbeugende Bekämpfung von Straftaten“ war schon seit den 70ern als neuer Aufgabenbereich in die Polizeigesetze aufgenommen worden. In den folgenden Jahrzehnten wurde die Kriminalitätsbekämpfung „im Vorfeld“ zum strategischen Angelpunkt der Polizeientwicklung. Damit verbunden war die Etablierung, Ausweitung und Professionalisierung verdeckter Polizeimethoden: Was zunächst in den Polizeigesetzen „verrechtlicht“ worden war (Verdeckte Ermittlungen, längerfristige Observationen, akustische und visuelle Überwachungen), wurde seit Beginn der 1990er auch strafprozessual legalisiert.[9] Mit dem Ziel effektivierter „Verbrechensbekämpfung“ (so der Titel eines Gesetzes von 1994) wurde die Professionalisierung verdeckter Polizeimethoden vor- angetrieben. Die geheimen Ermittlungen im Vorfeld, so das strategische Kalkül, sollten den Zugang zu den „Hintermännern“ und „Drahtziehern“ organisierter Kriminalität schaffen.[10]

Verbunden wurde dieser Ansatz mit institutionellen Veränderungen: Datenaustausch mit den Geheimdiensten, gemeinsame Ermittlungen mit dem Zoll, intensivierte europäische und internationale Zusammenarbeit. Mit der Vorstellung, über die „Hintermänner“ könne „die Organisierte Kriminalität“ erfolgreich bekämpft werden, war auch die Bekämpfung der „Geldwäsche“ verbunden.[11] Während zu dieser Zeit der allgemeine Geldverkehr dereguliert wurde, wurden die Banken und andere Finanzdienstleister zur kriminalistischen Verdachtsschöpfung und Mitwirkung gesetzlich verpflichtet.

… und die kommunale Prävention …

Mitte der 1990er Jahre erreichten die Erfolgsnachrichten der „Zero Tolerance-Politik“ der New Yorker Polizei die deutsche Öffentlichkeit. In der Folge wurde den lokalen Kontexten der Polizeiarbeit auch bei uns mehr Aufmerksamkeit geschenkt. In dieser Perspektive standen die kommunalen Sicherheits- und Ordnungsprobleme im Zentrum. Die Polizeien in der Bundesrepublik waren bereits recht früh verstaatlicht, d.h. den Städten entzogen worden. Mit den Reformen in den 1970er Jahren folgte eine weitere Zentralisierung. Die Fokussierung auf schwere Kriminalität bewirkte zudem, dass die Polizei in vielen Bereichen aus der Öffentlichkeit verschwand. Die Renaissance der Städte in den 90ern ging einher mit einer lokalen Variation polizeilichen Selbstverständnisses:[12] Die Polizei begab sich auf die Suche nach Verbündeten: von den privaten Sicherheitsdiensten über die wiederbelebten Hilfs- und Laienpolizeien und die uniformierten Kräfte der Ordnungsämter[13] bis hin zu anderen Behörden (z. B. Jugendämtern) oder sozial helfenden Institutionen.[14]

… bis zur Terrorismusbekämpfung

Die Anschläge des 11. September 2001 beendeten die kurze Konjunktur lokaler Polizeikonzepte. Plötzlich stand die terroristische Bedrohung wieder im Zentrum der Szenarien. Wie in den 1970ern, als der Anti-Terrorismus die zentrale Legitimation für den Ausbau der Apparate darstellte, so bildete nun der Bezug auf den internationalen, islamistischen Terrorismus die Begründung für neue Eingriffsbefugnisse (IMSI-Catcher, Vorratsdatenspeicherung), für erweiterte Datenzugänge (Bestandsdaten der Telekommunikation, Fluggastdaten, Provider-Daten), für institutionelle Verschiebungen (GTAZ), für die „Vergeheimdienstlichung“ (Auskunftsbefugnisse für die Dienste) und Internationalisierung (Datenaustausch in der EU und mit den USA) der Polizeiarbeit.[15] Der neue Anti-Terrorismus ist anschlussfähig an eine Diskussion, die auf Fluchtmigration mit der Verstärkung neu-alter Feindbilder reagiert: Weil die Gefahr vermeintlich von außen kommt, müssen Migrant*innen besonders überwacht werden: von der Erfassung im „Ausländerzentralregister“ bis zu den „verdachts- und ereignisunabhängigen Personenkontrollen“, die „Fremde“ vor allen anderen treffen.[16]

Bürgerrechtliche Probleme: Gewalt …

So verschieden die in Cilip behandelten Themen über die Jahrzehnte sind, sie kreisen alle um einen vergleichsweisen kleinen Kreis – allerdings demokratisch schwerwiegender – Probleme:

Im Kern ist und bleibt die Polizei das ausführende Organ des staatlichen Gewaltmonopols im Innern. Das ist das Spezifikum der Institution Polizei: Sie verfügt über die Gewaltmittel im Innern, die sie befähigen sollen, den Bestand des Staates, die Rechtsordnung, die Sicherheit, die Durchsetzung der herrschenden Staats-Politik etc. zu gewährleisten. Diese Gewalt(drohung) richtet sich nicht gegen fremde Staaten, sondern gegen die eigenen Bürger*innen und alle, die sich im Staatsgebiet aufhalten. Wer etwas über die Polizei erfahren will, muss deshalb zuerst auf deren Gewaltfähigkeit und auf die Ausübung von Polizeigewalt blicken. Cilip hat deshalb schon früh die extremste Form polizeilicher Gewaltanwendung, die polizeilichen Todesschüsse, dokumentiert.[17] Im Unterschied zur bloßen Statistik, die die Innenministerkonferenz jährlich erstellen lässt, liefern die Cilip-Bilanzen kurze Szenarien, in denen die Umstände der Tötungen deutlich werden. Ohne diese aus Medienberichten rekonstruierten Darstellungen wüssten wir erheblich weniger über die Wirklichkeit polizeilicher Todesschüsse.

Die Grenze zwischen Gebrauch und Missbrauch von Polizeigewalt wird durch das Recht, genauer: durch dessen Anwendung gezogen. Dass die „Klientele“ der Polizei erhebliche Probleme haben, ihrer Sicht polizeilicher Gewaltanwendung Geltung zu verschaffen, ist offensichtlich: Denn die Polizei repräsentiert ihrem Anspruch nach die Interessen des Staates, der Allgemeinheit etc.; dass ihr öffentlich und rechtlich eine höhere Glaubwürdigkeit zugesprochen wird, liegt auf der Hand. Der Missbrauch von Polizeigewalt, der Übergriff, ist deshalb ein dauerhaftes Cilip-Thema (gewesen).[18]

Zum Aspekt der physischen Gewalthaftigkeit zählen aber auch die Fragen der aktiven und passiven Bewaffnung von Polizist*innen. In Cilip lassen sich auch hier die Entwicklungen verfolgen: Abschaffung militärtypischer Waffen, Einführung von CS/CN-Gas (immerhin: keine Einführung von Gummigeschossen), aufpilzende Munition, Pfefferspray, Taser, robuste Schusswaffen[19]

… Überwachung …

Niemand weiß, in welchem Umfang, gegenüber welchen Personen in welchen Situationen Polizeigewalt angewendet wird. Niemand weiß, welche Folgen diese Gewaltanwendungen haben, und niemand weiß, inwieweit nicht allein die glaubhafte Gewaltdrohung (welche) Wirkungen zeigt. Nur phasenweise tritt in entwickelten Gesellschaften rohe Polizeigewalt in den Vordergrund. Sie bestimmt nicht den polizeilichen und nicht den gesellschaftlichen Alltag.

Das ist allerdings nicht gleichbedeutend mit dem Verschwinden der Polizei oder ihres schwindenden Einflusses. Insbesondere die präventive Kehre der Polizeiarbeit,[20] die Orientierung an der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“, hat dazu geführt, dass auch die Formen polizeilichen Handelns sich änderten. Ein verdächtiges Milieu mit Verdeckten Ermittler*inen zu infiltrieren, Bewegungsprofile anhand Stiller SMS zu erstellen, Telefone und Wohnungen abzuhören, Finanzströme und die Internetkommunikation zu verfolgen: Das sind einige der Methoden fortgeschrittener Polizeiarbeit. Mit ihrer Hilfe dringt die Polizei in soziale Beziehungen ein. Sie wendet hier keine physische Gewalt an, aber sie bedroht die Integrität von Personen und das vom Staat unbehelligte Zusammenleben, das die Grundlage demokratisch verfasster liberaler Gesellschaften sein soll. Mit der Digitalisierung steht dieser Angriff auf bürgerliche Freiheiten erst am Anfang. Und es ist offenkundig, dass die Apparate Innerer Sicherheit sich die Zugänge zu jenen Datenmassen verschaffen werden, die die kapitalistischen Global Player des Internetzeitalters anhäufen.

Die Polizei in der (alten) Bundesrepublik, das waren elf Länderpolizeien sowie zwei Bundespolizeien mit spezifischen und beschränkten Zuständigkeiten. Diese institutionelle Grundstruktur ist in den vergangenen Jahrzehnten in mehrfacher Hinsicht modifiziert worden. Erstens ist die Tendenz zur Zentralisierung unübersehbar. Geschah die Aufwertung des Bundeskriminalamtes (BKA) in den 1970er noch aufgrund der Zentralstellenfunktion im Zusammenhang mit der Einführung der polizeilichen EDV, so sind in immer wieder neuen Versuchen die polizeirechtlichen Zuständigkeiten des Amtes ausgeweitet worden. Trotz Rückschlägen – etwa durch Urteile des Verfassungsgerichts – wird das BKA an Bedeutung zunehmen. Der Bundesgrenzschutz – in den 90ern nicht nur semantisch zur „Bundespolizei“ umgestaltet – ist zu einer im gesamten Bundesgebiet (Bahnhöfe und -anlagen) zuständigen Behörde geworden. Auch die schrittweise Ausweitung von Aufgaben und Befugnissen des Zolls verstärkt die Bedeutung der Bundesbehörden für die Innere Sicherheit.[21]

Zweitens verändert die europäische polizeiliche Zusammenarbeit die Institutionen der Inneren Sicherheit. Das BKA wird als Zentralstelle für den Verkehr nach außen weiter gestärkt. Mit Europol (und auch mit Frontex) sind Agenturen entstanden, die auch im Innern der Mitgliedstaaten wirken.[22]

Drittens hat sich das Verhältnis der Polizeien zu den Geheimdiensten gewandelt. Das lange hoch gehaltene „Trennungsgebot“ wurde im neueren Anti-Terrorismus in sein Gegenteil, in ein „Zusammenarbeitsgebot“ verwandelt. Betraf die Überschneidung zwischen geheimdienstlichen und polizeilichen Zuständigkeiten sachlich nur den Staatsschutz und nur im Übergang von allgemeinen Vermutungen zum strafjustiziellen Verdacht, so hat die „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ die Polizei weit ins Vorfeld und der Anti-Terrorismus die Dienste weit ins Feld der Kriminalitätsbekämpfung vorgeschoben. Dass Polizei und Geheimdienste sich gleichwohl noch deutlich unterscheiden, ist für die Zusammenarbeit von Vorteil. Aus bürgerrechtlicher Sicht ist sie eine Katastrophe.[23]

Schließlich haben die institutionellen Wandlungen noch zwei weitere Bereiche erfasst: Nach „unten“, im Hinblick auf den gesellschaftlichen Alltag sind vielfältige Konstellationen unterschiedlicher Sicherheitsakteure entstanden. Die Polizei ist da weiterhin die „Expertin“ für Sicherheit und Ordnung, aber die Sicherheitsarbeit selbst wird von anderen übernommen. Arbeit in Netzwerken ist hier die Losung. Nach „oben“, wenn es um die Bewältigung außergewöhnlicher Situationen geht, ist die Grenze zum Militär brüchig geworden. Das gilt nicht nur für die Amtshilfe der Bundeswehr im Innern[24], sondern auch für die Einsetzbarkeit in extremen Notlagen, die 2012 im zweiten Versuch verfassungsrichterlich bestätigt wurde.

… und Recht

Die kritische Auseinandersetzung mit der Politik Innerer Sicherheit fand und findet auf der Ebene rechtlicher Vorschriften statt. Politisch ist das mitunter fragwürdig, weil die juristische Kritik leicht den Fehler begeht, die Formulierung eines Paragraphen für die Beschreibung polizeilicher Wirklichkeit zu halten. Aber die Auseinandersetzung mit dem Recht ist aus guten Gründen wichtig und unverzichtbar: Traditionell wird im Recht das stärkste Mittel gesehen, staatliches Handeln zu beschränken und zu lenken. Insofern lässt sich am Recht ablesen, von welchen Vorstellungen der Gesetzgeber sich leiten lässt. Auch ist es ein Indikator für den (demokratischen) Zustand des Gemeinwesens oder den Verfall demokratisch-rechtsstaatlicher Selbstverständlichkeiten.

Sicherheitspolitisch wurde und wird „Vorwärtsverrechtlichung“ betrieben, d.h. Zuständigkeiten und Befugnisse werden geschaffen, die nicht Praxis beschränken, sondern zukünftige Praxen legalisieren. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach bremsend in diesen Prozess ein­ge­griffen. Mit unterschiedlichen Folgen. So hat der Brokdorf-Beschluss von 1985 zu einer demonstrationsfreundlicheren Auslegung des Versammlungsrechts geführt – wenn auch eher bei den Gerichten als bei der Polizei. Andererseits hat das Volkszählungsurteil von 1983 vor allem einen weiteren Verrechtlichungsschub und ein enormes Anwachsen der gesetzgeberischen Prosa bewirkt. In der Sache hat die Maßgabe, dass Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung einer gesetzlichen Grundlage bedürfen, nicht dazu geführt, dass die Eingriffe unterblieben, sondern dass die Grundlagen geschaffen wurden. Auch die Entscheidung vom April 2016 zum BKA-Gesetz, mit der das Gericht die Vorfeld-Befugnisse des Amtes (und  der Polizei insgesamt) beschränken wollte, ist von Bund und Ländern als Aufforderung interpretiert worden, mit der „drohenden Gefahr“ die weitere Ausdehnung polizeilicher Überwachung zu legalisieren.[25]

Kontrolle und Alternativen

Die bürgerrechtlichen Antworten zur Begrenzung von Polizeigewalt, zum Abbau geheimer Überwachung, zur Verhinderung der weiteren Vergeheimdienstlichung und zur Auflösung institutioneller Verschränkungen fallen unterschiedlich aus. Gemeinsam ist ihnen jedoch die Forderung, die Kontrolle der Apparate zu verstärken.[26] Das war der Gründungsgedanke eines Informationsdienstes: Denn etwas bekannt zu machen, ist die Grundvoraussetzung seiner Kontrolle und Kontrollierbarkeit. Auch das Kontrollproblem hat sich in den Jahrzehnten gewandelt. Die Kontrollrechte der Parlamente sind schleppend – von Skandal zu Skandal – ausgeweitet worden, einige (wenige) Berichtspflichten zu Grundrechtseingriffen sind rechtlich vorgeschrieben worden, in einigen Bundesländern wurde die persönliche Kennzeichnung von Polizist*innen eingeführt, andere wagen sich vorsichtig in den Bereich von Beschwerdeausschüssen vor.[27] Insgesamt bleibt jedoch das Kontrolldefizit notorisch. Der Ausstoß behördlicher Publikationen verdeckt eher, dass die bürgerrechtlich relevanten Dinge weiterhin als sicherheitsgefährdende Staatsgeheimnisse behandelt werden.

Während andere Mitte der 1980er Jahre Bekenntnisse zum staatlichen Gewaltmonopol ablegten, begann die Cilip-Redaktion über „Alternative(n zur) Polizei?“ nachzudenken.[28] Statt die gewalttätige Entstehungsgeschichte des modernen Staates zu verdrängen und den Staat als „säkularen Gott“ zu stilisieren, hielt es die Redaktion „historisch und gegenwärtig für notwendig, andere, nicht staatsmonopolartig garantierte Formen gesellschaftlicher Organisation ausfindig zu machen … Schon heute könnten weite Teile der polizeilichen Tätigkeit entpolizeilicht werden, weil es zu Ihrer Erfüllung nicht polizeilicher Formen bedarf oder/und sie von anderen gesellschaftlichen Institutionen besser gelöst werden können.“ Aber auch dort, wo es wegen der gewaltsamen Durchdringung der Gesellschaft einen gewaltsamen Schutz weiter braucht, stelle sich die Frage, wie dieser denn zu organisieren sei. „Wir setzen also auf eine scheuklappenlose und umfassende Formen-, Instrumente- und Funktionsdiskussion des staatlichen Gewaltmonopols.“[29]

1990 spann die Redaktion im Auftrag der Grünen im Bundestag ihre ganz und gar nicht „realpolitische“, sondern radikal-reformistische Perspektive weiter. „Nicht dem Staate, sondern den Bürgern dienen“ lauteten Motto und Untertitel des Gutachtens „zur demokratischen Neubestimmung polizeilicher Aufgaben, Strukturen und Befugnisse“.[30] Die Grundlinien einer anderen Polizei sind auch heute noch aktuell; sie scheinen aber weiter denn je von den tatsächlichen Veränderungen, denen die Polizei in den vergangenen Jahrzehnten unterworfen war, entfernt. Die Stichworte im Gutachten lauten: Ein neues polizeiliches Selbstverständnis ist erforderlich, das die Polizei in einer der Gesellschaft (nicht dem Staat) dienenden Funktion sieht; sie nicht als starken Arm der staatlichen Exekutive behandelt, sondern als eine Einrichtung, die die BürgerInnen vor alltäglichen Gefahren schützt. Eine solche „bürgernahe“ Polizei müsse die Integrität der Einzelnen ebenso respektieren, wie sie den Vorrang gesellschaftlicher Konfliktlösungen akzeptieren müsse. Institutionell bedeutet das die Forderung nach möglichst weitgehender Dezentralisierung und Kommunalisierung der Polizeien, die Begrenzung des Einflusses polizeilicher Zentralstellen, die Reduzierung polizeilicher Datensammlung und schließlich die Abschaffung von Geheimdiensten sowie der Truppen­polizeien und des Bundesgrenzschutzes (der heutigen Bundespolizei).

In rechtlicher Hinsicht verlangt das Gutachten, statt der Verrechtlichung des polizeilichen Todesschusses, die Bewaffnungspflicht abzuschaffen und das Anti-Stress- und Anti-Schieß-Training auszubauen. Durch eine Politik der Entkriminalisierung (Staatsschutz, Drogen, Bagatelldelikte) soll der polizeiliche Zuständigkeitsbereich verringert werden. Durch eine umfassende Reform der Polizeiausbildung soll die Basis (auch im Selbstverständnis) für eine bürgerorientierte Polizei geschaffen werden. Schließlich soll die Polizei einer bürgerschaftlichen Kontrolle unterworfen werden, indem sie in eine „Politik örtlicher Sicherheit“ eingebunden wird, an der „Bürgerkomitees als Kontroll-, Mittler- und Klageinstanz für die Bürger“ beteiligt sind. Ein Ausbau der parlamentarischen Kontrollbefugnisse, verschärfter Datenschutz und die Umwandlung des Auskunftsrechts in eine Auskunftspflicht über die zur eigenen Person bei der Polizei gespeicherten Daten wird vorgeschlagen.

Ebenen der Kritik

Schon im Namen zum Ausdruck gebracht, sind „Bürgerrechte“ der zentrale politische Bezugspunkt von Cilip. „Bürgerrechte“ sind im Zusammenhang mit Polizei, innerer Sicherheit und Gewaltmonopol vor allem als Abwehrrechte gegen Staatseingriffe zu verstehen. Im Editorial der Null-Nummer ist deshalb vom „liberalen Rechtsstaat“ und von „liberaler Demokratie“ die Rede. Die bürgerlichen Vorstellungen über den modernen Staat, die Idee, dass der Staat sich aus den „privaten“ Angelegenheiten der Bürger*innen herauszuhalten habe, wird ernst genommen. Cilip betreibt deshalb seit Jahrzehnten den „Kampf um das Grundgesetz“ – gegenüber einer Politik, die die liberalen Versprechungen dauerhaft und in immer neuen Varianten unterläuft und entwertet. Nur strafprozessual gilt die Unschuldsvermutung weiterhin; polizei- und sicherheitspolitisch ist die Schuldvermutung handlungsleitend – zumindest dann, wenn es sich um Gruppen oder Milieus handelt, die behördlich als „sicherheitsrelevant“ diagnostiziert werden. Dass diese Diagnosen selbst wieder Kriterien unterhalb des Rechts – entwickelt in den Apparaten Innerer Sicherheit – folgen, ist ein zentrales Merkmal fortschreitender Entgrenzung.

Während die Aufklärung über die Angriffe auf das liberal-bür­ger­liche Staatsverständnis im Zentrum von Cilip steht, umfasst der Bezug auf „Bürgerrechte“ zwei weitere Aspekte: Der erste berührt das Verhältnis von Innerer Sicherheits- und allgemeiner Politik. Denn mit der Ausweitung jener Felder, die als solche Innerer Sicherheit gerahmt und den dort zuständigen Apparaten „zur Bearbeitung“ zugewiesen werden, schwindet der Raum, in dem „Sachpolitik“ stattfinden kann. Wenn es gelingt, sozialen Protest unter der Perspektive von Gewalt bei Demonstrationen zu thematisieren, dann tritt das Anliegen des Protests in den Hintergrund: Öffentlich ist es desavouiert, und in der Sache kann der Protest umso leichter ignoriert werden. Innere Sicherheitspolitik und der Ausbau der Strategien, Instrumente und Apparate, die diese realisieren sollen, wird so zum Politikersatz. Auch hier ist der Angriff auf das liberal-bürgerliche Selbstverständnis offenkundig: Wenn an die Stelle offener Auseinandersetzung Kriminalisierung, Infiltration, Überwachung und Sanktionierung treten, dann verwandelt sich die vielbeschworene Zivil- in eine Art Staatsgesellschaft. Über Innere Sicherheitspolitik aufzuklären, bedeutet deshalb gleichzeitig, auf den Voraussetzungen demokratischer Prozesse zu bestehen.

Schließlich hat Sicherheits- als Ersatzpolitik auch die Funktion, bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu bewahren. Die Kritik am Überwachungs-, Kontroll- oder Sicherheitsstaat muss deshalb zugleich die gesellschaftlichen Verhältnisse in Rechnung stellen. Zu kurz griffe eine Perspektive, die die Politik Innerer Sicherheit auf die Verselbstständigung der Apparate und ihrer Logiken oder als billigen Ersatz für Versagen, Untätigkeit oder Unfähigkeit in anderen Politikfeldern interpretiert. All dies mag eine Rolle spielen. Zugleich sind die Wandlungen des Gewaltmonopols, wie sie in den Apparaten der Inneren Sicherheit deutlich werden, Ausdruck veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse, die ohne den Blick auf die globalisierte kapitalistische Basis moderner Gesellschaften nicht verstanden werden können. Wer Innere Sicherheit aus einer bürger- und menschenrechtlichen Perspektive betrachtet, muss deshalb gleichzeitig die Formen und Folgen kapitalistischer Vergesellschaftung thematisieren. Kapitalismus und Staat sind genetische und systematische Zwillinge – das freilich sind Zusammenhänge, die über die konkreten Inhalte einer als „Informationsdienst“ gegründeten Publikation hinausgehen.

[1]     Wozu ein Informationsdienst zur Polizeientwicklung, in: Bürgerrechte & Polizei/Cilip Nr. 0 (März 1978), S. 1-6 (1, 4, 5). Im Folgenden werden nur exemplarische Hinweise auf Veröffentlichungen gegeben. Die Inhalte von Cilip sind über die Suchfunktion der Homepage leicht auffindbar: www.cilip.de
[2]   Funk, A.; Werkentin, F.: Die siebziger Jahre – Das Jahrzehnt der inneren Sicherheit?, in: Narr, W.-D. (Hg.): Wir Bürger als Sicherheitsrisiko, Reinbek 1977, S. 189-209
[3]   s. für die 1980er Jahre: Werkentin, Falco: Die Restauration der deutschen Polizei, Frankfurt/M. 1984; Funk, A.: Polizei und Rechtsstaat, Frankfurt/M. 1986; Kauß, U.: Der suspendierte Datenschutz bei Polizei und Geheimdiensten, Frankfurt/M. 1989
[4]   Bürgerrechte & Polizei/Cilip 9/10 (Dezember 1981), Schwerpunkt: Berlin – Zürich – Amsterdam. Politik, Protest und Polizei
[5]   Busch, H.; Funk, A.; Kauß, U.; Narr, W.-D.; Werkentin, F.: Die Polizei in der Bundesrepublik, Frankfurt/M. 1985, insbes. S. 318-357
[6]   s. eine frühe Zwischenbilanz: Walter, M.; Tielemann, K: Neue Soziale Bewegungen und Polizei – eine Bibliographie, Berlin 1991, v. a. den einleitenden Beitrag von A. Funk
[7]   siehe Bürgerrechte & Polizei/Cilip 17 (1/1984): Schwerpunkt: V-Leute, S. 76-86
[8]   Bürgerrechte & Polizei/Cilip 39 (2/1991): Schwerpunkt: Organisierte Kriminalität
[9]   Bürgerrechte & Polizei/Cilip 49 (3/1994): Schwerpunkt: Operative Polizeimethoden
[10] Pütter, N.: Der OK-Komplex, Münster 1998
[11] Bürgerrechte & Polizei/Cilip 74 (1/2003): Schwerpunkt: Wirtschaftskriminalität und Geldwäsche
[12] Bürgerrechte & Polizei/Cilip 63 (3/1999): Schwerpunkt: „Community Policing“
[13] Bürgerrechte & Polizei/Cilip 66 (2/2000): Schwerpunkt: Bürger – Nachbarn – Kontrolleure
[14] Pütter, N.: Polizei und kommunale Kriminalprävention, Frankfurt/M. 2006
[15] Bürgerrechte & Polizei/Cilip 80 (1/2005): Schwerpunkt: Anti-Terrorismus – eine Zwischenbilanz
[16] Bürgerrechte & Polizei/Cilip 65 (1/2000): Schwerpunkt: Kriminalisierung von AusländerInnen; Bürgerrechte & Polizei/Cilip 104 (Dezember 2013): Schwerpunkt: Racial Profiling; Bürgerrechte & Polizei/Cilip 109 (Januar 2016): Schwerpunkt: Europas Staatsgewaltgen gegen Migration; s. a. Bürgerrechte & Polizei/Cilip; Diederichs, O. (Hg.): Hilfe, Polizei. Fremdenfeindlichkeit bei Deutschlands Ordnungshütern, Berlin 1995
[17] beginnend mit: Bürgerrechte & Polizei/Cilip 12 (1982): Schwerpunkt: Polizeilicher Schusswaffengebrauch
[18] Bürgerrechte & Polizei/Cilip 67 (3/2000): Schwerpunkt: Polizeiübergriffe – Polizeikontrolle
[19] beginnend mit: Neue Waffen für die Polizei, in: Bürgerrechte & Polizei/Cilip 8 (April 1981), S. 8-25
[20] Bürgerrechte & Polizei/Cilip 86 (1/2007): Schwerpunkt: Prävention
[21] eine frühe Zwischenbilanz: Bürgerrechte & Polizei/Cilip 62 (1/1999): Schwerpunkt: Polizeien des Bundes
[22] zur Europäisierung der Frühphase s. Busch, H.: Grenzenlose Polizei? Münster 1995
[23] Bürgerrechte & Polizei/Cilip 78 (2/2004): Schwerpunkt: Geheimdienste im Aufwind?; Bürgerrechte & Polizei/Cilip 93 (2/2009): Schwerpunkt: Bundesdeutsche Geheimdienste – eine aufhaltsame Geschichte?
[24] Bürgerrechte & Polizei/Cilip 75 (2/2003): Schwerpunkt: Militär und Polizei
[25] Bürgerrechte & Polizei/Cilip 117 (November 2018): Schwerpunkt: Drohende Gefahren
[26] beginnend mit: Bürgerrechte & Polizei/Cilip 15 (2/1983): Schwerpunkt: Kontrolle der Polizei, erneut: Bürgerrechte & Polizei/Cilip 99 (2/2011): Schwerpunkt: Kontrolle der Polizei
[27] zuletzt: Töpfer, E.: Unabhängige Beschwerdestellen. Stand der Dinge, in: Bürgerrechte & Polizei/Cilip 116 (Juli 2018), S. 72-81
[28] Gewaltmonopol – Selbstbestimmung und Demokratie. Ein Gespräch mit U.K. Preuss und O. Schily, in: Freibeuter 1986, Nr. 28, S. 47-63; Bürgerrechte & Polizei/Cilip 25 (3/1986): Schwerpunkt: Alternative Polizei – Alternativen zur Polizei?
[29] ebd., S. 10 f.
[30] Die Grünen im Bundestag (Hg.): Eine neue Polizeipolitik. Kriterien & Konzepte, Bonn 1990

Beitragsbild: Konferenz #40jahreCILIP.

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