Demonstrationen und politische Aktionen im öffentlichen Raum führen regelmäßig zu Polizeieinsätzen. Gemäß der herrschenden Rechtslehre hat die Polizei das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit zu schützen, Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren und Straftaten zu verfolgen. Aus diesen unterschiedlichen Zielen resultieren erhebliche polizeiliche Spielräume, die über Formen, Wirkungen und Folgen des Protests entscheiden können. Am Beispiel einiger Großereignisse wird dargestellt, wie die Polizei, eingebunden in politische Prozesse und strafrechtlichen Sanktionsdrohungen, die Versammlungsfreiheit zurechtstutzt.
Zu Recht ist die Brokdorf-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1985 als Zäsur in der polizeilichen Positionierung gegenüber Demonstrationen gewürdigt worden.[1] Denn die vorherigen Wahrnehmungen und daraus resultierende Einsatzformen standen in der Kontinuität obrigkeitsstaatlicher Aufstandsbekämpfung: Demonstrationen wurden als „Aufzüge“ im öffentlichen Raum betrachtet, deren Grenze zum staats- und sicherheitsgefährdenden Aufstand fließend war. Aus dieser Perspektive entstand eine Strategie, die 1967 vom Berliner Polizeipräsidenten Duensing mit dem berühmten Vergleich charakterisiert wurde: „Nehmen wir die Demonstranten als Leberwurst, dann müssen wir in die Mitte hineinstechen, damit sie an den Enden auseinanderplatzt.“[2] Selbst innerpolizeilich war ein solches Vorgehen seit den 1960er Jahren zunehmend umstritten, aber erst das Verfassungsgericht verhalf der Lehre von der Demonstationsfreundlichkeit der Polizei zum Durchbruch.
Denn „Brokdorf“ machte mit dieser Lehre von der quasi militärischen Aufstandsbekämpfung staatsoffiziell Schluss. Das Verfassungsgericht stärkte die Bedeutung von Art. 8 Grundgesetz. Die Versammlungsfreiheit gehöre „zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens“. „Veranstaltungen unter freiem Himmel“ könnten „nur unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit“ und nur „zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter“ verboten oder aufgelöst werden. Die staatlichen Behörden hätten „versammlungsfreundlich zu verfahren“, ihre Erfahrungen mit friedlichen Großdemonstrationen seien zu beachten, und je besser die Kooperation zwischen Veranstaltenden und Behörden sei, desto höher sei die Schwelle für behördliches Eingreifen. Sofern nicht zu befürchten sei, dass die Demonstration im Ganzen unfriedlich werde, sei deren Verbot nur zulässig, wenn alle Mittel ausgeschöpft worden seien, den „friedlichen Demonstranten eine Grundrechtsverwirklichung (zu) ermöglichen“.[3] Aus dem Beschluss folgten einige Anforderungen für die Polizei: Erstens die Gewährleistung der Versammlungsfreiheit als primäre Verpflichtung. Zweitens das Kooperationsgebot für Polizei und für die Veranstaltenden. Drittens das Gebot, zwischen friedlichen und unfriedlichen Demonstrierenden zu differenzieren. Insgesamt resultierte aus diesen Vorgaben eine Strategie der polizeilichen Deeskalation.
So zutreffend der Paradigmenwechsel von der Aufstandsbekämpfung zur Grundrechtsgewährung unter der Maßgabe der „Deeskalation“ war, so wenig sagt die neue Perspektive über die polizeiliche Praxis im konkreten Fall aus. In der zentralen Polizeidienstvorschrift (PDV) 100 („Taktik und Einsatz der Polizei“) wird Deeskalation definiert als
„Strategische Leitlinie in konfliktträchtigen Einsatzlagen mit der Zielsetzung, drohende oder bestehende Konfrontationen so zu verhindern oder zu reduzieren, dass eine nachhaltige Befriedung der Lage möglich wird, insbesondere durch zielgruppenorientierte Abschwächung der Gewaltbereitschaft.“
Im Kommentar zur PDV 100 wird ausgeführt, was „Deeskalation“ polizeilich bedeuten kann. Unterschieden wird zwischen einer „offensiven“ und einer „defensiven“ Umsetzung des Deeskalationsgrundsatzes. Udo Behrendes fasst die Ausführungen folgendermaßen zusammen:
„Unter ‚offensivem Vorgehen‘ werden unter anderem ‚starker und offener Kräfteansatz, Ausschöpfung verfügbarer Führungs- und Einsatzmittel, demonstratives Zeigen personeller Überlegenheit, Durchführung intensiver Vorkontrollen mit starken Kräften und das Vorsehen einschließender Begleitung bzw. Einschließung‘ aufgeführt.
‚Defensives Vorgehen‘ wird mit folgenden Aspekten beschrieben: ‚eher zurückhaltendes Agieren, schwacher oder verdeckter Kräfteansatz, Verzicht auf demonstratives Zeigen von Kräften und Führungs- und Einsatzmitteln, Zurückhaltung insbesondere bei Bewaffnung und Ausstattung‘.“[4]
Deeskalation, so schlussfolgert Behrendes, ist nach „polizeilicher Interpretation mehr oder weniger beliebig auszulegen und zu nutzen“. Diese „Beliebigkeit“ führe zu einer faktischen „Entwertung des Deeskalationsprinzips“. Denn die Konfliktreduzierung als Ziel schließt keineswegs aus, dass in deren Namen massiv Polizei(gewalt) eingesetzt wird.
Der Brokdorf-Beschluss hat nicht nur zu einer neuen Legitimation polizeilicher Einsatzkonzepte geführt, noch wichtiger scheint, dass er die Differenzierung polizeilicher Strategien gegenüber Demonstrationen vorangetrieben hat. Verbot und Auflösung bleiben als Optionen vorhanden – wenn auch als ultima ratio deklariert –, sie werden jedoch begleitet von einer Reihe unterschiedlicher Instrumente, die im Namen der Versammlungsfreiheit eingesetzt werden, sie aber in Wirklichkeit in unterschiedlicher Art und Weise bedrohen. Im Folgenden wird dieses polizeiliche Repertoire nun an wenigen herausragenden Beispielen illustriert.
Die Lage
In liberalen Gesellschaften, die diese Bezeichnung verdienen, sind Demonstrationen, als die öffentliche und ggf. massenhafte Bekundung des eigenen Willens, eine Selbstverständlichkeit. Das gilt auch für die Polizei. „Versammlungen unter freiem Himmel“ sind der Versammlungsbehörde „anzuzeigen“, d. h. sie bedürfen keiner Genehmigung, können aber mit Auflagen versehen oder wegen der Gefährdung anderer Rechtsgüter verboten werden. Hier – wie bei den polizeilichen Einsatzstrategien – ist die Feststellung und Bewertung der „Lage“ ausschlaggebend.
Eine an den Umgang mit Fußballfans erinnernde Dreiteilung wird mitunter auch auf die erwarteten Demonstrierenden angewendet, indem unterschieden wird zwischen (gewaltbereiten) „Aktivist*innen“, „zielorientierten Protesten“ (ggf. durch zivilen Ungehorsam) und „erlebbnisorientierten“ „Individuen“.[5] Häufig werden nicht einzelne Personen, sondern Szenen und Themen für die Lageeinschätzung bewertet. In rechtlicher Perspektive ergibt sich der Grad der prognostizierten Gefährlichkeit aus der erwarteten Verletzung bestimmter Rechtsgüter, wie Gewalt gegen Personen oder Sachen, oder der Gefährdung von öffentlicher Sicherheit oder Ordnung. Je nach Anlass bzw. Demo- oder Protestszene werden Informationen unterschiedlichster Quellen zusammengefügt: harte (strafrechtliche) und weiche Polizeidaten (= solche aus polizeilichen Erfahrungen), Selbstdarstellungen der Demonstrierenden, öffentliche Berichterstattungen oder „Erkenntnisse“ der „Ämter für Verfassungsschutz“ …[6] Auch wenn die Quellen und Verfahren sich von Fall zu Fall unterscheiden, so gibt es doch Hinweise auf eher traditionelle Gefahrenfortschreibungen.[7] Dass jungen Männern in schwarzen Kapuzenpullovern eine größere Gefährlichkeit zugeschrieben wird als biederen Bürger*innen, mag erklären, warum die Polizei letzteren gegenüber mitunter so hilflos wirkte (z. B. beim Sturm auf die Reichstagstreppe im Jahr 2022 oder bei den „Montagsspaziergängen“ der Corona-Opposition).[8] Am Beispiel Leipzigs ist gezeigt worden, wie unterschiedlich mit Protesten aus der „linken Szene“ und solchen der „Corona-Leugner“ umgegangen wurde.[9] Hier paarte sich die Fixierung am linken Feindbild mit dem politischen Unwillen, die Gefährdungen im vermeintlich bürgerlichen Lager wahrzunehmen.
Aus den versammlungsrechtlichen und polizeilichen Lagebildern resultieren unterschiedliche Einsatzkonzepte. Sie reichen von erwartbar friedlichen über mögliche bis zu mit Sicherheit anzunehmende gewalthaften Demonstrationen. Wird das Demonstrationsgeschehen insgesamt betrachtet, so lassen sich drei Typen oder Muster erkennen:
- Die klassische Demonstration als öffentlicher Zug, der mit einer Kundgebung beendet wird, auf der das zentrale Anliegen als Botschaft an die Öffentlichkeit formuliert wird, das die Teilnehmenden bereits mit Transparenten, Plakaten, Sprechchören etc. zum Ausdruck gebracht haben. Das ist der Regelfall deutscher Demonstrationen; dem Muster folgen die 1. Mai-Kundgebungen der Gewerkschaften ebenso wie Fridays For Future oder die größten Demonstrationen, wie die der Friedensbewegung im Bonner Hofgarten 1981 oder der antirassistischen „unteilbar“-Demo im Herbst 2018 in Berlin. Bei diesem Typus wirkte die Polizei in aller Regel als eine grundrechtsfreundliche Servieceagentur mit: Die Route wird festgelegt und ggf. kleinere Auflagen erlassen. Ansonsten besteht die Tätigkeit der Polizei in der Verkehrslenkung und in geringer Präsenz, wie sie je nach Größe und Bedeutung auch für anderer Großveranstaltungen gewährleistet würde.
- In den letzten Jahren hat sich ein Muster entwickelt, das darauf ausgelegt ist, die Demonstrierenden zu neutralisieren. Insbesondere im Umgang mit Gegenveranstaltungen zu konkreten Ereignissen ist dies zu beobachten. Bei den großen „Gipfeltreffen“ führender Politiker*innen aus den Industrieländern bzw. der Europäischen Union in Deutschland (G8 in Heiligendamm (2007), G20 in Hamburg (2017) oder G7 in Elmau (2022)) war dies zu beobachten: Per polizeilicher Allgemeinverfügung werden die Demonstrierenden aus der Hör- und Sichtweite ihrer Adressat*innen ferngehalten. Ähnliches lässt sich in jüngerer Zeit durch die vollständige und dichte Begleitung von Demonstrationszügen durch Polizist*innen beobachten: Hier trennt der „Wanderkessel“ sichtbar und martialisch zwischen der sonstigen Öffentlichkeit und den Demonstrierenden. Er unterstellt damit deren potenzielle Gefährlichkeit und neutralisiert damit ihr Anliegen in doppelter Weise.[10]
- Wenn das Neutralisieren nicht gelingt oder bei Anlässen bzw. Milieus von Demonstrierenden, wo das Lagebild hohe Risiken prognostiziert, kommt das gesamte Repertoire des fortgeschrittenen „protest policing“ zum Zuge. Wie nachfolgend dargestellt, reicht das von der bloßen Demonstration polizeilicher Machtmittel bis zu deren Einsatz.
Abhängig von der Lageeinschätzung und abhängig von den politisch-polizeilichen Prioritäten sind die Grenzen zwischen diesen Mustern fließend und betreffen ggf. unterschiedliche Blöcke einer Versammlung in unterschiedlicher Härte. Dabei wird der polizeiliche Spielraum insgesamt begrenzt (oder geöffnet) von den rechtlichen Vorgaben, den (öffentlich geäußerten) Erwartungen der politischen Klasse und der strafrechtlichen Aufarbeitung der Geschehnisse. Zur Erzielung des gewünschten Härtegrads kann sich die Polizei eines breiten Repertoires an Instrumenten bedienen, die sich auf vier Handlungsebenen beziehen: (1) versammlungsrechtliche Auflagen und Verbote, (2) Maßnahmen im Vorfeld von Versammlungen, (3) Verhalten während des Ereignisses und (4) „ereignisbegleitende“ Öffentlichkeitsarbeit.
Auflagen und Verbote
Mit der Ausnahme von „Spontanversammlungen“ sind Versammlungen unter freiem Himmel der Versammlungsbehörde „anzuzeigen“. Das folgt dem Wortlaut aus Art. 8 GG, führt aber faktisch zu einem Genehmigungsvorbehalt.[11] Denn die Polizeibehörde kann zum Schutz anderer Rechtsgüter (die „gleichwertig“ mit dem der Versammlungsfreiheit sind) Auflagen erlassen oder die Demonstration insgesamt untersagen. Die Entscheidungen der Versammlungsbehörde können verwaltungsgerichtlich angefochten werden – was relativ häufig geschieht und ggf. durch alle Instanzen führen kann.
Sicher wären die Praxis der Auflagen und ihre gerichtliche Bewertung eine gründlichere Betrachtung wert.[12] An dieser Stelle soll nur auf zwei Aspekte hingewiesen werden, die eine polizeiliche Unterhöhlung des Versammlungsrechts besonders deutlich zeigen: Der erste bezieht sich auf die großen demonstrationsfreien Räume, die durch polizeiliche Allgemeinverfügungen und Aufenthaltsverbote etabliert werden. Beim Hamburger G20-Gipfel 2017 wurden Demonstrationen in einem 38 Quadratkilometer großen Gebiet in der Innenstadt untersagt.[13] In Heiligendamm 2007 (G8) wie in Elmau 2022 (G7) wurde das Tagungsgelände weiträumig durch Zäune geschützt. Versammlungsorte und -routen wurden nur außerhalb der Hör- und Sichtweite vom Gipfelgeschehen zugelassen oder sie wurden auf Abstand gehalten von den Orten, die zentral für das Anliegen sind. In die „Schutzzonen“ einzudringen, um die Adressat*innen des Protest sinnlich erreichen zu können, bedeutet, gegen die polizei- oder versammlungsrechtlichen Auflagen zu verstoßen und löst die polizeiliche Abwehr aus. Demonstrierende stehen hier vor der Alternative, weitab vom Geschehen das eigene Anliegen zu artikulieren oder die Konfrontation mit der Polizei zu riskieren und – wenn das Katz-und-Maus-Spiel nicht gelingt – in die Gewalt- und Kriminalisierungsfalle zu laufen.[14]
Der zweite Aspekt bezieht sich auf die versammlungsrechtlichen Auseinandersetzungen. Mehrfach ist in den vergangenen Jahren auf das offenkundig absichtliche Spielen auf Zeit der Versammlungsbehörde hingewiesen worden: Deren Auflagen oder auch deren Entgegnungen vor dem Verwaltungsgericht kommen so spät, dass nur noch gerichtliche Eilverfahren möglich sind, die eine eigenständige Prüfung der Gerichte nicht zulassen, so dass sie der polizeilichen Gefahrenprognose nichts entgegensetzen können.[15] Mitunter kommen Entscheidungen der Gerichte so spät, dass das Ereignis längst vorbei und die Rechtswidrigkeit der polizeilichen Maßnahmen belanglos ist.[16]
Vorfeld-Maßnahmen
Jenseits der versammlungsrechtlichen „Engführung“ aus polizeilicher Perspektive problematisch erscheinender Versammlungen, kann auf verschiedenen Wegen versucht werden, bestimmte Personen fernzuhalten und/oder ihnen die Wahrnehmung ihres Demonstrationsrechts zu erschweren. Die Palette der zur Verfügung stehenden Instrumente ist groß; sie reicht von Durchsuchungen an den Herkunftsorten von vermutlich Demonstrierenden über die Einreiseverweigerung bei internationalen Protestereignissen bis zu „Gefährderansprachen“ und Kontrollen auf den Anreisewegen – auf Bahnhöfen, Autobahnraststätten, Zufahrtswegen zum Zielort.
Zum präventiven Repertoire gehört auch der Unterbindungsgewahrsam, dem die Aktionen der „Letzten Generation“ eine neue Popularität beschert haben: Um Wiederholungstaten zu vermeiden, kann die Polizei Personen in Gewahrsam nehmen, wobei die zulässige Höchstdauer in den Bundesländern sehr unterschiedlich festgelegt ist. Die Freiheitsentziehung ist beim Unterbindungsgewahrsam nicht Folge einer strafbaren Handlung, sondern der polizeilichen Vermutung, dass die betreffende Person eine solche begehen wird.[17]
Einsatzgeschehen
Die dritte Einflussebene bezieht sich auf das konkrete Einsatzgeschehen. Sie beginnt bei der Festlegung der Einsatzziele, wird konkretisiert in einzelne Strategien und materialisiert sich schließlich im Umfang und in der Art des eingesetzten Personals, der Ausrüstung und Bewaffnung. Die Ziele variieren selbstredend von Anlass zu Anlass. Bedeutsam ist hier, dass mitunter bereits auf dieser Ebene Einsatzschwellen festgelegt werden, etwa wenn das Betreten eines Gebietes verhindert oder bei Verstößen gegen Auflagen oder bei Vermummung unmittelbar interveniert werden soll. Im Hinblick auf den strategischen Ansatz existiert eine „defensive“ Variante, bei der Einsatzkräfte und -mittel als Kräfte für den „Ernstfall“ in der Nähe, aber nicht wahrnehmbar für die Demonstrierenden bereitgehalten werden. Oder diese Kräfte werden demonstrativ, aber zunächst passiv eingesetzt („Showing Force“). Mit dieser Strategie der Abschreckung soll die polizeiliche Übermacht sinnlich erfahrbar werden und dadurch disziplinierend wirken. Im Beitrag von Stephanie Schmidt in diesem Heft wird gezeigt, dass die Beeinflussung der Demo-„Atmosphäre“ mittlerweile integrierter Bestandteil von „protest policing“ ist. Dabei kann die Strategie der Einschüchterung qua Inszenierung verschiedene Instrumente einsetzen:
- Die schiere Übermacht an uniformiertem Personal. Beim G20 in Hamburg waren über 31.000 Polizist*innen im Einsatz.[18] In Heiligendamm waren „nur“ 17.800 Polizist*innen eingesetzt, allerdings von 1.100 Bundeswehrangehörigen in Amtshilfe verstärkt.
- Die martialische Ausrüstung des eingesetzten Personals: Einsatzanzug, Schutzbekleidung samt Helm und Schutzschild, Pistole, Schlagstock, mitunter berittene Polizei.
- Die eingesetzten Transport- und Hilfsmittel: Wasserwerfer, Tränengas, besonders geschützte Fahrzeuge, gut sichtbare Videokameras.
- In Heiligendamm wurden im Rahmen der Amtshilfe auch Tornados und gepanzerte Fahrzeuge der Bundeswehr eingesetzt.[19]
Es fällt schwer, diesen Aufmarsch der Staatsgewalt als „versammlungsfreundlich“ zu betrachten. Offenkundig ist vielmehr, dass durch dieses Aufgebot zumindest eine beklemmende Stimmung geschaffen wird.
Zwischen dem Zeigen des eigenen Gewaltpotenzials und dessen Einsatz ist mitunter nur ein kleiner Schritt. Insbesondere ist strittig, welchen Anteil die sichtbare Demonstration polizeilicher Übermacht und Gewalthaftigkeit auf die Gewaltdynamik hat: Muss die Polizei gewalthaft eingreifen, weil aus der Versammlung/ dem Demonstrationszug schützenswerte Rechtsgüter angegriffen werden, oder heizt das „Showing Force“ die Atmosphäre so auf, dass sie die Schwelle zur Gewalt deutlich absenkt?
Im Ernstfall steht der Polizei ein breites Arsenal der Gewaltanwendung und der Hilfsmittel physischer Gewalt zur Verfügung. Auch hier sollen nur zwei Aspekte erwähnt werden: die taktische Aufstellung und die materielle Ausstattung. In historischer Perspektive waren die Ausstattung und Bewaffnung der deutschen Polizeien durch die Entmilitarisierung geprägt.[20] In den letzten Jahrzehnten ist aber eine deutliche Aufrüstung zur Bewältigung von „zivilen Einsatzlagen“ zu beobachten. Der häufige Einsatz von Spezialeinsatzkommandos (SEKs) mit entsprechender Ausrüstung und Bewaffnung kann als Indiz für diese Entwicklung gelten.[21]
Im Hinblick auf das taktische Vorgehen reicht die polizeiliche Spanne von den „Kommunikations“-Beamt*innen, die häufig in bemerkenswert freundlicher, wenngleich bewaffneter Weise auftreten,[22] bis zu den Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE) und andere polizeilichen Spezialeinheiten, die für die handfesten Einsätze stehen.[23] Die BFE sind Resultat des rechtlichen Gebots, zwischen Störenden/Straftäter*innen und friedlich Demonstrierenden polizeilich zu unterscheiden. Denn sie sollen die Zielpersonen festnehmen oder – sofern das nicht möglich ist – die Beweise sichern, so dass im Nachgang Strafverfolgung möglich wird. Der Verstoß gegen Auflagen, die Strafbarkeit des Landfriedensbruchs und die Verstöße gegen das Vermummungsverbot sind regelmäßig die in Rede stehenden Anlasstaten. Dabei gerät die polizeiliche Strafverfolgungspflicht häufig in Konflikt mit der polizeilichen Aufgabe der Gefahrenabwehr: Kommt die Einsatzleitung zu der Auffassung, dass ein unmittelbares Einschreiten (etwa die Festnahme vermummter Personen) zu eskalierenden Protesten führen würde, dann kann der Eingriff auf später oder dank Beweissicherung auf die strafrechtliche Ahndung verschoben werden.[24] Dies bedeutet im Ergebnis, dass es für das polizeiliche Einschreiten bei Demonstrationen keinen rechtlichen Automatismus gibt, sondern es vielmehr von polizeilichen Einschätzungen und Kalkülen abhängt.
Mit der eigenen Wo*manpower im Rücken, kann die Polizei dieses Ermessen zur Erreichung ihrer Ziele nutzen. Es liegt bei ihr zu entscheiden, ob gegen vermummte Personen eingeschritten wird oder ob sie beim Verlassen von Demonstrationsrouten interveniert oder eine Versammlung zwecks Identitätsüberprüfung für Stunden einkesselt. Damit schafft die Polizei oftmals selbst die Gelegenheiten, die den Ausbruch von Gewalt befördern: Beim Hamburger G20-Gipfel eskalierte die Lage vollends, nachdem die Polizei versucht hatte, den als „potentiell gewalttätig eingeschätzten Teil vom friedlichen Teil der Demonstration“ zu trennen. Der Sonderausschuss der Hamburger Bürgerschaft räumte später ein: Diese „in dieser Form und Größenordnung bundesweit bislang noch nie angewandte Vorgehensweise gelang nicht, aufgrund einer Fehleinschätzung zur Örtlichkeit und vermeintlich unbeteiligter Personen“.[25] Ähnliche Zuspitzungen der Lage durch die polizeilichen Strategien lassen sich bei vielen Ereignissen beobachten. Regelmäßig steht dann die Frage im Raum, ob die Lage nicht besser hätte bewältigt werden können, wenn auf den massiven/gewalttätige Polizeieinsatz verzichtet worden wäre.
Es bleibt Spekulation, ob Absicht oder Unfähigkeit zu diesen Entscheidungen führten. Im Ergebnis schuf das polizeiliche Vorgehen die Gelegenheiten zur Gewaltausübung – und zwar auf beiden Seiten.[26] Auf diesen Zusammenhang hinzuweisen, verkennt nicht, dass es Demonstrierende gibt, die die polizeiliche Kampfpose als Einladung zum Ausleben ihrer eigenen Gewaltphantasien nutzen. Je mehr eine aufgeklärte und versammlungsfreundliche Polizei dies in Rechnung stellt, desto flexibler und zurückhaltender müsste sie mit ihrem Gewaltpotenzial verfahren. Zu häufig ist jedoch das Gegenteil der Fall: Mit dem massiven Polizeieinsatz geraten die Ereignisse erst recht außer Kontrolle. Sachschäden und Verletzte auf beiden Seiten sind die Folge. Nicht zufällig betreffen die meisten Meldungen zu als unrechtmäßig empfundener Polizeigewalt die Einsätze bei Demonstrationen.[27] Spätestens mit den Eskalationen haben die Demonstrierenden verloren: Beklemmung und Angst (etwa im Kessel), Polizeigewahrsam, strafrechtliche Verfolgung, körperliche Gewalt werden begleitet von der öffentlichen Resonanz, die das eigentliche Anliegen ganz hinter den Bildern von Gewalt und Randale zurücktreten lässt.
Öffentlichkeitarbeit
Die vierte Ebene polizeilichen Protest-Agierens stellt die Öffentlichkeitsarbeit dar. Sie ist eine kontinuierliche Tätigkeit, die von der Vorbereitungsphase über die Einsatzbegleitung (quasi simultan über die Sozialen Medien) bis zur Nachbereitung reicht. Wird auf der Straße entschieden, wer sich physisch durchsetzt – eine „Schlacht“, deren Ergebnis immer schon im Voraus feststeht –, entscheidet die kommunikative Darstellung über die öffentlich-politische Dominanz. Im „Kampf und die Köpfe“ lassen sich drei polizeiliche Strategien feststellen:
- Die aktive Information der Öffentlichkeit über die „Lage“ im Vorfeld von Versammlungen. Besonders prominent ist die Warnung vor bestimmten Gruppen von Gewalttäter*innen, vor der erwarteten Radikalisierung etc. Damit wird die Öffentlichkeit bereits eingestimmt; zugleich wird der polizeiliche Aufwand legitimiert. Stellen sich die Warnungen als falsch heraus, kann die Friedlichkeit des Protests auf den cleveren Polizeieinsatz zurückgeführt werden. Statt die falsche Lageeinschätzung zuzugestehen, wird die Gewalt-Unterstellung auf diese Weise indirekt bestätigt.
- Während der Ereignisse informiert die Polizei in den Sozialen Medien fast simultan. Mehrfach sind Falschmeldungen auf diesen Kanälen nachgewiesen worden.[28] In den laufenden Ereignissen haben sie das Potenzial die Emotionen und Taten der Beteiligten anzufachen; was freilich auch für die Kommunikation unter den Demonstrierenden gilt.[29]
- Um die eigene Informationsarbeit zu schützen, werden unliebsame Journalist*innen und Beobachter*innen vom Geschehen ferngehalten. Betretungsverbote und verweigerte Akkreditierungen erschweren eine unabhängige Berichterstattung. Mit dem Versammlungsrecht gerät auch die Pressefreiheit in die Defensive.[30]
Dass die Darstellungen der Polizei und von Demonstrierenden häufig nicht übereinstimmen, dass Ursachen und Schuld jeweils der anderen Seite zugeschrieben werden, kann nicht verwundern. Dass die Polizei dabei nicht als vermeintlich objektiv Beobachtende, sondern als beteiligte (Konflikt-)Partei tätig wird, widerspricht allerdings dem behaupteten Neutralitätsgebot. Weitaus problematischer und folgenreicher ist, dass Falschinformationen in die Welt gesetzt werden, die das laufende Geschehen eskalieren und dass der Zugang von Journalist*innen polizeilich reguliert wird. Damit wird das Ungleichgewicht zwischen staatlich-polizeilicher Öffentlichkeit und zivilgesellschaftlicher Gegenöffentlichkeit erheblich verschärft.
Politische Vorgaben – repressiver Verbund
Dass die Polizei auf der Seite des Staates, des geltenden Rechts, der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung steht, das ist ihr Zweck als Institution. Ohne diesen Zweck und damit die Institution infrage zu stellen (worauf an dieser Stelle bewusst verzichtet wird), legt bereits eine weniger grundsätzliche Perspektive den Hinweis nahe, dass der Bezug auf die Rechtsordnung oder auf die Verfassung nicht identisch ist mit den Entscheidungen und Vorgaben der aktuell Regierenden. Offenkundig ist, dass die Polizei eingesetzt wird, um bestimmte politische Entscheidungen gegen Widerstand durchzusetzen. Mögen die Entscheidungen sich früher (wie bei den Atomkraftwerken und -anlagen in Whyl, Kalkar, Wackersdorf) oder später („friedliche“ Nutzung der Atomenergie, Hausbesetzungen) als unsinnig erweisen. Noch offensichtlicher ist diese Politikabhängigkeit der Polizei bei konkreten Einzelentscheidungen, sei es einen „Gipfel“ mitten in Hamburg zu veranstalten oder das Dorf Lützerath für den Kohleabbau zu einem bestimmten Zeitpunkt zu räumen. Die politischen Vorgaben – auch wenn es nur Erwartungshaltungen sein sollten – präformieren den polizeilichen Ansatz. Denn das, was die Polizei tut, ergibt sich keineswegs eindeutig aus den rechtlichen Vorgaben – wie gerne unterstellt wird. Vielmehr bleibt es immer eine Frage des Ermessens, ob in der jeweiligen Lage die Strafverfolgung oder die Gewährleistung von Sicherheit dominiert. Dass das politische Gerede, der Rechtsstaat dürfe sich von den Gewalttäter*innen nicht auf der Nase herumtanzen lassen, er müsse deshalb mit unmittelbarer Härte reagieren, nicht zu einer ernstgemeinten Deeskalation passt, scheint die politisch Verantwortlichen nicht zu stören. Dabei zeigen sich mitunter deutliche Differenzen zwischen den politischen Dramatisierungen und polizeilicher Praxis. Während etwa die Politik unisono nicht müde wird, die Gemeingefährlichkeit der Proteste der „Letzten Generation“ zu betonen, handeln die Einsatzkräfte sehr unterschiedlich: Teilweise agieren sie ausgesprochen professionell, etwa indem sie die „Klima-Kleber“ vorsichtig vom Straßenbelag lösen und sie vor der Selbstjustiz v. a. der männlichen Autofahrenden schützen. Teilweise räumen sie mit Schmerzgriffen und roher physischer Gewalt.[31]
Geformt durch die politischen Vorgaben, wird das polizeiliche Vorgehen durch die strafrechtliche Nachbereitung unterstützt. Im Umgang mit sozialem Protest scheint der Glauben an die Präventivwirkung des Strafens besonders wirkmächtig zu sein. Das Strafen beginnt im Polizeieinsatz – vom Unterbindungsgewahrsam über die körperliche Gewalt bis zu den Gewahrsamnahmen während des Einsatzes. Es findet seine Fortsetzung in der nachfolgenden Strafverfolgung. In der Vergangenheit entpuppten sich die Strafandrohungen als Einschüchterungsinstrumente, die der juristischen Prüfung nicht standhielten.[32] Mittlerweile zeichnet sich die Justiz durch besondere Härte aus: Nach dem G20-Gipfel in Hamburg wurden 3.600 Strafverfahren eingeleitet, eine Sonderkommission mit 160 Polizeibeamt*innen wurde gebildet, mit 200 Razzien und mehreren Öffentlichkeitsfahndungen wurde nach Tatverdächtigen gefahndet. Während einige drastische Haftstrafen verhängt wurden, war auch fünf Jahre nach den Ereignissen die Strafverfolgung nicht beendet.[33] Darauf, dass die Justiz die Zügel anzieht, deutet auch das Urteil des Amtsgericht Berlin-Tiergarten hin, das eine „Klima-Kleberin“ zu einer viermonatigen Haftstrafe ohne Bewährung verurteilte.[34] Die jüngsten Ermittlungen und Razzien gegen die „Letzte Generation“ wegen des Verdachts auf Bildung oder Unterstützung einer kriminellen Vereinigung zeigt, dass (zumindest die bayerische) Justiz bereit ist, die Möglichkeiten der Strafverfolgung maximal auszuschöpfen.[35] Ob harte Einsätze, polizeiliche Freiheitsbeschränkungen und symbolisch aufgeladenes hartes Strafen dem Gebot der „Demonstrationsfreundlichkeit“ entsprechen, darf bezweifelt werden.
Wirkungen
Die Wirkungen der polizeilichen Einsätze gegenüber politischen Kundgebungen im öffentlichen Raum sind vielfältig. Im Hinblick auf die Bedeutung, die dem Versammlungsrecht in demokratisch verfassten Staaten zukommen soll, sind drei Wirkungen besonders bedeutsam:
Erstens ist auf die negativen Wirkungen auf Demonstrierende und potenziell Demonstrierende hinzuweisen. Je nach Anlass ist die Polizei demonstrationsfreundlich oder demonstrationsfeindlich. Prognostiziert sie ein Vorhaben als gefährlich, dann wird es zu einer hochschwelligen und risikobehafteten Angelegenheit – das reicht von der Verrufserklärung im Voraus (Demonstrierende als potenzielle Gewaltätige) bis zur harten Strafverfolgung im Nachspiel. Selbst wenn alles das ausbleibt: Die Teilnahme an einem in polizeilicher Umschließung laufenden Demonstrationszug löst eher Beklemmung als demokratisches Selbstbewusstsein aus. Statt einer reichen Kultur der öffentlichen Auseinandersetzung führt eine solche Strategie zum Rückzug ins Private oder – seltener – zu radikaleren Formen, der eigenen Sichtweise Geltung zu verschaffen.
Zweitens sind polizeiliche Strategien geeignet, die Anliegen des Protests in den Hintergrund zu drängen. Vor allem der Weg über die kalkulierte Gewalteskalation führt dazu, dass nicht nur das Anliegen der Demonstrierenden desavouiert wird, sondern dass die Öffentlichkeit vordringlich über die Gewalt diskutiert.
Drittens – und das gilt für die gelungenen Formen deeskalierender Polizeieinsätze – werden friedlich „polizierte“ Demonstrationen zu einem alltäglichen Ereignis, das politisch nichts in Bewegung setzt. Ein gutes „Management“ von politischen Willensbildungen im öffentlichen Raum begrenzt deren Folgen. Sei es, dass der gesellschaftliche Alltag möglichst wenig beeinträchtigt wird, sei es, dass alles so friedlich und ordentlich abläuft, dass die politisch verantwortlichen Adressat*innen die Botschaften wortreich ignorieren können.
Tina Keller und Elke Steven weisen in ihrem Beitrag in diesem Heft darauf hin, dass sich nicht allein das „protest policing“ deutlich gewandelt hat, sondern ebenso die Anlässe, Strategien und Formen des Protests selbst. In dieser Feststellung liegt die bürgerrechtliche Perspektive: Wenn Demonstrationen und politische Aktionen Teil einer demokratischen Kultur bleiben wollen, müssen sie weiterhin nach neuen Wegen suchen, die polizeilichen Deformationen ihres Protests zu überwinden.