Enactment als Polizeitraining: Über die sinnliche Vermittlung von Protest Policing

von Andrea Kretschmann

In den letzten 50 Jahren hat sich das Training für public order policing – darunter für solches im Bereich ‚Protest‘ – weltweit in erheblichem Maße professionalisiert. Dabei prägen enactments möglicher Einsatzlagen die Übungen dergestalt, dass in eigens gebauten städtischen Attrappen mögliche Einsatzlagen simuliert werden. Aufgrund ihres besonders sinnlichen Charakters hat diese Vermittlung von protest policing eine hohe sozial konstitutive Durchschlagskraft. Dies wird dann zum Problem, wenn – wie es bei der derzeit dominanten Ausrichtung der Trainings den Anschein hat –, Demonstrationen weniger als Wahrnehmung von Bürgerrechten betrachtet, sondern als gefährliche Ordnungsstörungen eingestuft werden.[1]

Enactments prägen zunehmend das Training von public order-Lagen weltweit. Darunter verstanden werden Praktiken des Nachahmens, des Vorschreibens, der Mimesis als Rekonstruktion von Vergangenem und als Präskription des möglicherweise Kommenden. Gemeint sind erlebte Einsatzlagen, ebenso wie antizipierte. In den Übungen trainieren die Polizeien unter kontrollierten Bedingungen, was real geschehen soll. In immer mehr Ländern, auch den hier betrachteten europäischen Ländern mit einem besonderen Fokus auf Deutschland, hat sich diese Art des Trainings inzwischen professionalisiert dahingehend, dass eigens gebaute städtische Nachbildungen das Üben komplexer Lagen auch in großen Gruppen und unter maximaler Eskalation des Geschehens erlauben. Die seitens der Polizeien gebauten städtischen Anlagen auf Schulungsgeländen für public order-Situationen dienen neben dem policing von Fußballspielen und anderen Großereignissen zentral dem Training für das policing von Protest. Die Polizeien entwickeln hierfür möglichst realitätsgetreue Szenarien, die sie unter umfangreichem Material- und Personeneinsatz umsetzen. In verteilten Rollen übernimmt eine Gruppe von Polizist*innen die Rolle der Demonstrierenden. Die übrigen nehmen den Polizeieinsatz vor. Mit manchmal hunderten Polizist*innen werden Proteste simuliert. In aller Regel sind diese von schweren Ausschreitungen gekennzeichnet: der Bewurf der Polizei durch Flaschen oder Molotowcocktails, das Anzünden von Autos oder der Bau von Barrikaden gehören etwa zum Repertoire. Der Einsatz theatraler Mittel soll ein Training unter möglichst authentischen Bedingungen gewährleisten.

Die enactments sind zumeist nach innen gerichtet[2] und dienen neben der Ausbildung (in Deutschland: der Bereitschaftspolizeien des Bundes und der Länder) der Vereinheitlichung der Praktiken und der Innovation qua Experimentation. Sie ergänzen und diversifizieren andere Formen simulativer Trainings in der Polizeiarbeit, wie sie in Form des kognitiv erdachten Szenarios, des Rollenspiels oder der Computersimulation auftreten. Dabei bemühen sich die Polizeien (von virtual reality-Trainings einmal abgesehen[3]) um eine vergleichsweise realitätsgetreue Ausgestaltung – mit der Konsequenz, dass sie, was sie nur zu polizieren meinen, in besonderem Maße sinnlich herstellen.

Entwicklung von enactments im Training ab den 1960ern

Es ist eine relativ neue Entwicklung, dass für public order-Lagen überhaupt trainiert wird. In vielen europäischen Ländern gehört ein diesbezügliches Training seit den 1980er Jahren zum Ausbildungsrepertoire. Bis in die 1960er Jahre hinein war dies jedoch nur vereinzelt vorgesehen, weil protest policing im Sinne der Strategie einer escalated force[4] im Problemfall gleichbedeutend mit dem Auseinandertreiben der Menge war. Angewendet wurden im protest policing Praktiken, die für den Umgang mit Protest nicht spezifisch waren. Mit der Erweiterung des Demokratieverständnisses der europäischen Gesellschaften ab den 1960er Jahren verlor das bisherige polizeiliche Vorgehen jedoch an Legitimität. Insgesamt standen die Polizeien durch ein als brutal und unverhältnismäßig erlebtes Vorgehen öffentlich in der Kritik. Innerhalb der Polizeien stieß dies eine Phase offener Reflexion über Einsatzphilosophien im protest policing an,[5] die in vielen Ländern den Ausschlag für einen Ausbau polizeilicher Trainingsinfrastruktur in Form artifizieller Städte gab.

Im deutschen Kontext gehören derartig aufwändige Simulationstrainings, anders als etwa in Frankreich, England und Nordirland, bis heute kaum zur polizeilichen Praxis; auch wenn große Unterschiede von Bundesland zu Bundesland bestehen. Zwar führte – wie in Frankreich – der „protest-cycle“[6] von 1967 bis 1969 angesichts einer Akzeptanz- und Imagekrise der Polizeien zu Reformen im Bereich des protest policing.[7] In Deutschland resultierten diese Entwicklungen jedoch zunächst nicht im Bau von Schulungszentren mit einem eigens gebauten Areal für Trainings qua enactments, auch wenn paramilitärische Übungsszenarien des Bundesgrenzschutzes, der Vorläuferorganisation der Bundesbereitschaftspolizei, bereits in den 1950er Jahren Praxis waren.[8]

Heute verfügt die Landespolizei in Nordrhein-Westfalen – wahrscheinlich als einzige Länderpolizei[9] – über eigens gebaute städtische Anlagen für das Training von protest policing ihrer Bereitschaftspolizei.[10] Die Polizei Niedersachsen hingegen trainiert zumeist nicht in dafür nachgebauten Städten, sondern – und auch dies mit größerem Aufwand nur für Führungspositionen wie Gruppenführer*innen – in einer Polizeiliegenschaft.[11] Die Räume des Trainings und jene Bereiche, in denen die Verwaltungs-, Übernachtungs- und Schulungsräume untergebracht sind, sind damit nicht – wie anderswo – voneinander getrennt. Trainiert wird auf dem gesamten Gelände der Liegenschaft, deren Gebäude jeweils temporär umdefiniert und in der Folge „umgenutzt“ werden. Anders als etwa in England und Frankreich kann daher nicht in Innenräumen geübt werden, und es dürfen keine Beschädigungen an Häusern vorkommen. Nur gelegentlich werden verlassene Grundstücke oder Militärübungsplätze genutzt, die ähnliche Möglichkeiten wie in den anderen Ländern bieten.

Sinnliche Vermittlung von Protest

Die möglichst realitätsgetreue Ausgestaltung der Trainings qua enactment gibt der Vermittlung der Aus- und Fortbildungsinhalte einen besonderen Charakter: Die Trainingsinhalte werden nicht abstrakt vermittelt, sondern sind in die Komplexität des Sozialen eingebettet. Mit dieser Art von Trainings ist intendiert, ein Geschehen möglichst detailreich darzustellen, um potenzielle Proteste auch sinnlich erfahrbar zu machen.

Hierfür herangezogen werden exemplarische, aus Sicht der Polizeien paradigmatische Fälle, die als Szenarios vorab kleinteilig entwickelt und anschließend qua theatraler Mittel aufgeführt werden. In den praktischen Trainings werden für komplexe Übungsszenarios Kulissen angefertigt (in Form städtischer Umgebungen), es werden Verkleidungen (z. B. in Form „szenetypischer Kleidung“ von „Demonstrierenden“) und Requisiten (z. B. Spruchbanner, Pyrotechnik, Plastik- oder Holzpflastersteine) einbezogen. Polizist*innen, die Demonstrierende spielen, schauspielern – in Form des Rufens von Parolen, des Interagierens mit den Polizeien im Einsatz, des Haltens von Redebeiträgen etc. Es wird zudem in annähernder bis tatsächlicher Echtzeit trainiert. Damit werden in nie dagewesenem Maße sozio-kulturelle Aspekte von Demonstrationen in Übungssituationen integriert und die Polizist*innen mit der Ungeordnetheit, Unübersichtlichkeit und Unwägbarkeit des Sozialen konfrontiert; das ist der Unterschied zum vergleichsweise abstrakten Training im offenen Gelände.

Die Simulationen sollen den Polizist*innen durch Komplexitätssteigerungen qua sinnlicher Repräsentation von Sozialität den Eindruck eines realen Geschehens vermitteln. Sie werden gezielt eingesetzt, damit diese ihre Emotionen im Einsatz kennen- und kontrollieren lernen. Es soll so gewährleistet werden, dass Einsatzphilosophien mit ihren Techniken und Taktiken auch unter psychologisch erschwerten Bedingungen umgesetzt werden können. Damit werden Bedingungen für eine besonders einprägsame – sinnliche – Wissensvermittlung geschaffen, da die Erfahrungsebene ein intensives Verinnerlichen der Simulationsinhalte verspricht. Dieser Aspekt ist besonders hervorzuheben angesichts des Umstandes, dass die Simulationen in den meisten Ländern (jedoch nicht in Deutschland, wenn man vom niedersächsischen Beispiel ausgeht) die ersten „Demonstrationserfahrungen“ der Polizist*innen darstellen.

Soziale Konstruktion durch enactments

Die enactments geben soziale Realität jedoch nicht einfach wieder, vielmehr werden mit ihnen eigene Wirklichkeiten geschaffen – mit Folgen für die Art und Weise, wie über geeignete Antworten auf Protest im Sinne von protest policing nachgedacht wird: Was auf den ersten Blick als annähernd realistische Darstellung von Protesten daherkommt, ist nach soziologischer Betrachtung immer bereits imaginatorisch angeeignete – und damit „verzerrte“ – Realität.

Für die Simulationen stellen die Polizeien Proteste entlang ihrer je spezifischen, polizeikulturell geprägten Vorstellungen und entlang ihrer organisationalen Erfordernisse nach. Die soziale Wirklichkeit von Demonstrationen fließt daher in die Simulationen in selektiver Form ein. Das bedeutet, dass bestimmte Aspekte von Protesten aufgegriffen und in die Simulationen integriert werden, während andere außen vor gelassen werden. Wiederum andere Inhalte sind gänzlich erfunden, etwa, wenn Phänomene imaginiert werden, die bislang noch nicht eingetreten sind, aber von denen Polizeien glauben, sich auf sie vorbereiten zu müssen (etwa, wie in Frankreich, der Schusswaffengebrauch eines einzelnen Demonstrierenden aus einer Demonstration heraus). Es existieren deshalb in den Simulationen freiwillig wie unfreiwillig immer wieder grobe Abweichungen zum realen Protestgeschehen.

So ist, um an dieser Stelle nur zwei Aspekte für England, Frankreich, Nordirland anzuführen, erstens zu berücksichtigen, dass zumeist keine durchschnittlichen Demonstrationen dargestellt werden: Anstatt dass friedliche, gesetzeskonforme Versammlungen[12] simuliert werden, richtet sich der Fokus der Simulationen fast ausschließlich auf den statistisch kleinsten Teil der Proteste: jene, die eskalativ verlaufen.

Da die Trainings auf alles, auch auf das Schlimmste, vorbereiten sollen, werden die enactments stets als worst case-Szenarien konzipiert. Im Verlauf der Übungen wird eine kurze, friedliche Eingangsphase schnell von Ausschreitungen abgelöst, die in ihrem Schweregrad kontinuierlich zunehmen. Diese Szenarien münden früh in bürgerkriegsartigen Zuständen. Die Polizist*innen machen in den Trainings so die Erfahrung, dass jeder Protest eskaliert, auch wenn anfangs deeskalative Maßnahmen eingesetzt wurden, dass jeder Protest gewalttätig ist und dass jeder Protest bürgerkriegsartige Zustände annimmt. Selbst bei den eingangs rechtskonformen Handlungen der Demonstrierenden werden die Gefahr und der Rechtsbruch oft antizipiert – etwa, wenn wie in Frankreich betont wird, dass eine jetzt noch friedlich demonstrierende Person im nächsten Moment gewalttätig werden könne. Stets gefährden und unterminieren Demonstrationen, so die Vermittlung durch die Simulationen weiter, die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die in der Folge mittels des größtmöglichen Einsatzes von polizeilicher Zwangsgewalt wiederhergestellt werden muss.

Zweitens wird das politische Spektrum nicht ausgewogen abgebildet. Es werden nahezu ausschließlich Proteste aus dem politisch linken Spektrum dargestellt, wobei diese, auch wenn sie linksliberal sein sollen (etwa, indem Gewerkschaftsproteste simuliert werden), durchweg eine antagonistische Repräsentation erfahren. Ganz gleich, ob das linksradikale oder linksliberale Spektrum aufgerufen wird: In allen Fällen werden Steine und Molotow-Cocktails geworfen, Autos angezündet und es wird die Konfrontation mit der Polizei gesucht. Dies hat zur Folge, dass die Polizist*innen die Erfahrung von bürgerkriegsähnlichen Zuständen vorrangig mit dem linken Protesten – und hier allen Facetten dieses Spektrums – verknüpfen. Dies lädt zu stereotypisierenden Grenzziehungen mit Blick auf linken Protest ein und prägt darüber hinaus den Blick auf die angemessene polizeiliche Reaktion entsprechender Demonstrationseinsätze.

Bei der Polizei Niedersachsen sind diese Tendenzen zwar erkennbar, aber sie sind eingeschränkt vorhanden. Hier werden zwar auch worst cases trainiert und auch hier geht es nahezu ausschließlich um linken Protest. Der Grad der Gewaltanwendung von Protestierenden und Polizei ist zumeist jedoch deutlich reduziert (was auch mit den weniger „geeigneten“ Trainingsanlagen zu tun haben mag). Zudem werden oft und eingehend friedliche Lagen trainiert. Kompetenzen im friedlichen policing einer Demonstration werden hier nicht wie in den anderen Ländern vorausgesetzt, sondern es wird davon ausgegangen, dass auch diese erlernt werden müssen. Diese Auffassung deckt sich mit Erkenntnissen, dass das Polizieren von ruhigen Lagen oder die Deeskalation von kritischen Dynamiken durchaus fehleranfällig sein kann.[13]

Simulation und Versicherheitlichung

Auf die Gefahren einer unzulänglichen Polizeiausbildung ist in der einschlägigen Literatur immer wieder hingewiesen worden: Eine schlechte Kenntnis der Gesetzesinhalte, physische Unzulänglichkeiten oder Unklarheiten über das Wie des Umgangs mit einer Situation könnten bei Polizist*innen schnell zu Überforderungen führen, die eskalatives und/oder unrechtmäßiges Handeln begünstigen. Entlang der rechtlichen Maßgaben agieren könne nur eine Polizei, die auch entsprechend ausgebildet sei. So formuliert Behr: „Es ist mir jedenfalls nicht bekannt, dass gut ausgebildete, wertgeschätzte und gut begleitete Organisationseinheiten zu desaströsen Entgleisungen neigen. Das kennt man im übrigen (sic) auch aus dem Militär: Die schlimmsten Einheiten sind die Reservisten. Am wenigsten gefährdet sind die sog. Elitetruppen, und zwar auch deshalb, weil sie ein gutes Training … haben.“[14]

In diesem Sinne ist davon auszugehen, dass Simulationstrainings Eskalationen, die durch Überforderungen hervorgerufen werden, verhindern helfen können. So lässt sich erkennen, dass die beschriebene Entwicklung des Trainings im protest policing zu seiner Professionalisierung geführt hat. In den letzten Dekaden haben sich auf den nationalen Ebenen sukzessive Leitbilder und Mindeststandards vereinheitlicht und es sind best practices entwickelt worden. Todesfälle bei Demonstrationen sind in Europa in diesem Zuge zu äußerst seltenen Erscheinungen geworden und Demonstrationen konnten sich als Form der politischen Partizipation weiterentwickeln und verbreitern.[15]

Zugleich ist jedoch anzunehmen, dass die Simulationen in ihrer derzeit vorherrschenden Form bei den Polizist*innen zur Ausbildung eines „Gefahrensinns“[16] beitragen, der den Sicherheitsgedanken im protest policing stärkt, zu Ungunsten eines policings, das die Versammlungsfreiheit in den Vordergrund stellt. In ihrer derzeitigen Beschaffenheit stützen die Simulationen mithin gegenwärtige kriminalpolitische Entwicklungen einer Versicherheitlichung[17] von Protest. Mit Letztgenanntem ist die sukzessiv größere Gewichtung von Protest als Unterminierung der Sicherheit und Ordnung gemeint, der entsprechend intensiv zu polizieren ist.

Zwar sind gegenwärtig dialogische, de-eskalative und non-konfrontative Doktrinen dominant. Andererseits werden an Proteste, die aufgrund von Prognosen als riskant bzw. gefährlich eingestuft werden, seit der letzten Dekade andere Maßstäbe[18] – jene der strategic incapacitation[19] – angelegt: Dialogische Formate werden bei diesen von vornherein stark eingeschränkt und die Schwellen für ein eskalatives und konfrontatives Vorgehen gesenkt. Polizeiliche Zwangsgewalt wird nicht mehr nur als letztes Mittel, sondern mitunter auch taktisch eingesetzt. Proteste werden entlang präventiver Erwägungen gänzlich verboten oder müssen aus Sicherheitserwägungen weitab des Protestanlasses oder unter zahlreichen Auflagen stattfinden. In jüngster Zeit ist zudem im Sinne eines trickle-down-Effekts eine Ausweitung dessen zu verzeichnen, was polizeilicherseits als riskanter bzw. gefährlicher Protest eingestuft wird, sodass Einschränkungen von Protest, wie sie bislang nur für die letztgenannten Proteste galten, mitunter auf friedliche Proteste übertragen werden.

Die enactments stützen diese Tendenz: Weil sie fast ausschließlich die in seltenen Fällen vorkommenden Eskalationslagen darstellen und erfahrbar machen, vermögen sie zur Wahrnehmung der Gefährlichkeit von Protest und somit der Notwendigkeit eines „harten“ protest policing im Sinne einer strategic incapacitation beizutragen. Daran ändern auch Unterschiede zwischen den Polizeien der einzelnen Länder nichts, wie sie aus unterschiedlichen organisationalen Strukturiertheiten der Polizeien, polizeikulturellen Selbstverständnissen oder Ausrichtungen des protest policing hervorgehen: Obwohl sich in den Simulationen durchaus Unterschiede erkennen lassen, geht es bei allen um den maximalen Einsatz von Zwangsgewalt als Reaktion auf einen Protest, der bürgerkriegsähnliche Zustände heraufbeschwört. Die Simulationen der Polizeien haben so in der Konsequenz Auswirkungen auf die Versicherheitlichung politischer Teilhabe und werfen insofern demokratiepolitische Fragen auf.

Einzig bei der Polizei Niedersachsen scheinen Hinweise auch auf Simulationen anderer Art gegeben zu sein – mit entsprechenden Effekten auf die Einsatzphilosophie. So etwa, wenn sie Einsatzlagen vorbereitet, bei denen über Stunden bzw. über den gesamten Einsatz hinweg kein Eingreifen nötig ist, oder wenn sie Kleingruppentrainings durchführt, in denen allein die Kommunikation mit den Demonstrierenden im Vordergrund steht, so dass de-eskalative Ansätze unterhalb der Schwelle des Einsatzes von Zwangsgewalt gestärkt werden.

Es ist nur folgerichtig, dass sich die Polizei Niedersachsen unter den deutschen Polizeien informell einen Namen als so genannte „Friedenshundertschaft“ gemacht hat. Dennoch ist auch bei der Polizei Niedersachsen eine große Distanz zur politischen Form Protest erkennbar, ebenso wie linke Protestierende mitunter sichtbar das tradierte Feindbild oder „den Gegner“ ausmachen. Dies kommt in teils stereotypen Vorstellungen von Protest und Protestierenden zum Ausdruck, ebenso wie radikalem linken Protest eine deutlich geringere Legitimität zuerkannt wird.

Dies zeigt: Während Simulationen entlang von worst case – Szenarien eine Dringlichkeit formulieren, die es notwendig erscheinen lassen, Demonstrationen in erster Linie als gefährlich einzustufen, ermöglicht es ein stärker am Normalfall von Demonstrationen orientiertes Training, Protest als Grundrechtsausübung von Bürger*innen zu verstehen – mit entsprechenden Konsequenzen für reale Polizeieinsätze.

[1]    größere Teile dieses Beitrags erschienen bereits in Kretschmann, A.: Protest policing in der Ausbildung: Was vermitteln simulative Trainings?, in: format magazine 2022, No. 12, S. 42-47
[2]    s. jedoch einige vorrangig auf ihre Öffentlichkeitswirksamkeit ausgerichtete Trainings wie in Österreich und – die wohl bislang größte Simulation mit 12.000 Polizist*innen – in China, www.dw.com/de/österreichische-polizisten-und-soldaten-trainieren-abwehr-von-flüchtlingen/a-44396634 und www.globaltimes.cn/content/1160484.shtml
[3]    z. B. von der Burg, L; Eberau, J.; Janssen, J.: Virtual Reality Trainings bei Polizeibehörden, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 131 (März 2023), S. 76-87
[4]    McPhail, C.; Schweingruber, D.; McCarty J.: Policing Protest in the United States. 1960–1995, in: della Porta, D.; Reiter, H. (Hg.): Policing Protest: The Control of Mass Demonstrations in Western Democracies, Minneapolis 1998, S. 49-69
[5]    für Frankreich vgl. Berlière, J.-M.; Lévy, R.: Histoire des polices en France. De l’Ancien Regieme à nos jours, Paris 2011, S. 242
[6]    Protestzyklen beziehen sich auf das konjunkturelle Ansteigen und Abfallen der Aktivitäten sozialer Bewegungen, vgl. Tarrow, S.: Power in Movement: Collective Action, Social Movements and Politics, Cambridge 1998
[7]    Weinhauer, K.: Innere Unruhe. Studentenproteste und die Krise der westdeutschen Schutzpolizei in den sechziger Jahren, in: Fürmetz, G.; Reinke H.; Weinhauer K. (Hg.): Nachkriegspolizei. Sicherheit und Ordnung in Ost- und Westdeutschland 1945-1969, Hamburg 2001, S. 303-325 (303)
[8]    Werkentin, F.: Die Restauration der deutschen Polizei. Innere Rüstung von 1945 bis zur Notstandsgesetzgebung, Frankfurt/Main 1984, S. 211-219
[9]    Wann die ersten simulativen Anlagen in Deutschland entstehen, ist nicht bekannt. Im Gegensatz zu Ländern wie Frankreich und England, die ihre Trainings und Trainingsstätten inzwischen öffentlichkeitswirksam präsentieren, finden die Trainings der Bereitschaftspolizeien der Länder und des Bundes verdeckt statt.
[10] Informationsfilm des Landesamts für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten (LAFP) der Polizei NRW v. 20.6.2020, https://lafp.polizei.nrw/artikel/so-arbeitet-das-lafp-nrw-informationsfilm-stellt-die-landesoberbehoerde-vor
[11] Die Bereitschaftspolizeien führen in der Regel innerhalb ihrer Einheiten mit geringem Aufwand (d. h. ohne aufwändig konzipiertes Szenario, ohne größere requisitäre Ausstattung, ohne derartige Gruppengrößen und lediglich in Form von Einzelsequenzen) in ihren Liegenschaften ein wöchentliches Training durch.
[12] Meyer, David S./Tarrow, S.: A Movement Society, in: dies. (Hg.): The Social Movement Society. Contentious Politics for a New Century, Lanham 1998, S. 1-28 sowie Fillieule, O.; Jobard, F.: The maintenance of order in France. Towards a model of protest policing, in:  della Porta, D.; Reiter, H. a.a.O. (Fn. 4), S. 70-90
[13] Kretschmann, A.: Les villes artificielles comme espaces de formation de l’ordre politique: l’entrainement aux scénatrios apocalyptiques des polices européennes, in: Carnets de géographes 15, 2021, https://journals.openedition.org/cdg/7154
[14] Behr, R.: Polizeikultur. Routinen – Rituale – Reflexionen. Bausteine zu einer Theorie der Praxis der Polizei, Wiesbaden 2006, S. 66
[15] Kretschmann, A.; Legnaro, A.: Politiken der Dominanz: Das Polizieren von Protest in Deutschland, in: Fillieule, O.; Jobard, F.: Politiken der Un-Ordnung. Das Polizieren von Protest in Frankreich, Wiesbaden (im Erscheinen)
[16] Engell, L.; Siegert, B.; Vogl. J. (Hg.): Gefahrensinn, München 2009
[17] Buzan, B.; Weaver, O.; Wilde, J. de: Security. A New Framework for Analysis, Boulder 1998
[18] Joyce, P.; Wain, N.: Public Order Policing, Protest, and Political Violence, Basingstoke, New York 2014, S. 274 sowie Descoulx, G.; Fillieule, O.; Viot, P.: Changement de tableau. Le maintien de l’ordre public en Europe, entre poussée de l’histoire réelle et dédifférenciation, Tagungsbeitrag, 6. Kongress Associations Francophones de Science Politique 2015, www.academia.edu/15924052
[19] Gillham, P.F.: Securitizing America: Strategic Incapacitation and the Policing of Protest Since the 11 September 2001 Terrorist Attacks, in: Sociology Compass 2011, H. 7, S. 636-652

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