Kontroverse Statistik: PMK-Erfassung auf dem Prüfstand

von Leonie Gränert und Luisa Seydel

Wegen der Erfassung und Kategorisierung politisch motivierter Straftaten (PMK) stand die PMK-Statistik zuletzt mehrfach in der Kritik. Doch wie haben es politische Kampfbegriffe in die polizeiliche Statistik geschafft? Schwerpunkte des Artikels sind das Definitionssystem des Bundeskriminalamtes (BKA), die Haltung des Bundesinnenministeriums (BMI) und die Kategorien Männer- und Deutschfeindlichkeit sowie der immer weiter wachsendende Phänomenbereich „nicht zuzuordnen“, worunter zahlreiche „Reichsbürger“-Straftaten erfasst werden. Wir fordern eine Überarbeitung der Erfassungspraktiken und eine stärkere Einbindung externer Akteur*innen, um die Statistik zu verbessern und politischen Missbrauch zu verhindern.

Am 9. Mai 2023 stellten Bundesinnenminsterin Nancy Faeser und BKA-Präsident Holger Münch die Fallzahlen der politisch motivierten Kriminalität für das Jahr 2022 vor. Viele der Zahlen bewegen sich auf einem Höchststand. Rechte Gewalttaten stiegen um 12 %, Gewalt gegen Geflüchtete nahm wieder stark zu, und Straftaten von „Reichsbürgern“ stiegen gar um 40 %; ebenso die Gewalt aus antisemitischen Motiven.[1]

Die Zahlen des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes politisch motivierte Kriminalität (KPMD-PMK) von Bund und Ländern, sind, nach Auffassung der Opferberatungsstellen, trotz wesentlicher Kritikpunkte, ein unverzichtbarer Gradmesser für aktuelle und vergangene Entwicklungen des Hellfeldes. Aus ihnen werden politische Programme abgeleitet, Forderungen formuliert und Gesetzesvorhaben angestoßen. Die Statistik ermöglicht, den besorgniserregenden Aufwärtstrend im Bereich Rechtsextremismus zu erkennen, Zahlen zu vergleichen, Tendenzen abzuschätzen und Versäumnisse aufzuzeigen. Besonders in Zeiten der allgemeinen Diskursverschiebung nach rechts sind valide Zahlen unverzichtbar. Allerdings entsteht die Erfassung und Kategorisierung politisch motivierter Straftaten nicht im luftleeren Raum. Sie sind von bestimmten Überzeugungen, Werten, politischen Diskursen und Zielstellungen geprägt. Das zeigen die aktuellen Debatten um die PMK-Statistik.[2]

Bei der Vorstellung der Zahlen fiel ein Phänomenbereich ganz besonders ins Auge: der Bereich „nicht zuzuordnen“. Dort gab es einen Anstieg von fast 13 %, bei Verstößen gegen das Versammlungsrecht sogar um 416 %. Kaum ein anderer Phänomenbereich ist in den vergangenen Jahren so schnell angewachsen wie dieser. Noch wundersamer wird es, wenn die Straftaten innerhalb des Bereichs näher betrachtet werden. Auch scheinbar eindeutig rechtsgerichtete Straftaten landen in dieser Nicht-Kategorie. So fragte die Bundestagsabgeordnete Martina Renner im Jahr 2022 in einer Kleinen Anfrage nach Straf- und Gewalttaten, die Bezug zum „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) aufwiesen und sich gegen Migrant*innen oder Geflüchtete richteten. Die Bundesregierung zählte in ihrer Antwort auch eine Straftat aus dem Bereich „nicht zuzuordnen“ auf. Das wirft die Frage der Definition von Rechtsextremismus und der daraus folgenden Kategorisierung auf. Wenn der Bezug auf den NSU und das gleichzeitige Feindbild Migrant*in nicht ausreicht, wann gilt eine Straftat dann als rechts? Es drängt sich die Annahme auf, dass die Zahlen rechter Gewalt auf diese Weise mitunter geschönt und verzerrt werden. Handelt es sich um eine politische Strategie, um Unwissen oder um Unwillen, das Thema ernsthaft zu bearbeiten?

Entpolitisierung rechter Gewalt

Unsere Annahme ist, dass sowohl das Definitionssystem der KPMD-PMK als auch die Erfassung und Einordnung wissenschaftlich kaum fundiert, politisch umkämpft und durch eine Vielzahl von Umständen geprägt sind. Diese Entpolitisierung und Nicht-Aufklärung rechter Taten hat lange Tradition. So musste im Jahr 2018 die Bundesregierung die Zahl der Todesopfer rechter Gewalt seit 1990 nach unabhängiger wissenschaftlicher Prüfung deutlich nach oben korrigieren.[3] Die Ausgestaltung der PMK-Statistik wurde und wird von politischen und gesellschaftlichen Diskursen und Aushandlungsprozessen begleitet. Es entstanden immer wieder neue Themenfelder und andere fielen weg. Seit 2019 gibt es im Oberthemenfeld „Hasskriminalität“ die Unterthemenfelder „Deutschfeindlichkeit“, und im Jahr 2022 ersetzten „Frauenfeindlichkeit“, „Geschlechterbezogene Diversität“ und „Männerfeindlichkeit“ die vormalige Kategorie „Geschlecht/sexuelle Identität“. Doch ist es sinnvoll, dem Themenfeld „Frauenfeindlichkeit“ das der „Männerfeindlichkeit“ zur Seite zu stellen, um Ausgewogenheit zu suggerieren?

Eine verlässliche und korrekte Einordnung von Taten ist nicht nur relevant für politische Konsequenzen und ein öffentliches Erinnern, sondern auch für Angehörige und Hinterbliebene, denen gezeigt wird, dass das Motiv der Tat erkannt und ernstgenommen wird. Wir wollen aufzeigen, warum die Statistik nicht für politische Zwecke, Stimmungsmache oder Verharmlosung missbraucht werden darf. Unsere Kritik konzentriert sich hierbei auf zwei wesentliche Bereiche: Zum einen auf das Definitionssystem und den Themenfeldkatalog des BKA, zum anderen auf den immer weiter wachsenden Phänomenbereich „nicht zuzuordnen“. Des Weiteren diskutieren wir zusätzliche Einflussfaktoren, die zu einer verzerrten Abbildung führen können.

Mehrdimensionale Erfassung

Seit 2001 erfassen Bund und Länder in einem gemeinsamen System politisch motivierte Kriminalität. Dem war eine intensive gesellschaftliche Debatte über die große Diskrepanz zwischen staatlichen Zahlen und Zahlen der Zivilgesellschaft zu Todesopfern rechter Gewalt vorausgegangen.[4] Der KPMD-PMK soll eine „einheitliche … Erhebung der gesamten Straftaten zur politisch motivierten Kriminalität“ mit einer „verlässliche(n) Datenbasis für polizeiliche Auswertungen, statistische Aussagen …, kriminalpolitische Entscheidungen und die kriminologische Forschung zum Zwecke der Prävention und Repression“[5] gewährleisten. Dabei werden Straftaten mit politischem Hintergrund von den zuständigen Landeskriminalämtern (LKA) an das BKA weitergeleitet und in einer zentralen Fallzahlendatei erfasst. Es handelt sich hierbei um eine Eingangsstatistik, die Straftaten bei Aufnahme der polizeilichen Ermittlungen beim Vorliegen eines Anfangsverdachts erfasst. Die Zuordnung aufgrund von Tatbegehung und Tatumständen in Themenfelder und Phänomenbereiche erfolgt bereits in den Ländern. Die Grundlage ist ein festgelegtes Definitionssystem und ein sogenannter Themenfeldkatalog zu kriminaltaktischen Angaben in Fällen politisch motivierter Kriminalität. Diese haben laut BKA den Anspruch, die Straftaten mehrdimensional abzubilden. Hierfür erfassen sie Phänomenbereiche (PMK -links-, PMK -rechts-, PMK -ausländische Ideologie-, PMK -religiöse Ideologie- und PMK -ohne Zuordnung-) und Themenfelder (unterteilt in Ober- und Unterthemenfelder).

Der zum Teil verworren wirkende Themenfeldkatalog enthält so beispielsweise unter dem Oberthemenfeld (OTF) „Politischer Kalender“ gleich neben dem Unterthemenfeld (UTF) „Geburtstag Adolf Hitlers“ das UTF „Silvio Meier“. Der 1993 von Nazis ermordete junge Antifaschist sei, so die Erläuterung im Katalog, bei Auseinandersetzungen zwischen linken und rechten Jugendlichen erstochen worden. Im OTF „Sozialpolitik“ findet sich beispielsweise das UTF „Frauen und Gleichstellung“, dem politisch motivierte Kriminalität im Bereich Antisexismus, Antipatriarchat und Feminismus zugeordnet wird.[6] Erfasst werden über den Meldedienst auch Angriffsziele, Tatmittel und Deliktsqualität. Mehrfachnennungen sind dabei möglich.[7]

Das Erfassungssystem wurde von der in der Regel zweimal jährlich tagenden Innenministerkonferenz (IMK) bundesweit eingeführt; diese ist seither auch für das PMK-Definitionssystem zuständig. Veränderungen, Korrekturen und Erneuerungen bedürfen langwieriger Beschlussverfahren der IMK, über die, je nach Aufstellung, verschiedene politische Interessen auf die Ausgestaltung einwirken.

Politisch konstruierte Erfassungslücken

Eines der größten Oberthemenfelder des genannten Themenfeldkatalogs ist die Hasskriminalität. Sie bezeichnet politisch motivierte Straftaten, wenn die Tat oder die Einstellung des/der Tatverdächtigen Anhaltspunkte dafür liefern, dass die Tat aufgrund von Vorurteilen begangen wurde. Die 16 Unterthemenfelder der Hasskriminalität bieten sogleich die Erklärung, was im Detail damit gemeint sein kann: unter anderen geht es um Kategorien wie Antisemitismus, Antiziganismus, Behindertenfeindlichkeit oder Hass aufgrund sexueller Orientierung. Einer Tat können mehrere Unterthemenfelder zugeordnet werden. Während all diese Kategorien im Zusammenhang mit Hasskriminalität im Grunde wissenschaftlich definiert werden können, wird man bei genauerer Betrachtung seit dem 1. Januar 2019 stutzig. In der Zeit von Horst Seehofer (CSU) als Innen- und selbst ernannter Heimatminister tauchte das UTF „Deutschfeindlichkeit“ zum ersten Mal im Themenfeldkatalog auf. Politischen Druck in diese Richtung gab es seit Jahren und nicht erst durch die AfD. Bereits 2010 forderte neben den Grünen auch die damalige Familienministerin Kristina Schröder (CDU) Maßnahmen gegen „Deutschenfeindlichkeit“.[8] Bei „deutschfeindlichen“ Straftaten handelt es sich laut BKA um Taten, denen ein Vorurteil gegenüber der deutschen Nationalität zugrunde liegt.

Seit Jahren monieren auch Rechte und Konservative Deutschfeindlichkeit oder gar Rassismus gegen Weiße und fordern ein härteres Vorgehen dagegen. An der unter Seehofer eingeführten Kategorie hält auch das BMI unter Faeser weiter fest. Im Jahr 2022 stiegen die sogenannten deutschfeindlichen Straftaten um 63 %. Ein ernstzunehmendes Problem also? Eher nicht. Im Vergleich zu tatsächlich rassistischen Straftaten sind die Zahlen extrem gering. Die fehlende wissenschaftliche Grundlage führt auch auf der Erfassungsebene zu erheblichen Mängeln. Dadurch haben die Beamt*innen vor Ort viel Spielraum bei der Entscheidung, wann eine Straftat als deutschfeindlich einzuordnen ist. Auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion nach der wissenschaftlichen Definition der Kategorie Deutschfeindlichkeit antwortete die Bundesregierung: „Das UTF ,Deutsch­feindlich‘ wird bei politisch motivierten Straftaten genannt, bei denen sich Vorurteile auf die deutsche Nationalität beziehen (auch bei einem deutschen Tatverdächtigen) … Die vorgenannte Erläuterung deckt sich inhaltlich mit der im Duden (,den Deutschen, Deutschland gegenüber feindlich eingestellt‘).“[9] Die tautologische Definition eines Rechtschreibwörterbuchs wirkt mindestens unzureichend und wenig praktikabel für die Erfassung von politischen Straftaten. Offen bleibt ein wichtiger Punkt: Was ist im Sinne des BMI und BKA deutsch und nicht-deutsch? Kann es deutschfeindliche Straftaten auch gegen nicht-weiße Deutsche geben?

Wozu diese Verkürzung führen kann, zeigt sich in Cottbus. Die Stadt war im Jahr 2022 statistisch ein Hotspot deutschfeindlicher Straftaten. Einer überwiegenden Mehrheit der deutschfeindlichen Straftaten dort sind die Unterthemenfelder Rassismus und fremdenfeindlich zugeordnet.[10] Auch in anderen brandenburgischen Städten kommt diese Kombination besonders häufig vor. Zumeist handelt es sich bei den Taten um Raub oder räuberische Erpressung. Das Brandenburgische Polizeipräsidium klärte auf Nachfrage der taz auf, dass es sich dabei um Raubstraftaten von Jugendlichen mit Migrationshintergrund handle, die deutsche Jugendliche beklauen und damit „eine Vormachtstellung gegenüber deutschen Jugendlichen“ darstellen wollen würden.[11] Der Verein Opferperspektive kritisierte die brandenburgische Praxis scharf.[12] Nicht nur wird hier Rassismus durch eine Gleichsetzung mit sogenannter Deutschfeindlichkeit verharmlost, auch werden Taten von Jugendlichen übermäßig politisiert, gerade weil sie migrantisch sind.

Auch die Tatsache, dass einige „gegen rechts“ gerichtete Straftaten vor allem im Osten der Bundesrepublik zusammen mit dem UTF Deutschfeindlich erfasst werden, zeigt, auf welche Deutungsmuster hier zurückgegriffen wird. Sicherlich wäre es ein lohnendes Forschungsdesiderat, diese Fälle nachzurecherchieren, die Kategorisierung wissenschaftlich zu prüfen und sie auszuwerten. Doch bereits auf den ersten Blick wird klar, wie sehr die Zahlen von Motivation, Einstellung und wissenschaftlicher Kenntnis über Rassismus der örtlichen Beamt*innen abhängen. Eine „trennscharfe“[13] Darstellung, die das BKA mit der Einführung der Kategorie erreichen wollte, ist somit jedenfalls nicht gegeben. Vielmehr wird einem rassistischen Narrativ in die Hände gespielt und die Kriminalstatistik zu allen Seiten verzerrt.

Männer als Feindbild

Mit der Kategorie Männerfeindlichkeit als Teil des OTF Hasskriminalität hat es im Jahr 2022 ein weiterer rechter Kampfbegriff in die PMK-Statistik geschafft. Die Feindschaft gegen Männer gehört damit zu einer der drei jüngsten Kategorien in der Statistik. Im vergangenen Jahr zählte das BKA ganze 17 männerfeindliche Straftaten. Eine dieser Taten wurde in Berlin Friedrichshain registriert, als Unbekannte die Schriftzüge „Feminism is for everyone“ und „Patriarchat zerschlagen“ auf der Straße anbrachten.[14] Kein anderes Themenfeld verzeichnet so wenig Fälle. Zum Vergleich: Im selben Zeitraum gab es rund 600 Straftaten gegen Frauen und Transpersonen. Dennoch wird an der Kategorie festgehalten.

Von den 17 männerfeindlichen Straftaten im Jahr 2022 wurden 13 von links und eine von rechts begangen. Doch wie kann man sich rechte Männerfeindlichkeit vorstellen? Männlichkeit ist kein Feindbild rechtsextremer Ideologie und Männerhass kein Motiv rechter Gewalt. Weiterhin ist auch die Gleichsetzung von Männerfeindlichkeit mit Frauen- und Transfeindlichkeit inhaltlich zu kritisieren. Der theoretisch gänzlich unfundierte Begriff Männerfeindlichkeit hat seinen Ursprung in antifeministischen Diskursen und verkürzt Zusammenhänge und Wirkungsweisen des Patriarchats. Oft geht der Begriff mit einer Abwertung und Diffamierung feministischer Positionen einher und fungiert auch als Vorwurf oder Schuldzuweisung im Sinne einer Täter-Opfer-Umkehr. Strukturelle Ungleichbehandlung und Sexismus gegenüber Frauen werden gleichgesetzt mit individuellen Erfahrungen, denen keine strukturelle Benachteiligung zugrunde liegt. Polizei und Innenministerien übernehmen hier ein tendenziöses rechtes Wording unter dem Deckmantel empirischer Neutralität. Durch die behördliche Gleichsetzung von Männerfeindlichkeit mit Frauen- und Transfeindlichkeit wird Letztere verharmlost, und die Bedingungen und Ursachen tatsächlicher struktureller Diskriminierungsformen werden verkannt. Die Nachfrage nach der benutzten wissenschaftlichen Definition beantwortete das BMI erneut mit dem Hinweis auf den Duden: Männerfeindlichkeit hieße „den Männern gegenüber feindlich, nicht wohlwollend eingestellt“.[15]

Rechtsmotivierte Straftaten unter „nicht zuzuordnen“?

Der Phänomenbereich „PMK -nicht zuzuordnen-“ stellt im Jahr 2022 knapp vor „PMK -rechts-“ die größte Kategorie in der PMK-Statistik dar. Subsummiert werden laut BKA unter „nicht zuzuordnen“ Straftaten, die nicht in den übrigen Phänomenbereichen eingeordnet werden können. Die Anzahl der Straftaten bei „PMK -nicht zuzuordnen-“ ist zwischen den Jahren 2013 und 2022 um fast 400 % gestiegen. Ein noch höherer Anstieg um 770 % lässt sich bei den Gewalttaten in diesem Phänomenbereich verzeichnen. Im Jahr 2022 entfielen zudem vier der neun registrierten versuchten Tötungsdelikte auf die Kategorie.[16] Ein genauerer Blick auf ihre Zusammensetzung zeigt auf: Viele der unter „nicht zuzuordnen“ aufgelisteten Straftaten werden von den Themenfeldern korrekterweise den traditionellen Einstellungsmustern der extremen Rechten zugeordnet. So entfallen in der PMK-Statistik im OTF Hasskriminalität alleine 465 der insgesamt 1.951 „nicht zuzuordnenden“ Taten auf die UTF Ausländerfeindlichkeit und Rassismus – darunter 69 Körperverletzungen.[17] Besonders stark beeinflusst wurde der Zuwachs der Kategorie durch Straftaten mit Bezug auf die Coronapandemie mit fast 14.000 Straftaten, von denen über 90 % unter „nicht zuzuordnen“ erfasst wurden.[18] Dennoch landen all diese Straftaten nicht unter „PMK -rechts-“.

Es ist davon auszugehen, dass sich unter den Tatverdächtigen viele Personen aus dem „Reichsbürger“-Spektrum verbergen. Anhänger*innen der Gruppierungen führen mitunter Feindeslisten, horten Waffen und gründen Netzwerke, mit welchen sie den Umsturz für einen vermeintlichen Tag X planen. Im Jahr 2022 sind die durch „Reichsbürger“ begangenen Straftaten im Vergleich zum Vorjahr um 39,7 % gestiegen.[19] Gleichzeitig wurde mit 308 Gewalttaten ein großer Anteil der Delikte unter „PMK -nicht zuzuordnen-“ gelistet. Damit entfiel fast ein Fünftel der insgesamt 1.608 angefallenen Gewaltdelikte in diesem Bereich auf die Gruppierung. Lediglich 25 Gewalttaten der „Reichsbürger“ wurden „PMK -rechts-“ zugeordnet.[20]

Die Ermittlung der Gründe für solche Zahlen macht einen detaillierteren Blick auf zugrundeliegende Definitionen notwendig: Die Polizeibehörden nutzen eine Definition des Bundesamtes für Verfassungsschutz, dem zufolge „Reichsbürger“ „Gruppierungen und Einzelpersonen“ sind, die sich „u. a. … auf das historische Deutsche Reich“, auf „verschwörungstheoretische Argumentationsmuster” beziehen und „die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem ablehnen”, weshalb die „Besorgnis“ bestehe, „dass sie Verstöße gegen die Rechtsordnung begehen.“[21] Trotz der starken Überschneidungen zu rechtsextremen Ideologiefragmenten lässt sich in der Definition formal keine Verbindung von „Reichsbürger“-Gruppierungen zu Antisemitismus und Rechtsextremismus erkennen. Dies resultiert wiederum in der Auffassung der Behörden, dass „dem Rechtsextremismus nur ein kleiner Teil der Szene zuzuordnen“ sei.[22] Dies wirft die Frage auf, welches Verständnis von Rechtsextremismus der Arbeit der Behörden eigentlich zugrunde liegt. Der „PMK -rechts-“ werden laut BKA Straftaten zugeordnet, wenn bei Tatverdächtigen und/oder Tat Anhaltspunkte für eine „rechte Orientierung“ vorliegen. Als Grundmerkmale gelten die „Annahme einer Ungleichheit … der Menschen“ sowie Straftaten mit Bezügen zu „völkischem Nationalismus, zu Rassismus, Sozialdarwinismus oder Nationalsozialismus.“[23]  Zwar werden ähnlich wie in gängigen wissenschaftlichen Definitionen Antisemitismus und die unter „Reichsbürger/Selbstverwalter“ gelisteten Verschwörungsideologien als potenzielle rechtsextreme Tatmotive und Ideologiefragmente erfasst, jedoch mit anderer Schlussfolgerung. Es wird suggeriert, Menschen könnten (antisemitischen) Verschwörungsmythen anhängen, ohne dabei rechtsextrem zu sein.

Dies zeigt auch der Blick auf das „Reichsbürger“-Netzwerk der Vereinten Patrioten. Die über 60 Tatverdächtigen planten einen Systemumsturz mit einem Sturm auf den Bundestag und wurden im Dezember 2022 durch die Behörden enttarnt. Mittlerweile wurden einige von ihnen auch wegen des Zeigens des Hitlergrußes verurteilt. Aus der Antwort auf eine Schriftliche Frage der Bundestagsabgeordneten Petra Pau geht hervor, dass diese trotz rechter Parteizugehörigkeit von mindestens einer der Tatverdächtigen sowie einer offensichtlich rechtsextremen Gesinnung weiterer Mitglieder, deren Taten nicht in der „PMK -rechts-“-Statistik gelistet werden. Begründet wurde dies mit der Annahme, dass bei der Gruppierung „Verschwörungsideologien und reichsbürgertypische Umsturzphantasien im Vordergrund“ stünden, sodass die Zuordnung unter „nicht zuzuordnen“ erfolgte und „das Themenfeld ‚Reichsbürger/Selbstverwalter‘ gewählt wurde.”[24]

Durch derartige Deutungsmuster findet eine Entpolitisierung der Taten und eine Verharmlosung der Szene insgesamt statt. Es offenbart sich hier auch ein Problem in der politischen Praxis: weder die 2013 bis 2021 regierende Große Koalition noch die jetzige Ampelregierung zeigten Interesse an einer Umgestaltung der Erfassung. Begründet wurde dies von Innenministerin Faeser und BKA-Präsident Münch mit der Häufung von Taten mit einer „diffusen ideologischen Motivation“,[25] die mehrheitlich im Zusammenhang mit „Reichsbürgern“ und Coronapandemie stünden. Die ideologische und personelle Überschneidung der Szene zum Rechtsextremismus wird statistisch ausgeblendet, auch weil per definitionem kein direkter Zusammenhang hergestellt wird. Dass „Reichsbürger“ meist gleichzeitig rassistisch und antisemitisch agieren und sich mit (anderen) Rechtsextremen umgeben, wird (bewusst) ignoriert.

Überarbeitung der Erfassungspraktiken

Neben den geschilderten Praktiken der Zuordnung und dem unklar definierten Themenfeldkatalog besteht ein weiterer Grund für die problematischen Verzerrungen: Die persönlichen Einstellungen und unterschiedlichen Kenntnisstände der Beamt*innen zu Diskriminierungsformen, Rechts­extremismus und „Reichsbürgern“. Wer Tatmotive nicht erkennt, mit ihrer Einordnung überfordert ist oder schlichtweg, obwohl die Motive offenliegen, ein geringes Interesse an der fachlich korrekten Einordnung hegt, wird diese auch nicht adäquat als rechte Straftat zuordnen. Hier kommt der einzelnen Beamt*in eine enorme Definitionsmacht zu, die im Zweifelsfall weit hinter einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus zurückfällt. Gerade deshalb ist eine (unabhängige) wissenschaftliche und bundesweit einheitliche Schulungsstruktur für Behördenmitarbeiter*innen einzufordern. Es empfiehlt sich auch den – bisher unzureichend geführten – Dialog mit Opferverbänden zu vertiefen, deren Erfassungspraxis näher an der Betroffenenperspektive liegt und die somit für eine realitätsnahe Erfassung wichtiges Know-how einbringen können.

Von Seiten des BMI und BKA wird argumentiert, dass mit den neu eingeführten Kategorien Erfassungslücken geschlossen werden. Wie gezeigt werden konnte, ist dies nicht der Fall. Vielmehr wurden regelrecht Kategorien konstruiert, die kaum gesellschaftliche Relevanz haben und konservativen Kampfbegriffen gleichkommen. Sind diese Kategorien aber erst einmal in der Welt, werden sie auch benutzt und sind damit Teil einer Diskursverschiebung nach rechts. Die PMK-Statistik droht so mitunter ein Mittel politischer Kämpfe zu werden. Die Erfassung in der PMK-Statistik benötigt daher einerseits eine Überprüfung der Sinnhaftigkeit des Kategorienzuwachses im Bereich der Männer- und Deutschfeindlichkeit sowie andererseits der Anpassung der Kategorie „nicht zuzuordnen“ an die sich in den letzten zehn Jahren wandelnde Gefahrenlage im rechtsex­tremen Spektrum. Gerade weil die PMK-Statistik eine so wichtige statistische Grundlage bildet, aus der politische Handlungsempfehlungen abgeleitet werden, muss ihre Aussagekraft dringend verbessert werden.

[1]    Neuer Höchststand politisch motivierter Kriminalität, Pressemitteilung des Bundesministeriums des Innern und für Heimat v. 9.5.2023
[2]    „Männerfeindlichkeit“ in der Polizeistatistik: Neues Kriminalitätsfeld, kaum Fälle, Der Spiegel H. 19/2023 v. 5.5.2023; Kritik an Polizeikategorie: Was heißt hier deutschfeindlich?, taz.de v. 24.7.2023
[3]    Bundesregierung korrigiert Zahlen: Mehr Tote durch rechte Gewalt seit 1990 als bekannt, in: Tagesspiegel.de v. 18.6.2018, s. a.: das Oktoberfestattentat, die Mordserie des NSU oder das rechtsextreme Attentat im Olympia-Einkaufszentrum in München 2016
[4]    Kleffner, H.; Holzberger, M.: War da was? Reform der Polizeilichen Erfassung rechter Straftaten, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 77 (1/2004), S. 56-64
[5]    Bundesministerium des Innern und für Heimat: Politisch motivierte Kriminalität im Jahr 2022, S. 3
[6]    Bundeskriminalamt: Themenfeldkatalog zur KTA-PMK. Stand: 09.12.21, www.fragdenstaat.de/dokumente/154325-themenfeldkatalog-zur-kta-pmk
[7]    Bundeskriminalamt: Definitionssystem Politisch motivierte Kriminalität. Stand: 21.09.21, https://polizei.thueringen.de/fileadmin/tlka/statistik/PMK/01__Definitionssystem_PMK_ab_01.01.2022.pdf
[8]    Deutschenfeindlichkeit ist Rassismus, faz.net v. 9.10.2010
[9]    BT-Drs. 20/7757 v. 19.7.2023, S. 3
[10] BT-Drs. 20/7522 v. 4.7.2023, Anlage 1
[11] Kritik an Polizeikategorie: Was heißt hier deutschfeindlich?, taz.de v. 24.7.2023
[12] Widersprüchliches Kategoriensystem des Innenministeriums verfälscht Bild über politisch motivierte Kriminalität, Pressemitteilug der Opferperspektive v. 3.3.2023
[13] BT-Drs. 20/6142 v. 30.3.2023, S. 41
[14] „Männerfeindlichkeit“ in der Polizeistatistik a.a.O. (Fn. 2)
[15] BT-Drs. 20/7757 v. 19.7.2023, S. 5
[16] Bundesministerium des Innern und für Heimat: Politisch Motivierte Kriminalität 2022, Berlin 2023, S. 8
[17] BT-Drs. 20/7522 v. 4.7.2023, Anlage 2
[18] Bundesministerium des Innern und für Heimat a.a.O. (Fn. 16), S. 14
[19] ebd, S. 24
[20] BT-Drs. 20/7460 v. 28.6.2023, S. 6
[21] Bundesamt für Verfassungsschutz: Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2018, S. 97
[22] Bundeskriminalamt: Politisch motivierte Kriminalität, https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Deliktsbereiche/PMK/pmk_node.html; ähnlich: Bundesamt für Verfassungsschutz a.a.O. (Fn. 21), S. 94
[23] Bundeskriminalamt a.a.O. (Fn. 22)
[24] BT-Drs.20/5883 v. 3.3.2023, S. 29-30
[25] Neuer Höchststand politisch motivierter Kriminalität a.a.O. (Fn. 1)

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