von Otto Diederichs und Norbert Pütter
Für das Jahr 2022 verzeichnet die offizielle Schusswaffengebrauchsstatistik der Innenministerkonferenz (IMK) insgesamt 54 Schüsse auf Menschen. 11 Personen wurden dadurch getötet. Das sind drei mehr als im Vorjahr. Rechtlich wurden diese Schüsse als Notwehr/Nothilfe bewertet. 41 Menschen wurden durch polizeilichen Schusswaffengebrauch verletzt.[1]
Als CILIP Mitte Mai erstmalig bei der IMK anfragte, um den aktuellen Stand der Statistik zu erfahren, hieß es, diese befinde sich noch in der Bearbeitung. Eine Antwort, wann mit der Fertigstellung zu rechnen sei, wäre aktuell nicht möglich, da man mit der Vorbereitung des anstehenden Treffens der Innenmister*innen in Berlin (14.-16.06.2023) „alle Hände voll zu tun“ habe. Nach dessen Beendigung wurde die Schusswaffenstatistik Ende Juni zugesandt – verbunden mit dem Hinweis, Anfragen vor Juni seien künftig sinnlos, da vorher keine Auskünfte möglich seien.[2]
Problemfall psychische Ausnahmesituationen
Im zurückliegenden Jahr wurden – den CILIP-Fallrecherchen zufolge – drei Männer mit psychischen Problemen erschossen (Fälle 2, 6, 9) und bei einem anderen liegt der Verdacht zumindest nahe (Fall 1). Im Jahr zuvor befanden sich drei (Fälle 4, 6, 7) von acht Getöteten in psychischen Ausnahmesituationen.[3] Über bei Polizeieinsätzen verletzten psychisch Erkrankten gibt es keine verlässlichen Zahlen. Das Problem ist nicht neu; CILIP weist seit geraumer Zeit darauf hin und fordert Konsequenzen für die Polizei(ausbildung).
Unterdessen konnte der Eindruck entstehen, das Problem sei bei den zuständigen Innenministerien angekommen. Einer der 95 (!) Tagesordnungspunkte der IMK beschäftigte sich mit dem „Umgang mit psychisch beeinträchtigten Menschen mit hohem Gewaltpotenzial im Zusammenhang mit Straftaten mit und ohne PMK-Bezug“ PMK = politisch motivierte Kriminalität). Im mittlerweile veröffentlichten Beschlussprotokoll wird an keiner Stelle der polizeiliche Schusswaffengebrauch erwähnt, sondern der Fokus liegt darauf, dass „vermehrt herausragende schwerste Gewaltstraftaten durch Personen mit psychischen Erkrankungen verübt“ würden. Dadurch sei ein „Handlungsdruck für die beteiligten behördlichen Strukturen in Bezug auf den Umgang mit diesen Menschen“ entstanden.[4] Beschlossen hat die IMK, die bestehende Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Früherkennung und Bedrohungsmanagement“ um Befassung mit dem Thema zu bitten und dabei die Gesundheitsbehörden zu beteiligen. In den Beratungen sollen „geeignete repressive sowie präventive Ansätze im Zusammenhang mit derartigen Vorkommnissen erarbeitet und Verbesserungsbedarf bei der Bearbeitung solcher Sachverhalte im Rahmen der Regelstrukturen der beteiligten Behörden, Institutionen und Organisationen in den Ländern geprüft werden.“ Unter den sieben Punkten, die die IMK „im Fokus“ der Arbeitsgruppe sehen möchte, nennt keiner den Schusswaffengebrauch oder die Gewaltanwendung durch Polizist*innen.
Die IMK erwartet den Bericht der Arbeitsgruppe zu ihrer nächsten Frühjahrssitzung. Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) hatte sich bereits vor der Sitzung zurückhaltend zu dem Vorschlag geäußert. Sein Ministerium arbeite bereits seit 2020 mit einem derartigen Projekt zusammen. Auch aus den Innenministerien Baden-Württembergs und Bayerns kam Skepsis.[5] Angesichts der tendenziellen Umdefinition des Problems durch die Innenministerien und deren Vielstimmigkeit sind in naher Zukunft wohl kaum Verbesserungen zu erwarten.
Andere Probleme
Besondere Resonanz in der Öffentlichkeit hat die Tötung des 16-jährigen Mohamed Lamine Dramé im Hof einer Jugendhilfeeinrichtung in Dortmund gefunden (Fall 6). Die Staatsanwaltschaft hat in der Zwischenzeit Anklage gegen den Todesschützen wegen Todschlags erhoben.[6] Wegen der Entrüstung, die dieser Fall hervorrief, hat das Innenministerium einen – zunächst als „Nur für den Dienstgebrauch“ klassifizierten – Bericht der Geschehnisse veröffentlicht.[7] Deutlich wird hier: Der 16-Jährige hockte allein auf dem Hof und drohte mit Suizid, indem er sich ein Messer an den Bauch hielt. Um ihn vor sich selbst zu retten, beschloss die Einsatzleitung, ihm Reizstoff ins Gesicht zu sprühen, damit er sich mit den Händen die Augen reibe, das Messer loslasse und festgenommen werden könne. Der Reizstoff zeigte jedoch nicht die gewünschte Wirkung. Der Angegriffene sprang auf und „bewegte sich schnell“ auf die Polizist*innen zu. Zwei Schüsse mit Tasern konnten diese Bewegung nicht stoppen. Der mit einer Maschinenpistole bewaffnete „Sicherungsbeamte“ schoss auf den Jugendlichen, fünf der sechs abgegebenen Schüsse trafen ihn. Aus dem Fall könnte gelernt werden: Warum wurden die mitgeführten Body-Cams nicht eingesetzt? Warum musste der Zugriff in dieser Situation erfolgen? Warum wurde das Eskalationsrisiko im Kauf genommen? Warum kam eine Maschinenpistole zum Einsatz? Das sind keine Fragen an den Schützen, sondern an die Institution, die solches Einsatzhandeln zulässt.
Sonstige Schüsse
Die Mehrzahl der Schüsse mit 15.554 wurde 2022 auf gefährliche, kranke oder verletzte Tiere abgeben. Auf Sachen wurde 53-mal geschossen; einer dieser Schüsse wurde als „unzulässig“ bewertet. 94 Schüsse wurden als unbeabsichtigte Schussauslösungen klassifiziert und neun als Signalschüsse. Erstaunlich hoch sind sieben unter „Selbsttötung/Selbstmordversuche“ von Polizist*innen verzeichnete Schussabgaben und ungewöhnlich sind auch zwei „noch nicht klassifizierte Fälle (Folgen)“. Da die Statistik lediglich nackte Zahlen beinhaltet, ist nicht mehr feststellbar, um welche Fälle es sich dabei handeln könnte.