von Norbert Pütter und Sonja John
Der polizeiliche Umgang mit Menschen, die sich in psychosozialen Krisen befinden, die psychische Probleme haben oder denen solche zugeschrieben werden, erfährt gegenwärtig eine hohe Aufmerksamkeit. Offenkundige Defizite im Einsatz sollen durch verbesserte Aus- und Fortbildungen beseitigt werden, ohne institutionelle Reformen. In der Kriminalitätsbekämpfung werden psychisch Auffällige zu einer neuen Gefährdergruppe erklärt, gegen die präventiv interveniert werden soll. Mit ihrer kriminalistischen Durchleuchtung nehmen die Stigmatisierung der Betroffenen und ihre Distanz zum Unterstützungssystem zu.
Die Ereignisse der jüngeren Vergangenheit haben die Beziehungen zwischen Menschen mit psychischen Problemen und Innerer Sicherheit in den Fokus öffentlicher Diskussionen, politischer und polizeilicher Aktivitäten gerückt. Mit „Ereignissen“ sind zum einen jene spektakulären Anschläge im öffentlichen Raum gemeint – Trier, Münster, Solingen, Magdeburg, Aschaffenburg –, die von Männern begangen wurden, die teils offenkundig, teils ärztlich diagnostiziert erhebliche psychische Probleme hatten. Zum anderen ist in den letzten Jahren deutlich geworden, dass es sich bei den Opfern polizeilichen Schusswaffengebrauchs im Rahmen alltäglicher (schutz-)polizeilicher Einsätze vermehrt um Menschen mit und in psychosozialen Krisen handelt.
Ob als Verursacher*in schwerster Straftaten gegen das Leben oder als Opfer polizeilicher Gewaltanwendung, die Frage steht im Raum: Wie geht die Polizei mit Menschen um, die psychische Probleme haben oder denen derartige Probleme zugeschrieben werden? Dabei darf als gesichert gelten, dass Polizist*innen im Einsatz häufig auf Menschen mit offenkundig psychischen Problemen stoßen. So gaben z. B. die 2012 befragten niedersächsischen Schutzpolizist*innen an, bei rund 20 % der von ihnen überprüften Personen „psychische Auffälligkeiten“ wahrgenommen zu haben. Rund zehn Jahre später berichteten 35 % der befragten Polizist*innen von Einsätzen mit „verhaltensauffälligen“ Personen mehrmals in der Woche. In der Wahrnehmung von Polizist*innen haben diese Einsätze in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen; eine exemplarische Aktenauswertung bestätigte diesen Eindruck.[1]
Auch zeigen kriminologische Untersuchungen, dass Menschen mit bestimmten psychischen Erkrankungen deutlich häufiger straffällig werden als psychisch Gesunde. Nach einer dänischen Untersuchung steigt das Risiko bei affektiven Psychosen (Depressionen, bipolare Störungen) auf das doppelte der Bevölkerung ohne entsprechende Diagnosen, bei Schizophrenie auf das 4,6-Fache und bei organischen Psychosen sogar auf das 8,8-Fache.[2] In verschiedenen europäischen Studien lag der Anteil der psychisch Kranken an den Männern, die Tötungsdelikte begangen hatten, zwischen 8 und 10 %.[3]
Epidemiologische Ausgangslage
Für die polizeiliche Konfrontation mit Personen in psychischen oder psychosozialen Krisen sind zwei Kontexte von unmittelbarer Bedeutung. Der erste betrifft das Gesundheitssystem. Denn unbestritten dürfte sein, dass behandlungsbedürftige Probleme zunächst in dessen Zuständigkeit fallen. Jene Zuspitzungen, die zu polizeilichen Einsätzen führen, sind deshalb ein Indiz für das Versagen der medizinisch-psychiatrisch-psychologischen Versorgung. Der zweite Kontext betrifft die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass psychosoziale Problemlagen zunehmen, die sozialen Ressourcen zu deren Bewältigung jedoch abnehmen.
Werden Daten aus dem ärztlich bestätigten Feld psychischer Erkrankungen zugrunde gelegt, so stieg die Zahl der wegen psychischer und Verhaltensstörungen behandelter Versicherten der gesetzlichen Krankversicherung (fast 90 % der Bevölkerung) auf knapp 28 Mio. Menschen im Jahr 2022; das entsprach einem Anteil von 38 %. Rund 14 % der Versicherten litten an Depressionen, fast 7 % an Angststörungen und knapp 1 % an Schizophrenie.[4] Diese Zahlen repräsentieren allerdings nur einen Ausschnitt psychischer Probleme (jenseits der 12 % der privatversicherten Bevölkerung). Denn Zahlen erfassen nur die Patient*innen aus der ambulanten kassenärztlichen Versorgung, die im ersten Schritt von den Hausärzt*innen, dann von den rund 5.300 niedergelassenen Fachärzt*innen (Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik) und den rund 6.000 ärztlichen und 34.000 psychologischen Psychotherapeut*innen behandelt werden sollen.[5] Nach einer Auswertung der Psychotherapeutenkammer mussten 2019 rund 40 % der Patient*innen zwischen drei und neun Monaten auf einen Behandlungsplatz warten; bei einer durchschnittlichen Wartezeit von fast fünf Monaten.[6] Unbekannt ist, wie viele ihren Behandlungswunsch nicht weiter verfolgten; unbekannt ist auch, inwiefern daraus zusätzliche Probleme (auch Sicherheitsprobleme?) resultierten.
Zum Gesamtbild der Versorgung gehört auch der stationäre und der Rehabilitationsbereich. Die Zahl der Krankenhausbetten wurde seit 1991 von 92.000 auf 62.000 reduziert. Zugleich sank die durchschnittliche Verweildauer von 70 auf 46 Tage (bei Kindern und Jugendlichen von 125 auf 35 Tage).[7] Die Rehabilitation dauerte bei psychischen Erkrankungen durchschnittlich zwischen 20 (ambulant) und 29 (stationär) Tagen.[8]
Bis auf wenige Ausnahmen ist die psychosoziale Versorgung in Deutschland nach dem Komm-Prinzip gestaltet, d. h. die Patient*innen müssen aktiv das System aufsuchen. Weil psychische Probleme weiterhin schambesetzt sind, weil die Eigeninitiative eine Schwelle darstellt, weil die Wartezeiten abschrecken, ist zu erwarten, dass psychische Probleme weit mehr als die o. g. 38 % der Bevölkerung betreffen. Die verkürzte Verweildauer in den Krankenhäusern könnte zudem darauf hindeuten, dass die Patient*innen zu früh entlassen werden und psychosoziale Probleme weiterhin bestehen.
In das medizinische Versorgungssystem gelangen weiter erfolgreich nur diejenigen, die die Krankheitsdefinitionen der „International Classification of Diseases“ (ICD-10) erfüllen. Bei den dort unter den Systemnummern F00-F99 gelisteten Krankheitsgruppen handelt es sich um eine Art „harten Kern“ psychischer Probleme, die aufgrund von Übereinkünften von Vor-, Neben- und anderen Formen psychosozialer Beeinträchtigungen getrennt sind. Insofern müssen die psychischen Verfassungen eher auf einem mehrdimensionalen Kontinuum und nicht als eine Dichotomie aus psychisch normalen (= gesunden) und psychisch kranken Zuständen vorgestellt werden.[9] Gewandelte gesellschaftliche Beziehungen (Individualisierung) und eine wachsende Sensibilität gegenüber „dem Psychischen“ führen zudem zu erhöhter Aufmerksamkeit und entsprechenden Zuschreibungen (Psychologisierung) – wobei gleichzeitig dem/der Einzelnen die Verantwortung für ihre/seine psychische Gesundheit überantwortet wird (Responsibilisierung), was den Druck auf die Einzelnen zusätzlich verstärkt. Wird diese erweiterte Sicht auf psychosoziale Krisen zugrunde gelegt, so treten die Zusammenhänge zwischen deren Entstehungsbedingungen und den zugleich abnehmenden Bewältigungsressourcen in den Blick. In exemplarischen Stichworten: kompetitive Strukturen bereits in den Grundschulen, Arbeitsverdichtungen in der Arbeitswelt, Vereinzelung und Vereinsamung, die neoliberale Kolonisierung der Lebenswelt, materielle und kulturelle Polarisierungen verbunden mit Abstiegs- und Ausgrenzungserfahrungen und -ängsten.
In dieser Perspektive erscheint polizeiliches Tätigwerden gegenüber Menschen in/mit psychosozialen Krisen Folge eines Defizits oder Vakuums: Weil andere versagen, wird die Polizei gefordert. Umgekehrt gilt aber auch: In dem Maße, wie der Polizei diese Probleme überantwortet werden und sie diese aktiv annimmt, werden gesundheitliche und soziale Probleme verpolizeilicht. Ein bekanntes Muster mit erwart- und beobachtbaren (Neben)Folgen.
Der polizeiliche Auftrag
Werden die rechtlichen Bestimmungen zugrunde gelegt, dann zeigt sich die nachrangige Zuständigkeit der Polizei gegenüber Menschen in psychosozialen Krisen.[10] Originär zuständig ist die Polizei nur dann, wenn eine Gefahr für die „öffentliche Sicherheit oder Ordnung“ vorliegt, d. h. ein geschütztes Rechtsgut unmittelbar gefährdet ist. Unter- bzw. außerhalb dieser Gefahrenschwelle sind andere Instanzen zuständig, namentlich die Gesundheits-, Aufsichts- und Ordnungsbehörden oder die Gerichte. Nur wenn diese Einrichtungen nicht erreichbar sind oder wenn sie gewaltfähiger Unterstützung bedürfen, ist die Polizei gefragt. Sie wird dann subsidiär zuständig oder im Rahmen der Vollzugshilfe tätig. In der Wirklichkeit erfolgt die Beschränkung nur teilweise. Zumindest für den Revier- und Streifendienst wird von keiner Seite bestritten, dass die Polizei zu vielfältigen alltäglichen Ärgernissen, Streitigkeiten und Konflikten nur deshalb gerufen wird, weil andere Behörden nicht erreichbar sind und die Bürger*innen sich nicht anders zu helfen wissen.[11] Dass Polizist*innen in ihren Alltagseinsätzen häufig auf Personen in psychosozialen Krisen stoßen, resultiert unmittelbar aus dieser Konstellation.[12] Die Häufigkeit ist mithin kein Indiz der Gefährlichkeit dieser Personen, sondern sie verweist auf die Mängel eines Hilfesystems, deren Bearbeitung mangels Alternativen bei der Polizei landet.
Aus- und Fortbildung
Für die Polizei galt und gilt der Umgang mit psychisch oder verhaltensausfälligen Personen durchweg als ein besonders problematischer Einsatzbereich. Weil diesem Personenkreis tendenziell Unberechenbarkeit und Gefährlichkeit unterstellt wird,[13] stellen sie besonders hohe Anforderungen an eine professionelle Einsatzgestaltung, die die „Verfassung“ des Gegenübers ebenso in Rechnung stellt wie den eigenen Schutz („Eigensicherung“).[14]
Darüber, wie Einsätze gestaltet werden sollten, in denen Menschen in psychischen Krisen erwartet werden (können), besteht ein großer Konsens unter den Expert*innen. Dabei wird übereinstimmend davor gewarnt, dass Polizist*innen Diagnosen erstellen; vielmehr müsse es darum gehen, auf psychisch auffällige Personen angemessen zu reagieren. Mit genauer Beobachtung des Gegenübers und – sofern vorhanden – unter Hinzuziehung polizeiinterner oder -externer Informationen könne eine verlässliche Risikoeinschätzung vorgenommen werden. Dabei seien „einige Essentials“ „grundsätzlich anzuraten“:
„- Verstärkung hinzuziehen …
– Große Distanz halten …
– Ausgänge nicht zustellen …
– Ruhig sprechen und Maßnahmen ankündigen …
– Langsam und ruhig bewegen …
– Erklären, weshalb man da ist, und dabei ehrlich sein …
– Hinhören, sich einfühlen, die Person ernst nehmen …
– Auf Symptome eingehen, aber klarmachen, dass man sie nicht teilt …
– Auswirkungen der Symptome erfragen und Möglichkeiten der Abhilfe
(„Arzt“; „Krankenhaus“) ansprechen …
– Grenzen setzen, ohne zu drohen …
– Erleichterungen (z. B. Hinsetzen; Wasser aus Plastikbecher) anbieten,
aber:
– Das polizeilich Erforderliche (z. B. Einweisung) ansprechen und
dabei das Positive („Hilfe erlangen“; „Ruhe finden“; „in Obhut
kommen“) herausstellen.“[15]
Angesichts des Konsenses der Expert*innen mangelt es also nicht am Wissen über angemessenes polizeiliches Vorgehen, sondern an dessen Umsetzung in der Praxis. Unsere Beiträge zur Arbeit der Beschwerdestellen und zu den polizeilichen Todesschüssen zeigen,[16] dass und mit welchen Folgen diese Empfehlungen missachtet werden. Regelmäßig wird in der Aus- und Fortbildung der Beamt*innen der entscheidende Hebel gesehen, um die praktischen Defizite zu verringern. Kaum eine Publikation zum Thema kommt ohne den Hinweis aus, wie nötig eine verbesserte Qualifikation des Personals ist[17] – und viele begnügen sich mit diesen Forderungen. Jene wenigen Bundesländer, die auf die Anfrage nach dem diesbezüglichen Stand der Aus- und Fortbildungen von „fragdenstaat.de“ antworteten, verweisen (zufrieden) auf die einschlägigen Inhalte in ihren Studiengängen und Ausbildungen.[18] Warum elf Innenministerien nicht antworteten, ist unklar. Vielleicht messen sie dem Thema keine Bedeutung bei oder vielleicht sehen sie sich so gut aufgestellt, dass sie eine Antwort für überflüssig hielten. Eine Reaktion aus Baden-Württemberg – das auf die genannte Anfrage nicht reagierte – deutet in diese Richtung: In seiner Stellungnahme auf einen Antrag der Grünen Landtagsfraktion betonte das Innenministerium die „große Bedeutung“, die die Polizei „dem Umgang mit psychisch auffälligen Personen“ beimesse; entsprechende Inhalte seien „daher sowohl in der Ausbildung und Fortbildung als auch im Einsatztraining seit Jahren ein fester Bestandteil“, der ständig überprüft, weiterentwickelt und ergänzt werde.[19]
Institutionelle Antworten?
Es ist offenkundig, dass mit dieser Ausrichtung auf die Qualifikation des Personals die Probleme auf die einzelnen Beamt*innen abgeschoben werden. Dass ein angemessener Umgang mit Menschen in psychosozialen Problemlagen davon abhängt, dass die institutionelle Rahmung von Interventionen verändert wird, gerät so in den Hintergrund. Der Mangel an institutionellen Antworten kann an drei Beispielen illustriert werden.
Erstens: In der deutschen Diskussion um das richtige polizeiliche Handeln wird immer wieder darauf hingewiesen, dass das Auftreten der Polizei die Lage verschärfen, gerade bei psychisch angeschlagenen Personen zu einer Eskalation führen kann.[20] So kann bei bestimmten Störungen bereits ein Auftreten in Uniform die Lage zuspitzen. Es liegt aber nicht im Ermessen der Polizist*innen, ob sie in Uniform oder in Zivilkleidung auftreten.[21] Diese Entscheidung muss im Rahmen der polizeilichen Einsatzplanung, der Vorhaltung von Personal, des strategischen Vorgehens etc. getroffen werden.
Zweitens: Als Reaktion auf die Erschießung von Mouhamed Dramé in Dortmund im August 2022 entwickelte das nordrhein-westfälische Innenministerium ein Konzept „Kompetenzen im Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen“, in dessen Zentrum die Ausweitung der verbindlichen jährlichen Fortbildungen von Polizist*innen von drei auf fünf Tage stand. An einer nachgeordneten Stelle wird die „Anpassung der Vorschriftenlage“ erwähnt. Namentlich erwähnt wird die Polizeidienstvorschrift (PDV) 350 „Vorschrift für den Wachdienst“, die erweitert worden sei im Hinblick auf die nötige „Sensibilisierung“ der Polizist*innen für die besondere Gefahrenlage sowie auf die „Bedeutung der fremdsprachigen Kommunikation“. „Es wird deutlich hervorgehoben“, so heißt es weiter, „dass die Sprache das wichtigste Mittel zur Erfüllung polizeilicher Aufgaben ist“.[22] In einem Beitrag des Westdeutschen Rundfunks wurde ein Ausbilder des „Landeamts für Ausbildung der Polizei“ deutlicher: Bislang sei der strategische Ansatz gewesen, „schnelle Entscheidungen zu treffen“, um die Gefahr zu beseitigen. Der neue Ansatz ziele hingegen darauf ab, sich „Zeit zu nehmen … empathisch zu sein … mit dem Menschen ins Gespräch zu kommen“.[23] Das betrifft zentral das Selbstverständnis einer Institution, die traditionell Einsätze möglichst schnell „abarbeitet“. Die PDV ist nicht öffentlich zugänglich („Nur für den Dienstgebrauch“); unklar ist, was der novellierte Text genau vorgibt und wie er die Praxis (und nicht nur die Fortbildung) verändern wird. Unbekannt ist auch, ob andere Bundesländer sich in diese Richtung bewegen.
Drittens: Polizist*innen sind psychologische, medizinische, psychiatrische Lai*innen. Sie müssen vielfältige Aufgaben in unterschiedlichsten Lebensbereichen im Kontakt mit verschiedenen Bevölkerungsgruppen bewältigen. Selbst bei optimaler Aus- und Fortbildung und veränderter Einsatzphilosophie ist zu erwarten, dass die Polizei im Umgang mit Menschen in psychosozialen Krisenlagen als Institution überfordert ist. Naheliegend wären deshalb Konzepte, die auf lokaler Ebene psychologische und medizinische Einrichtungen an Interventionen beteiligen bzw. diesen die Intervention überlassen. Gegenwärtig gilt als fortschrittlich, wenn es gelingt, im Rahmen der Aus- und Fortbildung einen „Trialog“ zwischen Polizei, medizinischen Versorgungseinrichtungen und (Angehörigen von) Betroffenen zu organisieren.[24] Dass versucht würde, Interventions-Netzwerke zu schaffen, ist nicht bekannt.
Feinderklärung und Stigmatisierung
Die Anschläge von Magdeburg und Aschaffenburg veränderten die Perspektive auf Menschen mit/in psychischen Krisen deutlich: Statt um die deeskalierende Situationsbewältigung im polizeilichen Alltag, geht es seither um die Früherkennung psychisch auffälliger potentieller Gewalttäter. Fünf Tage nach der Tat in Aschaffenburg beschloss die Innenministerkonferenz (IMK) in einer Sondersitzung u. a.:
„Um solche schweren Straftaten möglicherweise besser zu verhindern, müssen personenbezogene Verhaltensmuster und potentielle Risiken rechtzeitig erkannt, analysiert und bewertet werden. Die IMK ist sich einig, dass es hierzu eines gezielten und ganzheitlichen Ansatzes bedarf und eine bundesweite Vernetzung der Erkenntnisse zwischen Sicherheits-, Gesundheits-, Waffen- und ggf. Ausländerbehörden sichergestellt sein muss. … Ziel muss die frühzeitige Erkennung der Risikopotentiale bei psychisch Erkrankten, eine gemeinsame Risikobewertung und ein integriertes Risikomanagement sein. … Darüber hinaus ist zu prüfen, wie den Sicherheitsbehörden ein Zugriff auf gefährdungsrelevante Erkenntnisse zu psychisch Erkrankten bzw. eine Abfrage dieser Informationen ermöglicht werden kann.“[25]
Die „Vernetzung“, die bei der Bewältigung konkreter Gefährdungen niemand ernsthaft zu betreiben scheint, soll nun im großen Stil mit dem Ziel der Früherkennung betrieben werden. „Personenbezogene Verhaltensmuster“, „potentielle Risiken“, „Vernetzung der Erkenntnisse“, „Zugriff der Sicherheitsbehörden … auf gefährdungsrelevante Erkenntnisse zu psychisch Erkrankten“: Das ist ein Angriff auf den „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ und auf die ärztliche Schweigepflicht. In Nordrhein-Westfalen wird ein derartiges Modell unter dem Namen „PeRiskoP“ („Personen mit Risikopotenzial“) bereits seit 2021 betrieben;[26] das Hessische Innenministerium hat eine etwas kleiner angelegtes Projekt angekündigt.[27]
In der nordrhein-westfälischen Diskussion haben die Sozialpsychiatrischen Dienste auf die negativen Wirkungen von Vernetzung und Datenaustausch hingewiesen: Betroffene würden Beratungen (und damit den Zugang zu Hilfen) meiden, wenn sie den Eindruck gewinnen, dass ihre Probleme an die Polizei weitergegeben werden könnte.[28] Neben dieser in konkreten Fällen kontraproduktiven Wirkung präventiver Datenauswertung wirken die Vorhaben insgesamt stigmatisierend, weil sie Menschen mit psychischen Problemen einem generellen Verdacht der Gefährlichkeit aussetzen.
Mit den „psychisch Kranken“ ist offenkundig eine neue Gruppe entdeckt worden, die besonderer Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden bedarf. Bremens Innensenator Ulrich Mäurer plädierte nach der IMK-Sitzung für ein „Frühwarnsystem nicht nur für ‚Gefährder‘, sondern auch für Menschen, die psychisch auffällig sind und von denen eine Gefahr ausgeht“.[29] Schon im Dezember 2024 hatte die Frankfurter Allgemeine Zeitung an prominenter Stelle ein „geordnetes Monitoring“ für „psychisch auffällige Personen“ gefordert.[30] Regelmäßig wird in dieser Debatte unterschlagen, dass es längst eine datenmäßige Erfassung psychisch auffälliger und möglicherweise gefährlicher (oder gefährdeten) Personen gibt: Im Informationssystem der deutschen Polizei (Inpol) können sog. Personenbezogene Hinweise (PHW) vergeben werden, sofern diese zum Schutz der Person oder zur Eigensicherung von Polizist*innen erforderlich sind; s. den Kasten am Ende dieses Artikels. Bei den neuen Vorhaben geht es deshalb nicht um die polizeiliche Kontrolle Auffälliger, sondern um ein breit angelegtes Screening der gesamten als psychisch oder verhaltensauffällig in Erscheinung getretenen Population. Gegenüber der Öffentlichkeit wird mit diesen Programmen der Eindruck von Handlungsfähigkeit erzeugt gegenüber einer Verunsicherung, die von der eigenen Untätigkeit ausgeht. Neben der kontraproduktiven und stigmatisierenden Wirkung öffnet ein solcher Ansatz zukünftig nahezu beliebige Kontrolloptionen. Denn wer legt fest, welches Verhalten „auffällig“ ist und „gefährlich“ werden könnte?
Demokratische Alternativen
Auf den ersten Blick liegt es nahe, die Zuständigkeit für gesundheitliche Probleme den medizinischen Expert*innen zuzusprechen: Für Diagnose, Therapie und sonstige Konsequenzen (Arbeitsunfähigkeit etc.) sind die Instanzen des Gesundheitswesens zuständig (mit ihren spezifischen Handlungslogiken, aber das wäre ein anderes Thema). Das gilt für körperliche wie für psychische Probleme. Selbst in jenen Fällen, in denen Gefahren für die Allgemeinheit von Menschen in/mit psychosozialen Krisen ausgehen – seien es Ansteckungsgefahren bei körperlichen oder schädigenden Handlungen infolge psychischer Erkrankungen –, liegt die primäre Zuständigkeit bei den gesundheitlichen Expert*innen, geregelt in den Gesetzen zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten und den Gesetzen über die psychische Krankenhilfe. Sofern aus psychischen Beeinträchtigungen Gefahren für Dritte resultieren, wären die Einrichtungen der Beratung, Unterstützung und Hilfe auszubauen. Selbst da, wo die Verschränkung von psychischen Problemen und Straffälligkeit offenbar ist – im Maßregelvollzug –, zeigen die katastrophalen Zustände,[31] dass das staatliche Interesse an kausalen und nachhaltigen Interventionen gering ist. Dasselbe gilt für die psychotherapeutische Versorgung von Geflüchteten: Seit Jahren weisen Expert*innen auf den eklatanten Mangel an Beratungs- und Unterstützungsangeboten hin – bislang vergeblich.[32]
Die im Namen präventiver Sicherheitspolitik unter der Ägide der Polizei betriebene Durchleuchtung von Menschen mit bzw. in psychosozialen Krisen verstärkt deren Marginalisierung. Größere Distanz zum Beratungs- und Unterstützungssystem bei den Betroffenen sowie eine verallgemeinerte Gefährlichkeitszuschreibung in der Öffentlichkeit sind die naheliegenden Folgen. Gerade im Umgang mit psychischen Problemen käme es jedoch auf eine Kultur des Vertrauens, der Offenheit, von Verlässlichkeit und Empathie an.[33] Die Betroffenen trotz und mit ihren Problemen als handlungsfähige und selbstbestimmte Subjekte wahrzunehmen,[34] bedeutet deshalb auch, die Definitionsmacht der Expert*innen zu begrenzen und Formen der Selbsthilfe, der gegenseitigen Unterstützung und der niedrigschwelligen Hilfe zu stärken. Sofern der Traum von einer solidarischen Gesellschaft noch nicht geplatzt ist und solange die Produktionsbedingungen psychischer Krisen unverändert bleiben, versprechen die Hilfen im Kleinen für alle mehr Sicherheit als die Verdachtserklärungen im Großen.
Personenbezogene Hinweise (PHW)[35] Im Informationssystem der deutschen Polizei (INPOL) können „Personenbezogene Hinweise“ vermerkt werden, sofern dies „zum Schutz dieser Person oder zur Eigensicherung von Beamten erforderlich“ ist (§ 16 Abs. 6 BKAG). Es existieren bundesweit gebräuchliche PHW-Kategorien wie „Betäubungsmittelkonsument“ oder „gewalttätig“. Die Länderpolizeien können aber auch eigene PHW-Kategorien vergeben. Im Hinblick auf Menschen mit/in psychischen Problemlagen sind die PHW „Psychische und Verhaltensstörung“ (PSYV) und „Freitod-Gefahr“ (FREI) von unmittelbarer Bedeutung. Im BKA-Leitfaden zur Vergabe des PHW wird bestimmt, dass PSYV nur vergeben werden darf, wenn eine ärztliche Bescheinigung vorliegt, dass eine Person „an einer psychischen Erkrankung leidet und daraus Gefahren für ihn selbst oder andere, insbesondere Polizeibedienstete erfolgen können.“ Für den PHW FREI wird das Vorliegen von „Anhaltspunkten“ dafür verlangt, „dass der Betroffene den Freitod suchen könnte“ (etwa gestützt auf vorherige Suizidversuche). Auf Anfrage von „netzpolitik.org“, teilten das Bundeskriminalamt und die Länderpolizeien die Zahl der Datensätze mit den beiden PHW mit: Datensätze mit PHW auf „Psychische und Verhaltensstörung“ (PSYV) und „Freitod-Gefahr“ (FREI), Stand: Januar 2025
* Gesamtzahl für beide PHW Die Speicherung soll vornehmlich der Eigensicherung dienen, d. h. die Polizist*innen sollen durch Datenabfrage besser einschätzen können, mit welchen (zusätzlichen) Problemen sie im Einsatz rechnen können. Zugleich kann ein solcher Eintrag aber auch zu einer sensibleren Kontrollpraxis führen, wenn bei einer Personenüberprüfung PSYV angezeigt wird. |