CILIP Bürgerrechte & Polizei/CILIP 57 (2/97)

Kriminalität und Kriminalitätsfurcht

- Wo gehobelt wird, fallen Späne


 
von Otto Diederichs
 
"Deutsche fürchten um ihr Eigentum"; "Berliner fühlen sich unsicher"; "Bürger fühlen sich von Krimellen bedroht"; "Kieler leben gefährlich", lauten einige willkürlich aufgegriffene Schlagzeilen der letzten Jahre. Nimmt bzw. behält man die 'Polizeiliche Kriminalstatistik' (PKS) zum Maßstab für die Kriminalitätsentwicklung, wird man nicht umhin können, gemeinsam mit dem Chor aus Politik, Polizei und Presse in das Klagelied von der stetig steigenden Kriminalität einzustimmen, denn mit dem Instrument der PKS vermessen, wächst die Kriminalitätsbelastung in der Bundesrepublik nahezu kontinuierlich an und hat sich in den vergangenen 30 Jahren mehr als verdoppelt.(1) Auch wenn verschiedene Indizien für eine tatsächliche Steigerung von Kriminalität sprechen, ist der Trend doch weitaus weniger dramatisch als dies der Öffentlichkeit immer wieder suggeriert wird.(2)

Aus dem Anspruch, Leib, Leben und Eigentum seiner BürgerInnen zu schützen, leitet der moderne Staat einen Großteil seiner Legitimation ab. Die 'Innere Sicherheit' genießt deshalb bei den Parteien einen hohen Stellenwert und in der Diagnose sind sich alle einig: Kriminalität und Gewalt bedrohen die öffentliche Sicherheit. Wo es jedoch konkret werden müßte, herrscht im Regelfall eher Ratlosigkeit und der Ruf nach 'Mehr Grün auf die Straße' und/oder verstärkter Repression zur Abschreckung potentieller Täter.

Die Angst vor Kriminalität und die Wirklichkeit

Während die Rezepte der politisch Verantwortlichen im wesentlichen immer dieselben geblieben sind, ist die (angebliche) Bedrohung einem mehr oder weniger raschen Wechsel unterworfen: So galt z.B. der Politik in den siebziger Jahren noch der Linksterrorismus als die größte Herausforderung der inneren Sicherheit in der Bundesrepublik. Für jegliche Verschärfung des Strafrechts und der Erweiterung polizeilicher Befugnisse wurde eine Bedrohung durch die RAF herangezogen. Dennoch ermittelten Forschungsinstitute durch Umfragen im November 1977, auf dem Höhepunkt der bundesdeutschen Terroristenfahndung, daß sich lediglich 16% der Bevölkerung durch den Terrorismus unmittelbar bedroht fühlten.(3) Bestätigt wurde dieses Ergebnis durch eine andere, zeitgleich durchgeführte Erhebung, nach der 19% der Bevölkerung sich durch Terrorakte und Bombenanschläge bedroht fühlten, gefolgt von Einbruch und Bankraub mit ebenfalls 16% und der Angst vor Rockern, Schlägern und betrunkenen Autofahrern mit je 15%. Mit einer zweiten Frage sollte ermittelt werden, ob sich die BürgerInnen in ihrer unmittelbaren Wohngegend sicher fühlten; 87% der Befragten beantworteten dies mit einem klaren Ja.(4)

Ohne Zweifel ist die jeweilige Fragestellung für das Auskunftsverhalten der Befragten von großer Bedeutung; je mehr mögliche Gefahrenquellen z.B. in einer Frage bereits benannt werden, umso größer wird auch die Wahrscheinlichkeit, daß sich die Betreffenden in irgendeiner Weise bedroht fühlen. Dies mitbedenkend, steigerte sich den vorliegenden Erhebungen zufolge die Kriminalitätsfurcht der Deutschen von 1960 (ca. 43%) bis zum Jahr 1975 auf den bislang höchsten Wert von 51%; nahm danach bis 1990 jedoch wieder nahezu kontinuierlich bis auf 31% ab.(5) Nach der deutsch-deutschen Vereinigung steigerte sie sich bis 1993 danach wieder auf das Niveau von Mitte der achtziger Jahre (ca. 36%). Trotz gegenteiliger Presseverlautbarungen (6) haben sich bis zum Sommer 1995 danach keine wesentlichen Veränderungen mehr ergeben.(7)

Insbesondere in den Ländern der ehemaligen DDR hat die Furcht vor Kriminalität zugenommen. In erster Linie steht diese Entwicklung in unmittelbarem Zusammenhang mit den durch die 'Wende' verursachten sozialen Umbrüchen. Ebenso wie andere in der Ex-DDR weitgehend unbekannte soziale Probleme, etwa Arbeitslosigkeit, Armut etc., bildet die (vormals heruntergespielte bis totgeschwiegene) Kriminalität eines der Risiken des gesellschaftlichen Umbruches vom 'realen Sozialismus' in den westlichen Kapitalismus. Verschärfend kommt hinzu, daß dieser Umbruch zeitgleich auch die übrigen ehemals sozialistischen Staaten erfaßte und in diesem Gefolge die bis dato festgeschlossenen Ostgrenzen durchlässig machte. Das west-östliche Wohlstandsgefälle mußte in einer solchen Situation geradezu zwangsläufig auch Kriminelle aus Mittel- und Osteuropa in die Bundesrepublik und die anderen westlichen Anrainerstaaten (Skandinavien, Österreich, Italien) locken. Untersuchungen ergaben denn auch, daß sich das Ausmaß der Kriminalität in Ostdeutschland bereits im Herbst 1990 weitgehend auf Westniveau bewegte und sich spätestens im Frühjahr 1991 endgültig angeglichen hatte.(8) Die Furcht vor Kriminalität hatte in den neuen Bundesländern 1991 ihren Höhepunkt erreicht; sie hat danach nicht mehr gravierend zugenommen. Bis zum Frühjahr 1991 war der Anstieg insbesondere in den Großstädten Berlin (Ost), Leipzig und Dresden beträchtlich, ging ab 1993 jedoch wieder zurück. Zugleich nahm das Unsicherheitsgefühl aber in den Städten bis 500.000 EinwohnerInnen z.T. erheblich zu. (9) Der tatsächlichen Situation, wonach insbesondere Metropolen ungleich stärker kriminalitätsbelastet sind als Kleinstädte oder mittlere Großstädte, läuft eine solche Entwicklung völlig konträr. Bedenkt man zugleich, daß die Kriminalitätsfurcht in den neuen Bundesländern in den Jahren 1991 bis 1993 - bei weitgehend gleichen Opferzahlen - teilweise doppelt so hoch war wie in den Alt-Bundesländern,(10) so ist zu vermuten, daß im Wechselspiel zwischen Bedrohung und Bedrohungsfurcht die Medienberichterstattung von erheblicher Bedeutung sein dürfte.

Politisch-publizistischer Verstärkerkreislauf

Unabhängig von einer (mutmaßlichen) unmittelbaren Wirkung, die Kriminalitätsberichterstattung auf den oder die einzelnen Menschen hat, gibt es einen in sich geschlossenen Kreislauf der Furchtvermarktung zwischen Medien und Politik: Was heute für Medien berichtenswerte Nachrichten sind, wird von Politik und Polizei nur zu gern aufgegriffen und in Handlungsbedarf umformuliert. Mit der Ankündigung eines solchen Bedarfes (ebenso wie mit evtl. Nicht-Handeln) läutet sich die nächste Runde in den Medien dann fast von selbst ein. Aktuelle Beispiele sind die nicht enden wollende Debatte um organisierte Kriminalität und die Forderung nach Einführung des 'Großen Lauschangriffs'.Der Hamburger Kriminologe Sebastian Scheerer hat dieses Phänomen bereits 1978 als "politisch-publizistischen Verstärkerkreislauf" identifiziert.(11)

Eine 1989 von einer internationalen Arbeitsgruppe in 15 verschiedenen Ländern durchgeführte vergleichende Untersuchung zur Kriminalitätsangst (12) ergab u.a., daß bei der Bevölkerung der Bundesrepublik die Angst, Opfer einer Straftat zu werden, am stärksten ausgeprägt war. Zugleich ergab die Befragung jedoch auch, daß diese Angst unbegründet ist, da die Gefahren keineswegs höher waren als in den Vergleichsländern.(13)
Angst ist immer auch ein sehr subjektives Phänomen, von dem nicht alle Bevölkerungskreise in gleicher Weise betroffen sind. So fühlen sich z.B. besonders Frauen und ältere Menschen in Großstädten (und in erster Linie abends) unsicher, obwohl sie im Kriminalitätsvergleich die geringsten Opferzahlen aufweisen.(14)
Dennoch ist der Rückgang an (offiziell erfaßter) Angst in den Jahren 1975 bis 1990 in der Alt-Bundesrepublik in erster Linie auf die Emanzipationsbestrebungen der jüngeren Frauen
zurückzuführen; bei den Männern ist das Niveau über die Jahre im wesentlichen gleich geblieben.(15) (Ebenso interessant wie überraschend ist in diesem Zusammenhang, daß in den neuen Bundesländern im Gegensatz zur Alt-Bundesrepublik bei den AnhängerInnen und WählerInnen von BÜNDNIS 90/GRÜNE und PDS die Kriminalitätsfurcht stärker ausgeprägt ist als bei den eher konservativen Wählergruppen).(16)

Nach mehr als zwanzig Jahren Erfahrung mit Krisen-, Kriminalitäts- und Gewaltszenarien sind die BürgerInnen der Bundesrepublik an diesem Punkt zwar weitgehend abgeklärt, ohne damit jedoch zugleich gegen die verschiedenen 'Krisen-Konjunkturen', die ihnen angeboten werden, immun zu sein. Demgegenüber haben es die KritikerInnen der instrumentalisierten Furcht meist schwer, sich Gehör zu verschaffen. "Der Kritik, die das gesellschaftlich Konstruierte und Dramatisierende von Sicherheits- und Moral-Paniken herausarbeiten will", so die Soziologin Helga Cremer-Schäfer, "wird gerne wahlweise eine romantische oder unverantwortliche Haltung vorgehalten, die die realen, erlittenen Schäden negiere. Das Problem der gesellschaftlich organisierten Darbietung von 'Kriminalitätsgefahren' und 'Sicherheitsbedrohungen' liegt darin, daß durch eine inzwischen mehr als 20jährige Dramatisierung, nicht einmal mehr ein Wissen verfügbar ist, auf welche Probleme Kriminalitätsverhältnisse (oder auch Kriminalitätsstatistiken) hinweisen".(17) Aus diesem verlorengegangenen Wissen, so Cremer-Schäfer weiter, sei unterdessen die Unterstellung entstanden, die erfaßte Entwicklung von Kriminalität bzw. deren Bekämpfung, bestimme den moralischen Wert einer Gesellschaft, während die bestehende Ordnung unhinterfragt als richtig angesehen werde.

Modell New York?

Wie richtig diese These offenbar ist, zeigt sich gegenwärtig besonders deutlich: Seit einiger Zeit pilgern deutsche Sicherheitsverantwortliche scharenweise nach New York. Die einstige 'Hauptstadt des Verbrechens' gilt heute wieder als eine sichere Stadt. Als Initiator dieses 'Wunders' gilt der frühere Polizeipräsident William Bratton. Nach seinem Amtsantritt entfesselte er eine Law-and-Order-Kampagne ohne Beispiel. In knapp zwei Jahren brachte er die Stadt "wieder in Ordnung. Im kleinen wie im großen räumte er auf. Seit 1994, als er sein Amt antrat, ist nicht nur die Zahl der Schwarzfahrer um 80% gesunken, sondern auch die Zahl der Morde um fast die Hälfte".(18) Seit seinem Hinauswurf 1996 (wegen Rivalitäten um die 'Vaterschaft' dieses Erfolges mit New Yorks Bürgermeisters Rudolph Giuliani) ist er Chef der von ihm gegründeten 'First Security Consulting' und vermarket seine Methode. 'High Performance Policing' wird dessen ungeachtet von seinem Nachfolger fortgesetzt. 38.000 Uniformierte hat das 'New York Police Department' (NYPD) gegenwärtig (die Kriminalpolizei nicht mitgezählt), was umgerechnet einen Cop auf weniger als 200 EinwohnerInnen ergibt.(19) Ihre Aufgabe besteht zum Teil in schlichter Präsenz in der Öffentlichkeit, durch die potentielle Straftäter abgeschreckt werden sollen. 'Mehr Grün auf die Straße' heißt diese zwar wenig effektive aber auch bei deutschen PolitikerInnen aller Parteien beliebte Methode. Die andere, weitaus problematischere Seite von Brattons Policing-Methode ist das 'Schrotschußprinzip': Gnadenlos werden auch sogenannte 'quality of life crimes' wie das Sprühen von Graffitis, aggressives Betteln, Abspielen lauter Musik, Schwarzfahren, Radfahren auf dem Bürgersteig u.ä. verfolgt. Neuerdings hat auch der eine Geldstrafe zu erwarten, der in einer leeren U-Bahn zwei Sitzplätze belegt. Laut einer Umfrage der 'New York Times' halten dennoch 54% der New YorkerInnen die Arbeit ihrer Polizei für gut oder sogar für ausgezeichnet.(20) Übersehen wird dabei allerdings, daß die Kriminalitätsrate nicht erst mit dem Dienstantritt Brattons gesunken ist. Von 1990 bis 1994 fiel sie bereits von 9.663 Straftaten je 100.000 Einwohner auf 8.232.(21) Auslöser hierfür ist das amerikanische 'Jobwunder', das in den frühen 90er Jahren einsetzte. (22) Mit harter Hand wurde also lediglich ein Trend, der in starkem Maße auf wirtschaftlichen Veränderungen gründet, publikumswirksam (selbst bis in deutsche Sicherheitsetagen hinein) in Szene gesetzt. Auf der Strecke bleiben in solchen Fällen immer die bürgerlichen Freiheitsrechte.

Deutsche Sicherheitsexperten jedenfalls sind begeistert,(23) und so ist zu befürchten, daß das 'Modell New York' auch in der Bundesrepublik in der einen oder anderen Form Eingang in Sicherheitsphilosophien und Anklang bei der Bevölkerung finden wird. So wird dann wohl der Straftrechtler und heutige Verfassungsrichter Winfried Hassemer recht behalten, der bereits 1995 davor warnte, daß mangelnde Orientierung durch "markige Entschlossenheit" ersetzt werde. Straftatbestände und Sanktionen würden nicht mehr sorgfältig ausgearbeitet, sondern nur noch gehobelt. "Die Späne, die dabei fallen, stammen aus den Grundrechten: Freiheit, Privatheit, Kommunikation, Wohnung, Eigentum."(24)

 
 

Otto Diederichs ist Redakteur und Mitherausgeber von Bürgerrechte & Polizei/CILIP; freier Journalist in Berlin
 
Anmerkungen
(1) vgl. Reuband, Karl-Heinz, Veränderungen in der Kriminalitätsfurcht der Bundesbürger 1965-1993, in: Kaiser, Günther/Jehle, Jörg-Martin (Hg.), Kriminologische Opferforschung, Kriminalistik Verlag 1995, S. 37ff.
(2) Ebd.
(3) Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 10.11.77
(4) Ebd.
(5) Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 2/93, S. 65ff.
(6) vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 15.11.93; Berliner Zeitung v. 15.11.93; die tageszeitung v. 19.1.95; Der Tagesspiegel v. 4.1.96
(7) Pressemitteilung der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Juristische Fakultät - Institut für Kriminologie v. 28.9.95
(8) Neue Kriminalpolitik 2/94, S. 27
(9) Ebd., S. 28
(10) Ebd.
(11) Kriminologisches Journal 10/78, S. 223ff.
(12) van Dijk, Jan J.M./Mayhew, Pat/Killias, Martin, Experiences of Crime across the World. Key findings from the 1989 International Crime Survey, Deventer-Boston, 1990
(13) Süddeutsche Zeitung v. 1.4.90; vgl. auch: Die Streife 3/95
(14) Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 2/93, S. 79
(15) Ebd., S. 65ff.
(16) Neue Kriminalpolitik 2/94, S. 30
(17) Cremer-Schäfer, Helga, Was sichert Sicherheitspolitik?, in: Kampmeyer, Eva/Neumeyer, Jürgen (Hg.), Innere Unsicherheit, AG SPAK Bücher, 1993, S. 13ff.
(18) Der Spiegel v. 7.7.97
(19) Der Spiegel v. 14.7.97
(20) Der Spiegel v. 14.7.97
(21) Der Spiegel v. 7.7.97
(22) die tageszeitung v. 11.7.97; Der Spiegel v. 21.7.97
(23) Der Spiegel v. 7.797; Berliner Zeitung v. 22.7.97; Berliner Morgenpost v. 28.7.97
(24) Frankfurter Rundschau v. 25.3.95

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HTML-Auszeichnung: Martina Kant - 05.09.1997