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Polizeilicher Schußwaffengebrauch

Eine statistische Übersicht



von Norbert Pütter
 

Der Gebrauch von Schußwaffen durch die Polizei ist eine der extremsten Formen legaler staatlicher Gewaltanwendung. Wegen seiner Gefährlichkeit ist der Schußwaffengebrauch besonderen rechtlichen Regulierungen unterworfen. Über deren Wirkungen und die Realität polizeilichen Schießens geben die amtlichen Statistiken jedoch nur unzureichend Auskunft.

Die Polizeigesetze bzw. die Gesetze über die Anwendung unmittelbaren Zwangs erlauben den Einsatz von Schußwaffen nur unter bestimmten Voraussetzungen. Nach den Formulierungen des „Musterentwurfs für ein einheitliches Polizeigesetz des Bundes und der Länder“, an denen sich die einzelnen (Landes-)Gesetze orientieren, ist der polizeiliche Gebrauch von Schußwaffen grundsätzlich nur erlaubt, wenn andere Formen des unmittelbaren Zwangs nicht zum Erfolg geführt haben oder keinen Erfolg versprechen. Auf Personen zu schießen, ist nur dann zulässig,[1]

  • wenn der Zweck des Einsatzes nicht durch Schüsse auf Sachen erreicht werden kann,
  • wenn eine gegenwärtige Gefahr für Leib und Leben abgewehrt werden soll (nur in diesem Fall ist auch das Schießen auf Kinder und auf Personen in einer Menschenmenge erlaubt),
  • wenn ein unmittelbar bevorstehendes Verbrechen oder ein Vergehen unter Anwendung oder Mitführung von Schußwaffen oder Explosivmitteln (sog. „gleichgestellte Vergehen“) verhindert werden soll,
  • wenn sich eine eines Verbrechens oder „gleichgestellten Vergehens“ verdächtige Person der Festnahme oder Identitätsfeststellung zu entziehen versucht,
  • wenn ein Verdächtiger festgenommen oder dessen Flucht vereitelt werden soll,
  • wenn die gewaltsame Befreiung einer Person aus amtlichem Gewahrsam verhindert werden soll.
  • Grundsätzlich darf die Polizei auf Personen nur schießen, um sie angriffs- oder fluchtunfähig zu machen. Der „finale Rettungsschuß“ („ein mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tödlich“ wirkender Schuß) ist nur unter engen Bedingungen (gegenwärtige Lebensgefahr ...) zulässig. Der „finale Rettungsschuß“ ist nicht in allen Polizeigesetzen legalisiert.

Neben diesen Spezialermächtigungen wird polizeiliche Gewaltanwendung auch auf die Notwehr- und Nothilfeparagraphen des Strafgesetzbuches (§§ 32-34 StGB) gestützt. Inwiefern diese „Jedermann-Rechte“ hoheitliches Handeln begründen können, ist juristisch umstritten. Die Mehrheit ist der Auffassung, daß diese Bestimmungen zwar keine Ermächtigungsnorm darstellen, sie aber vollzogenes staatliches Handeln rechtfertigen können.[2]

Schußwaffengebrauch im Überblick

Seit 1976 erstellt die Polizei-Führungsakademie im Auftrag der Innenministerkonferenz jährliche Statistiken über den Schußwaffengebrauch, indem die Meldungen der Bundesländer und des Bundes zusammengefaßt werden. Für die Erfassungsmodalitäten ist bedeutsam, daß seit 1983 nur noch solche Schüsse erfaßt werden, die Polizistinnen oder Polizisten im Rahmen ihrer dienstlichen Aufgaben absichtlich abgeben. D.h. in den offiziellen Zahlen wird weder der „private“ Gebrauch von Dienstwaffen registriert noch der, der sich während des Dienstes unbeabsichtigt ereignete. Der Ausschluß unbeabsichtigter Schußabgaben schränkt den Aussagewert der Statistik ein. Er eröffnet nicht nur in quantitativer Hinsicht ein Dunkelfeld, er eröffnet zugleich auch einen Spielraum, in dem alle jene Fälle, die rechtlich nicht zu rechtfertigen sind, als Unfälle deklariert werden können.
Die Zahlen der IMK-Statistik für die letzten 10 Jahre sind in Tabelle 1 zusammengestellt. Erfaßt werden die Schüsse insgesamt (2. Spalte), die Schüsse zum Töten gefährlicher, kranker oder verletzter Tiere oder auf Sachen[3] (3. Spalte) sowie diejenigen Polizeischüsse, bei denen die rechtlichen Voraussetzungen für einen gezielten Schuß auf Personen vorlagen (4. bis 6. Spalte). Diese Schüsse wurden entweder als Warnschüsse abgegeben (Spalte 4), oder es wurde auf Personen (Spalte 5) oder Sachen (Spalte 6) geschossen. Während diese letzte Spalte z.B. solche Fälle erfaßt, bei denen auf das Fahrzeug eines Flüchtenden geschossen wurde, werden etwa Schüsse zum Öffnen einer Wohnungstür in Spalte 3 gezählt.

Tab. 1: Polizeilicher Schußwaffengebrauch 1988-1997

Jahr Schüsse
insgesamt
Schüsse auf Tiere oder Sachen
Schußwaffengebrauch gegen Personen
Warnschüsse Gegen Personen Gegen Sachen
1988 2056 1841 114 56 45
1989 1918 1709 102 59 48
1990 2006 1754 162 52 38
1991 2359 1873 271 114 101
1992 2261 1670 315 131 145
1993 2369 1854 307 101 107
1994 2363 1916 268 95 84
1995 2368 1964 221 119 64
1996 2595 2304 163 79 49
1997 2657 2379 172 60 47

Quelle: IMK-Statistik

Nur hinsichtlich der Zahl der insgesamt abgegebenen Schüsse und der Schüsse auf „Tiere und Sachen“ läßt sich eine eindeutige Entwicklung feststellen: D.h. die nahezu kontinuierliche Steigerung der Gesamtzahlen ist darauf zurückzuführen, daß mehr auf „Tiere und Sachen“ geschossen wurde. Der Schußwaffengebrauch gegen Personen zeigt keine einheitliche Tendenz. Auffallend ist die Steigerung Anfang der 90er Jahre in allen drei Rubriken. Auch für die 70er Jahre weisen die IMK-Zahlen entsprechende Varianzen auf: 1977 schoß die deutsche Polizei 236 Mal gezielt auf Personen oder Sachen, 1983 142 Mal.[4] Wovon diese Schwankungen abhängen, ist unbekannt.
Neben der Anzahl der Polizeischüsse interessieren zwei Fragen: Wann, d.h. in welchen Situationen schießen PolizistInnen? Und: Welche Folgen hat der Schußwaffengebrauch? Die IMK-Statistik gibt auf beide Fragen nur unzureichende Antworten. Die Situationen, in denen die Polizei in Deutschland schießt, werden ansatzweise in der rechtlichen Bewertung der Schüsse deutlich. Die entsprechenden Angaben sind in Tabelle 2 zusammengefaßt. Ohne die Schüsse auf Tiere und Sachen sowie ohne die Warnschüsse schoß die Polizei in den letzten 10 Jahren 1.593 Mal gezielt auf Personen oder Sachen. An der rechtlichen Zuordnung der Schüsse ist auffallend, daß in mehr als der Hälfte der Fälle die „Jedermann-Rechte“ des Strafgesetzbuches und nicht die engeren polizeirechtlichen Ermächtigungen zugrunde gelegt wurden.
Über den genaueren situativen Kontext, in dem es zu Polizeischüssen kam, erlauben diese Zahlen keine Aussagen: Die Umstände von Fluchtversuchen können so verschieden sein wie die Delikte, wegen derer eine Person flüchtet; auch Notwehr- oder Nothilfesituationen können sich erheblich unterscheiden. Da nur statistische Angaben aufbereitet und veröffentlicht werden, bleiben die Situationen polizeilichen Schußwaffengebrauchs insgesamt unbekannt.
Die Statistiken weisen auch die Folgen der Polizeischüsse aus. In den Jahren von 1988 bis 1997 wurden nach der IMK-Zählung 109 Personen durch Polizistinnen oder Polizisten getötet, 597 Menschen wurden verletzt. Während neun der Verletzten Unbeteiligte waren, wurden durch Polizeikugeln in diesen zehn Jahren keine Unbeteiligten getötet. Als „Beteiligte“ gelten in der polizeilichen Zählung nicht allein jene Personen, denen der Polizeieinsatz galt. So starben in den Jahren 1990,[5] 1993[6] und 1994[7] drei (verdeckt) eingesetzte Polizisten durch Schüsse ihrer KollegInnen. Obwohl keine Daten dazu vorliegen, ist zu vermuten, daß auch die „beteiligten Verletzten“ nicht identisch mit den Zielpersonen sind.

Tab. 2: Polizeilicher Schußwaffengebrauch: Rechtliche Zuordnung

Jahr Notwehr/ Nothilfe Verhinderung von Verbrechen und „gleichgestellter Vergehen“ Fluchtvereitelung bei Verdacht eines Verbrechens od. „gleichgestellten Vergehens“ Fluchtvereitelung von Gefangenen Verhinderung gewaltsamer Gefangenen-
befreiung
Gegen Person in einer Menschenmenge, aus der ...
  S P S P S P S P P P
1988 9 34 7 7 29 12   3    
1989 17 47 5 3 21 7 5 2    
1990 11 41 2 5 24 5 1 1    
1991 25 71 18 18 57 23 1     2
1992 53 72 19 7 72 50 1 2    
1993 45 61 5 11 56 26 1 2 1  
1994 22 60 7 11 55 24        
1995 38 66 3 21 23 29   3    
1996 29 48 5 7 24 22   1 1  
1997 29 37 2 12 15 10   1    
Ges. 269 537 73 102 376 208 9 15    
Ges. 806 175 584 24 2 2

S = Sachen    P = Personen

Quelle: IMK-Statistik
 

Polizeiliche Todesschüsse

Seit 1976 dokumentiert CILIP die polizeilichen Todesschüsse. Drei Merkmale unterscheiden unsere Zählung von der der IMK:

  • Wir erhalten unsere Meldungen nicht von den Innenverwaltungen, sondern werten die Tagespresse aus; das führt dazu, daß manche Fälle von uns nicht registriert werden (können).
  • Wir zählen auch die sogenannten unbeabsichtigten Schüsse, die in der offiziellen Statistik fehlen. „Privaten“ Gebrauch der Dienstwaffe zählen wir in der Regel nicht. In den letzten 10 Jahren gab es nur einen Fall, der in diese Kategorie fällt, und den wir dennoch aufnahmen: Ein Polizist arbeitete nebenberuflich in einer Tankstelle, diese wurde überfallen, und der Polizist erschoß den Täter.[8]
  • Wir veröffentlichen eine kurze Schilderung der situativen Umstände des Todesschusses.
In Tabelle 3 sind die uns bekannten polizeilichen Todesschüsse zusammengefaßt und nach Bundesländern aufgeschlüsselt. Die Angabe des Bundeslandes bezieht sich auf den Ort, an dem der tödliche Schuß fiel, und nicht auf die Polizei, der der Schütze angehörte. Zusätzlich zu den in der Tabelle verzeichneten gab es 1990 drei Tote durch Polizeischüsse in den neuen Bundesländern.
Ähnlich wie der Schußwaffengebrauch allgemein zeigt auch die Zahl der jährlichen Todesschüsse erhebliche Schwankungen; dabei stimmen die „Konjunkturen“ nicht überein: Von den 215 Schüssen auf Personen oder Sachen waren 1991 9 tödlich; durch 107 Polizeischüsse 1997 starben 10 Menschen (nach IMK-Zählung).
Vergleicht man die beiden vergangenen Jahrzehnte, dann zeigen sich kaum Änderungen. Die Gesamtzahl ist nahezu gleich geblieben; in Bayern und Nordrhein-Westfalen fällt fast die Hälfte aller Todesschüsse; Hessen und Baden-Württemberg folgen mit einigem Abstand. Auffällig ist allenfalls, daß - wie auch beim polizeilichen Schußwaffengebrauch allgemein - das Wachstum der Bundesrepublik um die neuen Länder quantitativ nicht ins Gewicht fällt.
In Tabelle 4 ist die rechtliche Zuordnung der Todesschüsse durch die IMK-Statistik wiedergegeben. Zum Vergleich sind in der zweiten Spalte die Zahlen nach CILIP-Zählung genannt. Daraus ergibt sich, daß fast 10% der tödlichen Polizeischüsse in der offiziellen Statistik nicht berücksichtigt werden. Die polizeilichen Spezialrechte scheinen auch für den polizeilichen Todesschuß nur eine nachgeordnete Rolle zu spielen: In den letzten 10 Jahren fiel kein tödlicher Schuß bei einem Fluchtversuch, einer Gefangenenbefreiung oder gegen eine Menschenmenge. 25 Mal erschoß die Polizei Personen, um eine Straftat oder die Flucht eines Verdächtigen zu verhindern. In den weitaus häufigsten Fällen wurde jedoch zur rechtlichen Rechtfertigung der tödlichen Schüsse auf die „Jedermann-Rechte“ der Notwehr oder Nothilfe zurückgegriffen.

Tab. 3: Polizeiliche Todesschüsse in der BRD 1976-1997

Jahr Ges.
 
Dok.
in
CILIP
BW BY BE BB HB HH HE MV NI NW RP SL SN ST SH TH
1976 8 6 1         1 3     1            
1977 17 15 1 2 2       3   2 4 1          
1978 8 8   1       1 3   1 2            
1979 11 11   5 2     1     1 2            
1980 16 13   2 3   1   1   1 3 1 1        
1981 17 13 1 5 2             3 1 1        
1982 11 10 1   1       5     3            
1983 24 21 2 4       3 3     9            
1984 6 6 1 2       1     1 1            
1985 10 9 2 1 1           1 3   1        
1986 12 12 1 7         1   2           1  
1987 7 3   1               1         1  
1988 8 8 1 2       1 2     2            
1989 10 10 2 3         2     2 1          
1990 10 10 1 4 1   1   1   1 1            
1991 9 9 1 1         2 1 1 2     1      
1992 12 10 1         1 2 1   4       1    
1993 16 15 1 4   1   3   1   1 1     2   1
1994 10 10   2 1 2     3   1 1            
1995 21 20 1 3 2     1 1   2 5 2          
1996 10 10 1 5               4            
1997 12 12 3 4 1 1 1   2                  
1978
-
1987

122

106
 
28

9
 
1

6

13
 
7

27

2

3
   
2
 
1988
-
1997

118

114

12

28

5

4

2

6

15

3

5

22

4
 
1

4

1

2
1976
-
1997

265

241

22

58

16

4

3

13

34

3

14

54

7

3

1

4

3

2

Quelle: CILIP-Jahresstatistiken
 

Tab. 4: Polizeiliche Todesschüsse: Rechtliche Zuordnung

Jahr Gesamtzahl lt.
CILIP-
Zählung
IMK-Statistik
Gesamtzahl davon
Notwehr/ Nothilfe
davon
Verhinderung von Verbrechen oder gleichgestellten Vergehen“
davon
Fluchtvereitelung bei Verdacht eines Verbrechens oder eines „gleichgestellten Vergehens“
1988 8 7 4 1 2
1989 10 9 7   2
1990 10 10 6 2 2
1991 9 9 7 2  
1992 12 12 9   3
1993 16 16 11   5
1994 10 8 7   1
1995 21 19 16 3  
1996 10 9 7   2
1997 12 10 10    
Ges. 118 109 84 8 17

Quelle: IMK-Statistiken (außer 2. Spalte)

Aufgrund unserer Zeitungsauswertung lassen sich die Situationen, in denen es zum tödlichen Schußwaffeneinsatz kommt, genauer bestimmen. Wir haben die Todesschüsse des letzten Jahrzehnts nach unterschiedlichen Anlässen des Polizeieinsatzes in Tabelle 5 aufgelistet.[9] Die Kategorien bedeuten im einzelnen:

  • „Familienstreitigkeiten; Geisteskranke; Randalierer; Ruhestörung“: Die Polizei wird zu einem eher alltäglichen Ereignis gerufen. Beim Eintreffen der Polizei eskaliert die Situation; es fällt der tödliche Schuß.
  • „Geiselnahme“: Eine Geiselnahme wird durch Schußwaffeneinsatz beendet.
  • „Routine-Verkehrskontrolle; Kontrollstelle“: Bei einer nicht gezielten (zufälligen) Verkehrskontrolle kommt es zum Todesschuß.
  • „Initiativ-Festnahme; Initiativ-Kontrolle“: Durch Zufall werden Polizisten auf einen Verdächtigen oder auf jemanden, der gerade eine Straftat begeht, aufmerksam. Zum tödlichen Schuß kommt es, als sie einschreiten.
  • „Ad-hoc-Straftatenvereitelung“: Es handelt sich um Fälle, in denen die Polizei gerufen wird, während eine Straftat verübt wird. Zu dieser Sammelkategorie gehören sehr unterschiedliche Situationen.
  • „Fluchtversuch“: Der Todesschuß fällt, um die Flucht eines Straftäters zu verhindern.
  • „Vorbereitete Festnahme“: Im Rahmen einer geplanten Polizeiaktion soll ein Verdächtiger festgenommen werden.
Die Tabelle läßt nur vorsichtige Schlußfolgerungen über die Situationen zu, in denen es zu tödlichen Polizeischüssen kommt. Insgesamt kann man feststellen, daß die Todesschüsse keineswegs auf Fälle schwerer Kriminalität beschränkt sind; jeweils 10% ereignen sich im Rahmen von alltäglichen Einsätzen oder bei zufälligen Kontrollen. Während die meisten Schüsse in Situationen fallen, in denen sich die Polizei nicht auf entsprechende Situationen vorbereiten konnte, wurden immerhin 19 Menschen bei vorbereiteten Polizeiaktionen erschossen: 14 im Rahmen von Festnahmeversuchen, 5 durch „finale Rettungsschüsse“. (Nach unserer Zählung waren von den für die Jahre 1976 bis 1997 von CILIP dokumentierten 241 Fälle lediglich 11 gezielte Todesschüsse.)
Auch andere Indikatoren deuten darauf hin, daß polizeiliche Todesschüsse in eher polizeialltäglichen Situationen entstehen: In 17 der 114 dokumentierten Fälle wurde der tödliche Schuß von einem Mitglied eines Sondereinsatzkommandos abgegeben (in den zehn Jahren davor war das Verhältnis 19 zu 106). In 41 Fällen war das Opfer nicht bewaffnet (weder mit Schuß-, Explosiv- oder Stichwaffen) - die tatsächliche Gefährlichkeit der Situation war also keineswegs immer der Auslöser für den tödlichen Schuß. In den Auseinandersetzungen, die zum tödlichen Polizeischuß führten, wurden im vergangenen Jahrzehnt 12 Polizisten getötet; davon drei durch Schüsse von KollegInnen. Weitere 24 PolizistInnen wurden bei den Einsätzen verletzt. Damit kam es in maximal 36 bzw. 33 der 114 Fälle zu Personenschäden auf Polizeiseite. Auch dies kann als Indiz dafür gewertet werden, daß die Gefährlichkeit der Situation keine ausreichende Erklärung dafür ist, warum es zu polizeilichen Todesschüssen kommt.
 

Tab. 5: Polizeiliche Todesschüsse 1988-97 nach Einsatzsituationen

Jahr
 
 
 
 
Familien-
streitigkeit; Geistes-
kranke; Randalierer
Geiselnahme (finaler Rettungs-
schuß in Klammern)
Routine-
Verkehrs-
kontrolle; Kontrollstelle
Initiativ-
Festnahme; Initiativ-
Kontrolle
Ad-hoc-
Straftaten-
vereitelung
Flucht-
versuch
Vorbereitete Festnahme Unklare Angaben Gesamt
1988   1     7 1     9
1989 1 1 (1)   1 3 1 2   10
1990   (1) 4   2 1 2   10
1991 2 (2)   2   1 2   10
1992 2       7 1     10
1993 2     1 6 3 4   15
1994       2 5   2   10
1995 3 1   1 12 2 1   20
1996 2 2 (1) 2   3   1   10
1997 4   1   6     1 12
Ges. 16 7 (5) 7 7 51 10 14 1 115

Quelle: CILIP-Statistiken

Offene Fragen

In der Auseinandersetzung mit dem polizeilichen Schußwaffengebrauch sind zwei Fragen von besonderem Interessen: Wann und warum schießen PolizistInnen auf Menschen? Und: Schießt die Polizei zu häufig? Beide Fragen lassen sich auf der Grundlage des veröffentlichten Materials nicht beantworten. Für die Todesschüsse ist offenkundig, daß sie weder auf schwere Kriminalität noch auf gefährliche Situationen begrenzt bleiben. Sie ereignen sich sowohl bei polizeilich geplanten als auch bei zufälligen Einsätzen. Nur in sehr wenigen Fällen handelt es sich um gezielte Todesschüsse; im Regelfall kommt es offenkundig zu einer Eskalation, an deren Ende der tödliche Schuß fällt. Bezogen auf die Polizei bedeutet das, daß es ihr praktisch nicht gelingt, die gesetzlichen Vorgaben (nur schießen, um flucht- oder angriffsunfähig zu machen) in die Praxis umzusetzen. Warum das nicht gelingt, darüber wüßte man gerne mehr.
Auch die Frage, ob die deutsche Polizei zu häufig (auf Menschen) schießt, kann nicht beantwortet werden. Fest steht, daß in den letzten 20 Jahren kein einheitlicher Trend festzustellen ist; weder ist die Polizei schießwütiger geworden, noch hat der Schußwaffengebrauch gegen Personen abgenommen. Um zu beurteilen, ob dieses Niveau unvermeidbar ist, müßte man nicht nur die einzelnen Situationen kennen, sondern es müßte auch bekannt sein, in wie vielen vergleichbaren Einsätzen es nicht zum (tödlichen) Schußwaffeneinsatz kommt.
Daß jeder von der Polizei getötete Mensch ein Toter zuviel ist, ist ein für Sonntagsreden taugliches Bekenntnis. Praktisch wirksam könnte dies nur werden, wenn die Polizeien und Innenverwaltungen dazu übergingen, mehr als nur statistische Angaben zu veröffentlichen. Die Darstellung der Umstände, unter denen PolizistInnen auf Menschen schießen, wäre Voraussetzung der öffentlichen Kontrolle polizeilichen Handelns. Wer Ernst machen will mit der „friedenstiftenden Bedeutung des staatlichen Gewaltmonopols“, der müßte jederzeit den Beweis antreten, daß staatliche Akteure die ihnen übertragene Gewalt nicht vorschnell einsetzen. Die dargestellten Daten sprechen dagegen, daß dieser Beweis für die Bundesrepublik gegenwärtig gelingen könnte.

Norbert Pütter ist Redakteur von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.


[1]  Es handelt sich hier nur um grobe Angaben, orientiert am Musterentwurf §§ 41-43, s. Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder, Stand: 1986, in: Kniesel, M.; Vahle, J. (Hg.): VE ME PolG, Heidelberg 1990
[2] Dreher, E.; Tröndle, H.: Strafgesetzbuch, München 1988 (44. Aufl.), § 34, Rdnr. 24
[3] Dabei schwankt die Zahl der Schüsse auf Sachen in den 10 Jahren zwischen 9 und 40.
[4] Der Befund von 1993, demzufolge es gelungen war, die gezielten Polizeischüsse auf Menschen zu reduzieren, gilt leider nicht mehr für die 90er Jahre, s. Werkentin, F.: Tödlicher Schußwaffeneinsatz der Polizei 1974-1992, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 44 (1/93), S. 79-83 (82)
[5] Diederichs, O.: Tödlicher Schußwaffeneinsatz 1990, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 38 (1/91), S. 71-74 (Fall 6)
[6] Diederichs, O.: Tödlicher Schußwaffeneinsatz 1993, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 47 (1/94), S. 59-64 (Fall 6)
[7] Diederichs, O.: Tödlicher Schußwaffeneinsatz 1994, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 50 (1/95), S. 69-71 ( Fall 2)
[8] Diederichs, O.: Tödlicher Schußwaffeneinsatz 1995, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 53 (1/96), S. 76-79 (Fall 11)
[9] zu den Kategorien: Polizeilicher Schußwaffengebrauch im Wandel, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 12 (2/82), S. 3-25 (11f.)

Aufbaustudium Kriminologie

Universität Hamburg

Im Sommersemster 2000 beginnt der nächste Durchgang des viersemestrigen Aufbaustudiums Kriminologie (Abschluß: „Diplom-KriminologIn“)

  • Zulassungsvoraussetzungen: Abgeschlossenes Hochschulstudium in Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Rechtswissenschaft oder in einem anderen der Kriminologie verwandten Fach (z.B. Sozialpädagogik, Politologie, Geschichte, Medizin) und Schwerpunktsetzung des bisherigen Studiums auf kriminologische Problemfelder
  • Bewerbungsfrist: 15.12.1999 - 15.1.2000 (Ausschlußfrist!) beim Studentensekretariat der Universität Hamburg
  • Näheres Informationsmaterial über: Prof. Dr. Sebastian Scheerer
    Aufbau- und Kontaktstudium Kriminologie
    Troplowitzstr. 7, 22529 Hamburg
    Tel.: (040) 4123-3329/3323/3322/3321/3679
    Fax: (040) 4123-2328
    E-Mail: astksek@rz-cip-1.uni-hamburg.de

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© Bürgerrechte & Polizei/CILIP 1999
HTML-Auszeichnung: Felix Bübl - 18.04.1999