Archiv der Kategorie: CILIP 045

(2/1993) Polizei und Ausländer

Wie wird die Bundesrepublik mit illegaler Zuwanderung fertig? Die Lage nach der Änderung des Art. 16 GG

von Alexander Müller

Die am 1. Juli 1993 in Kraft getretene Änderung des Grundgesetzartikels 16 und die verabschiedeten Begleitgesetze bedeuten eine einschneidende Veränderung der Ausländer- und Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Gleichzeitig markieren sie einen weitreichenden Bruch mit dem bundesrepublikanischen Selbstverständnis über Flüchtlings- und Einwanderungspolitik. Obwohl in den letzten Jahren eine wachsende öffentliche Diskussion über Flüchtlingspolitik zu verzeichnen war, so konnte doch davon ausgegangen werden, daß das in der Verfassung festgeschriebene Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte im Grundsatz anerkannt war. Die Kritik an mangelhaften und zu langsamen Asylverfahren, die Frage, wievielen Menschen Asyl in der Bundesrepublik gewährt werden könne, die Forderung nach weiteren Hilfen für Armutsflüchtlinge in den Herkunftsländern und der Ruf nach einem einheitlichen europäischen Asylrecht stellten insgesamt den Artikel 16 GG nicht in Frage.

Bis vor wenigen Jahren konnte davon ausgegangen werden, daß in unserer Gesellschaft nicht nur ein weitreichender Konsens über die Aufnahme von politisch Verfolgten als historische Verpflichtung der Bundesrepublik existierte, sondern daß auch die Notwendigkeit einer gesteuerten Zuwanderung politisch auf der Tagesordnung stand. Die Erfahrung eines jahrzehntelangen Zusammenlebens mit Nichtdeutschen, die kulturelle Bereicherung der bundesrepublikanischen Gesellschaft und auch die ökonomischen Notwendigkeiten – nicht zuletzt vermittelt durch die seit Jahren bekannte Tätigkeit von ‚Gastarbeitern‘ – fanden ihren Niederschlag im Konzept einer multikulturellen Gesellschaft. Wie wird die Bundesrepublik mit illegaler Zuwanderung fertig? Die Lage nach der Änderung des Art. 16 GG weiterlesen

Ausländererfassung in der Bundesrepublik – Die informationelle Sonderbehandlung von ImmigrantInnen und Flüchtlingen

von Thilo Weichert

Der Einsatz konventioneller oder automatisierter Datenverarbeitung zur Ausgrenzung gesellschaftlicher Minderheiten hat in Deutschland unrühmliche Tradition. Die Erfassung nach Rassen und Nationalitäten diente den Nationalsozialisten der Ausgrenzung und differenzierten Behandlung, der gewalttätigen Unterdrückung, Deportation (Evakuierung) und Vernichtung, aber auch der „Effektivierung“ der Rohstoff- und Arbeitskräfteplanung für die Vorkriegs- und die Kriegswirtschaft.[1]
Erstaunlicherweise sahen die Mütter und Väter des Grundgesetzes, welche bestrebt waren, bei der Schaffung einer demokratischen bundesdeutschen Verfassung Lehren aus dem Nationalsozialismus zu ziehen, keine Veranlassung, aus der informationellen Sonderbehandlung von Minderheiten rechtliche Konsequenzen abzuleiten.[2]

Die Kontinuität des Ausländerrechts währte bis 1965.[3] Die Erfassung der Ausländerinnen und Ausländer wurde aber auch danach nicht gesetzlich, sondern in exekutiven Bestimmungen über die Führung von Ausländerkarteien geregelt.[4] Die mangelnde Beachtung dieses Themas durch den Gesetzgeber erlaubt jedoch nicht den Schluß, daß die Erfassung ausländischer Personen nicht stattfand, daß ihr keine Funktion zukam. Das Gegenteil ist vielmehr richtig: Schon 1953 wurde eine alle in der Bundesrepublik lebenden Nichtdeutschen erfassende zentrale Datei, das Ausländerzentralregister (AZR), eingerichtet. Ausländererfassung in der Bundesrepublik – Die informationelle Sonderbehandlung von ImmigrantInnen und Flüchtlingen weiterlesen

Die Sicherung der deutschen Ostgrenze – Der Bundesgrenzschutz vor neuen Aufgaben

von Otto Diederichs

Etwa um 1985 – mit Beginn der Bestrebungen der europäischen Staaten, im Rahmen des „Schengener Abkommens“[1] die innerstaatlichen Grenzen langfristig aufzuheben – begann der Bundesgrenzschutz (BGS) erstmals in seiner Geschichte, sich um den weiteren Bestand ernstliche Sorgen zu machen. Sicherheitspolitiker und Polizeiplaner gingen sogar daran, mit dem Programm „BGS 2000“ zwanghaft neue Aufgaben für die tannengrüne Truppe zu finden.[2] Mit dem Zerfall des sog. „Ostblocks“ schwanden die Befürchtungen dann dahin: Mit der Sicherung der neuentstandenen Grenzen zu Polen und der ehemaligen Tschechoslowakei ist der BGS heute mehr als ausgelastet.

Deren Sicherung obliegt dem Grenzschutzpräsidium (GSP) Ost in Berlin mit seinen Grenzschutzämtern Frankfurt/Oder (für die Grenze zu Polen) und Pirna (für den Bereich der sächsisch-tschechischen Grenze). Für den bayerisch-tschechischen Abschnitt ist das GSP Süd in München zuständig, das diese Aufgaben im April 1992 von der Grenzpolizei des Freistaates übernahm.[3] Insgesamt sind hierfür unterdessen 2.463 Polizeikräfte und 1.100 ZollbeamtInnen eingesetzt.[4] Auf der Ostsee werden sie unterstützt durch die 3. Flottille des „BGS See“ mit 135 Mann (verstärkt durch eine weitere Flottille des Stützpunktes Neustadt).[5] Die Sicherung der deutschen Ostgrenze – Der Bundesgrenzschutz vor neuen Aufgaben weiterlesen

Vom Einheitlichen Binnenmarkt zum Gemeinsamen Abschiebungsraum – Politische Grenzsicherung in Europa

Mit der Schaffung des EG-Binnenmarktes haben die Exekutiven die bis dahin nationalen Abschottungspolitiken auf europäisches Niveau gehoben. Die Außengrenzen der EG sollen danach insbesondere gegen „unkontrollierte Zuwanderung“ abgeschirmt werden. Im folgenden wird die Vorgeschichte dieser europäischen „Harmonisierung“ und die Folgen dieser Vertragspoltik – auch für die Nachbarländer – näher untersucht.

Seit Anfang der 80er Jahre kamen sich die Länder des nördlichen Westeuropas mit ihrer Abschottungspolitik gegen Flüchtlinge und ImmigrantInnen immer wieder in die Quere. Man verfolgte zwar das gleiche Ziel, die Begrenzung oder Verhinderung von Zuwanderung vor allem aus der Dritten Welt, betrieb dies aber nach dem St. Florians-Prinzip: Hauptsache, die eigenen Grenzen blieben dicht und die eigenen Asylverfahren wurden nicht überlastet. Die Wirkungen auf den Nachbarstaat, in den die jeweiligen Fluchtbewegungen umgeleitet wurden, und noch mehr: das Schicksal der unmittelbar Betroffenen, interessierten nicht. Europa begann sich zum Verschiebebahnhof für Menschen auf der Flucht zu entwickeln. Das Problem der „refugees in orbit“, der umherirrenden Flüchtlinge, die mit ihrem Antrag auf Anerkennung in keinem Land eine wirkliche Chance hatten, begann sich nach und nach zu vergrößern. Vom Einheitlichen Binnenmarkt zum Gemeinsamen Abschiebungsraum – Politische Grenzsicherung in Europa weiterlesen

Wie fremdenfeindlich kann Statistik wirken? AsylbewerberInnen: ein Problem der großen Zahl?

von Roland Appel

Die Zahl der statistisch erfaßten Asylanträge ist 1992 auf angeblich über 400.000 gestiegen, 1991 wurden ca. 256.000 und 1990 etwa 193.000 Anträge registriert, 1989 waren es 121.000 und 1988 rund 103.000.[1] Der propagandistische Aufschrei im Rahmen der Asyldebatte nach einer Begrenzung solcher „Fluten“ ist allerdings zweifelhaft angesichts der Tatsache, daß die Statistiken keine exakten Rückschlüsse darauf zulassen, wieviele Menschen sich denn nun real hinter diesen Anträgen verbergen. Ob jemand erstmalig in der Bundesrepublik um Asyl nachsucht oder nach zwischenzeitlicher Verschärfung der Situtation im Heimatland einen Asyl-Folgeantrag stellt, wird ebensowenig berücksichtigt wie – mit Inkrafttreten der neuen Familienasylregelungen – die Miterfassung der Angehörigen.

Grundsätzlich muß vor der Illusion gewarnt werden, Migration in der Migrationsgesellschaft statistisch exakt zu erfassen. Die These von der „Asylantenflut“, die dumpf an nationalistische Überfremdungsgefühle appelliert, beruht auf dem Illusionstrick einer nur teilweise ausgeleuchteten Bühne. So kamen von 1989-91 in die Bundesrepublik Deutschland: Wie fremdenfeindlich kann Statistik wirken? AsylbewerberInnen: ein Problem der großen Zahl? weiterlesen

Redaktionelle Vorbemerkung

von Otto Diederichs

Die in der letzten Ausgabe geäußerte Befürchtung, daß das Thema Rechtsradikalismus/Rechtsextremismus die politische Entwicklung in der Bundesrepublik noch für längere Zeit dominieren würde, hat sich leider bewahrheitet. Mehr noch, mit dem fürchterlichen Brandanschlag in Solingen am 29. Mai (und den Folgeanschlägen) wurde zudem ein neuer Höhepunkt erreicht. Um so wichtiger erschien es uns, die vorgeblichen Ursachen von Fremdenfeindlichkeit sowie den politischen und polizeilichen Umgang mit Ausländern in diesem Heft näher zu untersuchen. Redaktionelle Vorbemerkung weiterlesen

Summaries

An Editorial Comment
by Otto Diederichs
On July 1st a new “refugee policy compromise” has gone into effect in the FRG, arrived at by the governing coalition and the SPD opposition, which make refugee entry into the country more difficult. Refugees and persons who had entered the country illegally were immediately effected by this new legislation at midnight on the day it went into effect: more than 100 along Germany’s borders with Poland and the Czech Republic were expelled back across the border. This issue of CILIP is a sequel to the discussion of currently relevant right-wing radicalism and xenophobia in Germany which began last issue. Summaries weiterlesen