Archiv der Kategorie: Beiträge

Nicht alle Artikel der Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei/CILIP sind online verfügbar. Im Netz finden sich bisher die kompletten Ausgaben 0 bis 72, die Nummern 73 bis 95 stellen wir in langsamer Folge ebenfalls online. Jüngere Hefte können hier bestellt werden.

Übermittlungsvorschriften an die Polizei neu geregelt

Mit dem „Gesetz zum ersten Teil der Reform des Nachrichtendienstrechts“ hat die Koalition von SPD, Grünen und FDP im Bund Ende 2023 ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts (1 BvR 2354/13 v. 28.9.2022) zu den Übermittlungsvorschriften der Dienste an die Polizei umgesetzt.[1] Die Richter hatten die vorherigen Regelungen als zu unbestimmt und unverhältnismäßig gewertet. Erhebungsschwellen der Polizei drohten, durch geheimdienstliche Ausforschung und anschließende Übermittlung unterlaufen zu werden.

Das Gesetzgebungsverfahren verlief einigermaßen holprig. Die Koalition hatte noch umfangreiche Änderungen am ursprünglichen Entwurf aus dem Bundesinnenministerium vornehmen müssen. In einer gewohnt umständlichen Formulierung hat nun auch die aus dem Polizeirecht bereits bekannte „drohende Gefahr“ ihren Weg in das Nachrichtendienstrecht gefunden. Wenn „Tatsachen im Einzelfall auf die Entstehung einer konkreten Gefahr hinweisen“, darf der Verfassungsschutz seine Erkenntnisse an die Polizei übermitteln (§ 19 Abs. 2 BVerfSchG), bei unmittelbarer Gefahr ist er dazu nun verpflichtet. Übermittlungsvorschriften an die Polizei neu geregelt weiterlesen

G 10-Maßnahmen in den Jahren 2020 und 2021

Nach dem Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Artikel 10-Gesetz) unterrichtet das Parlamentarische Kontrollgremium (PKGr) den Bundestag jährlich über die durch die G 10-Kommission des Bundestages genehmigten Überwachungsmaßnahmen. Dazu gehören individuelle Maßnahmen zum Abhören von Telefonanschlüssen durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), das Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst (MAD) und den Bundesnachrichtendienst (BND). Beim BND treten sogenannte „strategische Beschränkungen“ hinzu, also das Durchsuchen der internationalen elektronischen Kommunikation mittels Suchbegriffen. G 10-Maßnahmen in den Jahren 2020 und 2021 weiterlesen

Maßnahmen zu Terrorismusbekämpfung 2020 und 2021

Im März 2023 bzw. Januar 2024 legte das Parlamentarische Kontrollgremium zur Kontrolle der Geheimdienste des Bundes (PKGr) seine Berichte zur Anwendung der nachrichtendienstlichen Befugnisse aus dem Terrorismusbekämpfungsgesetz (TBKG) in den Jahren 2020 bzw. 2021 vor.[1] Demnach verlangte das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) im Jahr 2020 in zwei Fällen von Luftfahrtunternehmen, in 16 Fällen von Finanzdienstleistern und in 58 Fällen von Telekommunikationsdienstleistern Auskünfte über ihre Kund*innen. Der Bundesnachrichtendienst (BND) machte von diesen Befugnissen keinen Gebrauch, das Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst (MAD) in zwei (Luftfahrt), sieben (Finanzen) bzw. einem Fall (Telekommunikation). Bei Auskünften zu Telefonanschlussinhaber*innen lag die Zahl der insgesamt betroffenen Personen mit 239 deutlich über der Zahl der 59 betroffenen Anschlüsse. Maßnahmen zu Terrorismusbekämpfung 2020 und 2021 weiterlesen

Mehr digitale Polizeikooperation in Schengen-Staaten

Nach einer Einigung zwischen den EU-Mitgliedstaaten und dem Parlament vom November hat der Rat Ende Februar die neue „Verordnung über den automatisierten Datenaustausch für die polizeiliche Zusammenarbeit“ („Prüm II“) beschlossen.[1] Nach einem Vorschlag der Kommission von 2021[2] wird damit die bislang erlaubte Abfrage von Fingerabdrücken und DNA-Profilen auf Gesichtsbilder erweitert. So kann eine Polizeibehörde mithilfe von Gesichtserkennung erfahren, ob zu einer unbekannten Person in anderen Ländern Informationen vorliegen. Abfragen sollen zur „Verhütung, Aufdeckung und Untersuchung von Straftaten“, zur Suche nach vermissten Personen, zur Identifizierung menschlicher Überreste und bei Naturkatastrophen möglich sein. Voraussetzung ist, dass das nationale Recht eine solche Suche auch in eigenen Datenbanken erlauben würde. Mehr digitale Polizeikooperation in Schengen-Staaten weiterlesen

Neuer Schengener Grenzkodex

Der belgische Ratsvorsitz hat sich mit dem EU-Parlament Anfang Februar auf die Änderung des Schengener Grenzkodex geeinigt.[1] Unter anderem will die EU die Vorschriften im Zusammenhang mit der Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen neu regeln. Möglich ist dies bei „bei vorhersehbaren Bedrohungen“ für bis zu zwei Jahren plus einer zweimaligen Verlängerung um jeweils sechs Monate. Im Fall einer „unvorhersehbaren Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit“ können die Kontrollen für einen Monat unverzüglich eingeführt und um höchstens drei Monate verlängert werden. Neuer Schengener Grenzkodex weiterlesen

Fluchthelfer in Gefahr

Im Dezember haben die EU-Staaten und das Parlament den „Asyl- und Migrationspakt“ beschlossen und damit das Asylrecht in weiten Teilen eingeschränkt. Nun sollen auch Helfer*innen von Flüchtenden stärker verfolgt werden. Hierzu hat die EU-Kommission am 28. November ein Gesetzespaket zur „Bekämpfung des Menschenschmuggels“ vorgelegt.

Mit einer neuen Richtlinie sollen die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, die Arbeit von Schleusern mit „speziellen Ermittlungsinstrumenten“ zu überwachen.[1] Außerdem soll der Strafrahmen in den EU-Staaten einheitlich hoch werden. Eine zusätzliche neue Verordnung soll Europol mehr operative und strategische Kompetenzen zur Verfolgung von „Schleusern“ geben.[2] Die EU-Polizeiagentur würde dann enger mit den 27 Mitgliedstaaten zusammenarbeiten. Fluchthelfer in Gefahr weiterlesen

Strafvollzug und Armutsspirale – Ungleich vor dem Gesetz und nach dem Urteil

von Christine Graebsch

Die meisten Haftstrafen haben einen Armutshintergrund. Zur „Resozialisierung“ wäre die Zahlung von gesetzlichem Mindestlohn und Rentenversicherungsbeiträgen auch hinter Gittern förderlich. Stattdessen ist der Strafvollzug Teil eines Systems individueller Zuschreibung von Armut.

In den letzten Jahren war in der Bundesrepublik Deutschland viel vom Bestrafen der Armen die Rede. Die weit über die Wissenschaft hinaus geführte Debatte ist maßgeblich durch das Buch von Ronen Steinke über „Die neue Klassenjustiz“ geprägt.[1] Strafvollzug und Armutsspirale – Ungleich vor dem Gesetz und nach dem Urteil weiterlesen

Kontrolle im Kapitalismus: Eine intersektionale Perspektive

Kapitalismus war lange Zeit out. Seit Finanzkrise und Pandemie widmen sich soziale Bewegungen mit unterschiedlichen Verhältnissen zum repressiven Staatsapparat sowie die Kritische Kriminologie, in der abolitionistische Traditionen aufleben, verstärkt der kapitalistischen Vergesellschaftung. Der Beitrag umreißt, welche Fragen gestellt und künftig bearbeitet werden sollten.

Kontrolle im Kapitalismus zu betrachten, ist seit jeher das Metier der marxistisch inspirierten Kritischen Kriminologie. Schon die sogenannten „Neuen Sozialen Bewegungen“ und parallele Theorieentwicklungen seit den späten 1960er Jahren rückten bekanntermaßen Herrschaftsverhältnisse jenseits des Widerspruchs von Kapital und Arbeit verstärkt in den Blick. In Fortentwicklung und zugleich Kritik der Kritischen Kriminologie entstand etwa eine feministische Kriminologie, die Themen wie Abtreibung, Sexarbeit oder Vergewaltigung in den Blick nahm. Seit den 1990er Jahren sorgte die Verbreitung poststrukturalistischer Ansätze in der Wissenschaft und den sozialen Bewegungen für einen Perspektivwechsel. Kriminolog*innen und Aktivist*innen problematisierten nicht mehr „nur“ materielle Gegebenheiten wie die kapitalismusstabilisierende Wirkung des Strafjustizsystems, die ideologischen Hintergründe und materiellen Effekte einer geschlechtsblinden Klassenjustiz oder die „Definitionsmacht“[1] einer Polizei, die als strukturkonservative Institution oft auf der Basis traditioneller Vorstellungen von z. B. Frauen oder Migrant*innen agiert. Vielmehr wurden die Kategorien selbst grundlegend hinterfragt und das Verständnis von Macht erweitert. Bereits in den 1960er und 70er Jahren hatte der „labeling approach“[2] in der Kriminologie deutlich gemacht, dass Kriminalität schlicht das ist, was die Gesellschaft als solche versteht. Nun setzte sich die Erkenntnis durch, dass auch „Frau“ oder „Schwarzer“ keine natürlichen Tatsachen sind, sondern gesellschaftlich hervorgebracht werden – wobei die Subjekte nicht nur durch staatliche Ver- und Gebote sowie Ideologie reguliert werden, sondern durch die machtvollen Anrufungen auch hervorgebracht und tagtäglich in die Machtverhältnisse verwickelt sind, wie es Foucault und Autor*innen der Gouvernementalitätsstudien betonten.[3] Kontrolle im Kapitalismus: Eine intersektionale Perspektive weiterlesen