Sicherheitsverluste durch Aufhebung der EG-Binnengrenzkontrollen?

„Das organisierte Verbrechen wird vom Abbau der Grenzkontrollen profitieren“, so erklärte unlängst BKA-Präsident Boge (Handelsblatt, 19.5.89). Ähnliche Anmerkungen finden sich zuhauf. Das Europa des einheitlichen Binnenmarktes werde zum Mekka der Kriminellen, wenn nicht etwas dagegen getan werde. „Keine Freie Fahrt für Straftäter“, so lautet die Parole, die Ex-Innenminister Zimmermann (BGS 9/1988) ausgab und die ihm offenbar die Journalisten aus der Hand fressen.

Stimmt das aber? Ist damit zu rechnen, daß die organisierte Kriminalität wächst und sich ausbreitet, wenn die Grenzen in Westeuropa fal-len? Sind also die Maßnahmen, die in den Arbeitsgruppen der Schengen-Staaten (BRD, Frankreich, Benelux) und in der TREVI-Gruppe (Gesamt-EG) diskutiert werden, tatsächlich Ausgleichsmaßnahmen?

Initiativ- und Fahndungsaufgriffe an bundesdeutschen Grenzen

Betrachten wir die Frage genauer anhand der Statistiken über Grenzaufgriffe an den bundesdeutschen Grenzen im Jahre 1988.
Bei insgesamt rd. 998 Mio. Grenzübertritten verzeichnet die Statistik an allen 726 bundesdeutschen Grenzübergängen insgesamt 102.956 sogenannte Aufgriffe. Die Mehrzahl davon erfolgt nicht aufgrund der Ausschreibung im INPOL-Fahndungssystem (sog. Fahndungsaufgriffe – 1988: 42.208 Fälle), sondern als „Initiativaufgriffe“ (60.748 Fälle), d.h. in Situationen, in denen Grenzbeamten eine Person suspekt vorkam.

Offensichtlich handelt es sich bei diesen 102.956 Fällen nur in geringem Umfang um schwerwiegende Straftatvorwürfe, denn nur insgesamt 15.436 Aufgriffe (14,02%) führen überhaupt zu Festnahmen, wobei die Zahl der Fälle, in denen Richter Untersuchungshaft anordnen oder bereits ein Haftbefehl besteht, wiederum erheblich darunter liegen dürfte (Zahlen sind hier leider nicht verfügbar). An den Grenzen, die im Rahmen der Schengen-Abkommen aufgehoben werden sollen, führten 1987 ca. 3.000 Aufgriffe zu vorläufigen Festnahmen.
Die überwiegende Mehrzahl aller Grenzaufgriffe dient nur der Feststellung des Aufenthaltsortes.

Die Grenze – Instrument der Drogenfahndung?

Die Befürworter der „Ausgleichsmaßnahmen für den Sicherheitsverlust“, der durch den Wegfall der Schengen-Grenzen (bzw. später der EG-Binnengrenzen) entstehe, verweisen auf die organisierte Kriminalität, vor allem aber auf den organisierten Drogenhandel, für den die Grenzen bisher eine zentrale Barriere dargestellt hätten.

Die Statistik der Aufgriffe scheint dies zu belegen: 6.518 Aufgriffe an allen bundesdeutschen Grenzen bezogen sich 1988 auf Rauschgiftdelikte (1987: 6.482). 1987 ereigneten sich über 4.000, also zwei Drittel der insgesamt 6.482 Grenzaufgriffe wegen Drogen, an den Schengen-Grenzen. Bekanntermaßen ist die wichtigste Einfuhrstrecke für den großen Drogenhandel aber die sog. „Balkanroute“. Über die Grenze zu den Niederlanden mit ihrer liberaleren Drogenpolitik geht in der Regel nur der „Ameisenhandel“, d.h. der Handel durch Einzelpersonen mit vergleichsweise geringen Mengen. Die Grenzen zu den Schengen-Staaten können deshalb kaum zu den „heißen Grenzen“ gerechnet werden, wobei unter diesen „kalten Grenzen“ die zu den Niederlanden noch die „wärmste“ sein dürfte. Vom Grenzabbau in der EG ist demnach also nicht der große organisierte Drogenhandel betroffen. Entfallen würden allenfalls die Erfolge gegenüber kleinen Händlern. Diese stellen auch derzeit schon den größten Teil der Grenzaufgriffe wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Die Tatsache, daß 2/3 dieser Aufgriffe an den Grenzen zu den Benelux-Ländern und Frankreich erfolgen, zeigt damit nur, daß die bundesdeutsche Polizei gegen den Kleinhandel erfolgreicher ist, als gegen den großen organisierten Drogenhandel.

Hinzu kommt, daß mit Grenzkontrollen generell kaum „große Fische“ des Drogengeschäfts gefaßt werden können. Auch da, wo große Lieferungen durch Beschlagnahme aufgehalten werden, sind die festgenommenen Personen nur Kuriere. Financiers und Hintermänner des Geschäfts haben es nicht nötig, sich dem Risiko auszusetzen, mit heißer Ware an einer Grenzkontrolle aufzulaufen. Ihr geschäftlicher Erfolg dürfte auch durch die Beschlagnahme einer großen Lieferung nicht sonderlich beeinträchtigt werden. Die Ware Droge erhält erst durch den Verkauf im Inland ihren großen Wert. Bis dahin ist sie verhältnismäßig billig und reichlich vorhanden. Der Kapitalverkehr (einschl. Geldwäsche) wird durch die physischen Grenzen sowieso nicht beeinträchtigt.

Selbst wenn man also die von der Polizei seit nummehr etwa 10 Jahren vorgetragene Argumentation akzeptiert, die organisierte Kriminalität nehme rasant zu, selbst wenn man über die willkürlichen und zum Teil abstrusen Definitionsversuche hinwegsieht, die in diesem Feld unternommen werden, so wird man doch nicht umhinkommen, anzuerkennen, daß Grenzkontrollen – insbesondere die an den westlichen Grenzen – für die Bekämpfung dieser Art von Kriminalität nur eingeschränkte Bedeutung haben; nämlich nur, indem die Polizei oder der Zoll durch Beschlagnahme von Drogenlieferungen den Nachschub für den Inlandsmarkt reduziert. Fraglich bleibt dabei aber, wie weit die dadurch hervorgerufene Verengung des Marktes geht. Fraglich ist auch, ob die daraus resultierenden Preissteigerungen einen positiven Effekt auf die Eindämmung des Drogenkonsums haben oder nicht gar das Problem dadurch verschlimmern, daß die Konsumenten harter Drogen sich in ausgedehnterem Maße zur Beschaffungskriminalität gezwungen sehen.

Ausländerpolitisches Kontrollinstrument

Erheblich mehr taugen Grenzkontrollen als ausländerpolitisches Kontrollinstrument. 123.875 Ausländer wurden 1988 an den bundesdeutschen Grenzen zurückgewiesen, wobei dies in nur 1.896 Fällen wegen des Verdachts der illegalen Arbeitsaufnahme geschah. Hinzu kommen 31.290 der insgesamt 102.000 Grenzaufgriffe, die wegen Verstößen gegen das Paß- und Ausländergesetz erfolgten. Wegen anderer Straftaten wurden also nur in 70.000 Fällen Personen aufgegriffen.