Literatur zum Schwerpunkt

Internationalisierung und Westeuropäisierung polizeilicher Arbeit sind seit dem Bestehen von Bürgerrechte & Polizei/CILIP immer wieder Gegenstand der Berichterstattung gewesen. Auf die wichtigsten Veröffentlichungen zum Thema haben wir immer wieder hingewiesen; vielfach können wir deshalb die LeserInnen auf frühere Besprechungen verweisen. Für die letzten fünf Jahre insbesondere auf: Heft 40 (3/91), S. 100-107, H. 45 (2/93), S. 87-89, H. 48 (2/94), S. 92-94 und H. 51 (2/95), S. 88-90 und 92f. 1992 haben wir eine zum Teil kommentiertere Bibliographie vorgelegt, die 516 einschlägige Beiträge aus dem In- und Ausland bis zum Erscheinungsjahr 1991 erschließt:

Busch, Heiner/Pütter, Norbert/Tielemann, Kea (Bearb.): Europäisierung von Polizei und Innerer Sicherheit – eine Bibliographie, Berlin 1992, 124 S., DM 5,–
Das Heft ist weiterhin lieferbar. (Bestellungen an die Redaktionsadresse.)

Wer die Positionen der Befürworter europäischer Polizeizusammenarbeit in der deutschen Polizei nachlesen will, sei verwiesen auf:

Bundeskriminalamt (Hg.): Verbrechensbekämpfung in europäischer Dimension (BKA-Vortragsreihe, Bd. 37), Wiesbaden 1992, S. 155-167
Der Band dokumentiert die BKA-Jahrestagung von 1991 und enthält u.a. Beiträge über EUROPOL, europäisches Strafrecht, den polizeilichen Informationsaustausch in der EG und über die Auswirkungen der europäischen Integration auf verschiedene Deliktsbereiche.

Gerade erschienen ist:
Bigo, Didier: Polices en réseaux. L’expérience européenne (Presse de la Fondation Nationale des Sciences Politique), Paris 1996, 343 S., FF 158
Vor allem gestützt auf Interviews mit Verbindungsbeamten mehrerer EU-Länder untersucht Bigo die praktische Zusammenarbeit europäischer Polizeien. Eine Besprechung des Buches folgt im nächsten Heft.

Maastricht und die ‘Dritte Säule’

Seit dem Vertrag von Maastricht wird die Westeuropäisierung der Polizeien im Rahmen der ‘Dritten Säule’ des Vertrages dargestellt, auch wenn wichtige Prozesse, wie etwa Schengen, außerhalb des EU-Rechts stattfinden. Über die grundlegende Stuktur der „Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres“ informieren die beiden Kommentare:

Church, Clive H./Phinnemore, David: European Union and European Community: A Handbook and Commentary on the post-Maastricht Treaties, New York etc. 1994 (Kap. E IV: Provisions on cooperation in the fields of justice and home affairs, S. 381-390)
Koenig, Christian/Pechstein, Matthias: Die Europäische Union. Der Vertrag von Maastricht, Tübingen 1995 (Kap. 5.II: Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, S. 113-121)

Gimbal, Anke: Innen- und Justizpolitik – die dritte Säule der Europäischen Union, in: Weidenfeld, Werner (Hg.): Maastricht in der Analyse, Gütersloh 1994, S. 71-89
In ihrer abschließenden Bewertung macht Gimbal auf zwei „zentrale strukturelle Defizite“ der ‘Dritten Säule’ aufmerksam: Einerseits das demokratische Defizit, das insbesondere in den spärlichen Mitwirkungsrechten des Europäischen Parlaments wie im Ausschluß des Europäischen Gerichtshofs als Kontrollinstanz zum Ausdruck komme; andererseits die „mangelnde Transparenz“ infolge der unklaren und undurchsichtigen Bestimmungen des Maastrichter Vertrages. Beide sollen nach ihrer Ansicht künftig vermieden werden durch die „Vergemeinschaftung der Innen- und Justizpolitik“. Damit folgt sie der offiziellen Position der Bundesregierung, die sich auch in aktuellen Bilanzen führender Beamter des Innenministeriums findet:

Rupprecht, Reinhard: Justiz und Inneres, in: Weidenfeld, Werner/ Wessels, Wolfgang (Hg.): Jahrbuch der Europäischen Integration 1994/95, Bonn 1995, S. 199-206
Schelter, Kurt: Innenpolitische Zusammenarbeit in Europa zwischen Maastricht und Regierungskonferenz 1996, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament 46. Jg., 1996, Nr. 1-2, S. 19-26
Schelter, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium, und Rupprecht, Abteilungsleiter ‘Innere Sicherheit’ im BMI, geben jeweils einen Überlick über das Erreichte: Von Schengen über EUROPOL, von der Einwanderungs- bis zur Asylpolitik. Obleich sie die Entwicklungen in den einzelnen Bereichen als positiv darstellen (die „restriktive Einwanderungspolitik“ sowie die „Harmonisierung der Asylpolitik“ werden als europäische Erfolge ebenso gefeiert wie die Inbetriebnahme des SIS und der Aufbau der EUROPOL-Dateien), fällt die Gesamtbewertung zurückhaltend aus. Rupprecht kann „keine progressive Tendenz“ in der Zusammenarbeit seit dem Maastrichter Vertrag feststellen. Vielmehr bestünden in zentralen Fragen „grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten“ zwischen den EU-Mitgliedern. Im Zusammenhang mit der im Frühjahr 1996 stattfindenden Regierungskonferenz diskutiert Schelter verschiedene Vorschläge verbesserter Zusammenarbeit. Er wiederholt die Position der Bundesregierung, die für die Erweiterung der Gemeinschaftszuständigkeiten plädiert. Hinsichtlich der polizeilichen Zusammenarbeit werden jedoch Vorbehalte angemeldet. Während ein Initiativrecht der Kommission noch mit gewissen Einschränkungen eher positiv diskutiert wird, wird die Einführung von Mehrheitsentscheidungen in Fragen der ‘Dritten Säule’ zum gegenwärtigen Zeitpunkt abgelehnt. Da es sich hierbei um „Aufgabengebiete“ handele, „die Kernbereiche der nationalen Souveränität berühren“, stelle sich „die Frage, ob die Gemeinschaft nach ihrer Zielsetzung, ihren Rechtsgrundlagen sowie Aufgaben und Verhältnis der Gemeinschaftsorgane zueinander bereits für die Übernahme und verantwortliche Wahrnehmung von Aufgaben aus dem Kernbereich der Souveränität der Mitgliedstaaten vorbereitet ist“.

Daß und inwiefern eine weitere Vergemeinschaftung an die Grenzen nationaler Souveränitätsinteressen stößt, steht im Zentrum von eher sozialwissenschaftlich orientierten Veröffentlichungen:

Boer, Monica den/Walker, Neil: European Policing after 1992, in: Journal of Common Market Studies Vol. 31, 1993, No. 1, pp. 3-28
Der Artikel diskutiert die möglichen Entwicklungslinien zukünftiger europäischer Polizeiarbeit. Zwischen den beiden Polen ‘europäische Polizei ohne europäischen Staat’ und ‘europäischer Staat ohne europäische Polizei’ wird die Einrichtung von uneinheitlich verfaßten und je mit spezifischen Aufgaben und Kompetenzen versehenen Polizeieinrichtungen, die auf intergouvernementalem Level eingerichtet werden, für wahrscheinlicher gehalten als das Entstehen einer einheitlichen Westeuropäischen Polizei. Eine offene Frage sei allerdings, inwieweit sich auf Dauer aus den verschiedenen Regelungen kumulative Effekte ergäben, die zu einer Vergemeinschaftung führen könnten. Unter dem Stichwort „Legitimität“ werden im Schlußteil des Artikels demokratische Qualität und Gefahren des ‘European policing’ untersucht. Während die politisch-ideologischen Diskurse über den kriminalgeographischen Raum Europa und den Erfordernissen verstärkter polizeilicher Zusammenarbeit öffentlicher Zustimmung gewiß seien, blieben die europäischen Polizeiaktivitäten ohne konstitutionelle Kontrollmechanismen.

Guyomarch, Alain: Problems and Prospects for European Police Cooperation after Maastricht, in: Policing & Society Vol. 5, 1995, No. 3, pp. 249-261
Am Beispiel von TREVI, Schengen und Art. K des Maastrichter Vertrages widerspricht der Autor der These, daß etwa die ökonomische und sozialpolitische Integration automatisch zur Vergemeinschaftung weiterer Gegenstände führten. Zwar sähen sich die Staaten Westeuropas mit weitgehend denselben (Kriminalitäts)Bedrohungen konfrontiert, unterschiedliche Rechtssysteme, nationale Traditionen, Vorstellungen darüber, inwiefern auf gesellschaftliche Probleme mit polizeilichen Antworten zu reagieren sei, sowie die Politiken der nationalen Regierungen stünden jedoch der weiteren Integration der westeuropäischen polizeilichen Zusammenarbeit entgegen. Es fehlten bislang effektive supranationale Polizei-Institutionen, weil die Mitgliedstaaten an ihren „Illusionen der Souveränität“ festhielten. Für die nächsten Jahre werde sich deshalb an der intergouvernementalen Struktur der ‘Dritten Säule’ nichts Wesentliches ändern.

McMahon, Richard: Maastricht’s Third Pillar: Load-Bearing or Purely Decorative?, in: Legal Issues of European Integration 1995, No. 1, pp. 51-64
McMahon wertet die Bestimmungen des Maastrichter Vertrages positiv. Sie erlaubten für den Bereich Inneres und Justiz einen schrittweisen Fortschritt. Immerhin würden wichtige Fragen der Inneren Sicherheit als „Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse“ bestimmt. Die Übergangsmöglichkeiten durch Art. K 9 stelle ein wichtiges Instrument für die weitere Vergemeinschaftung dar. Für die Zusammenarbeit von Justiz, Zoll und Polizei wird auf Art. 235 des EG-Vertrages verwiesen, der ein Tätigwerden des Rates unter Beteiligung von Kommission und Parlament auch in diesen Feldern ermögliche.

Ahnfelt, Ellen/From, Johan: European Policing, in: Andersen, Svein S.; Eliassen, Kjell A. (eds.): Making Policy in Europe, London, Thousand Oaks, New Delhi 1993, pp. 187-212
Nach der Darstellung der wichtigsten Institutionen und Regelungsbereiche wird die These vertreten, daß eine weitere Vergemeinschaftung nur in den Feldern des „low policing“ stattfinden wird. Damit sind – im Anschluß an J.-P. Brodeur – jene polizeilichen Tätigkeiten gemeint, die die Integrität des Staates nicht direkt berühren. Allerdings ist die Unterscheidung im EU-Zusammenhang wohl nur von beschränktem Nutzen. Denn entscheidend bleibt die Frage, wer, aufgrund welcher Kriterien darüber befindet, ob ein Gegenstand die „Integrität des Staates“ berührt. Die Antworten dürften im europäischen Kontext stark differieren.

EUROPOL und Schengen

Daß die polizeiliche Zusammenarbeit fortschreitet, auch wenn auf der politischen Ebene nur kompromißhafte Lösungen möglich sind, zeigen die Berichte über die beiden wichtigsten Einrichtungen westeuropäischer Polizeiarbeit:

Nicolaus, Helmut: Schengen und Europol – ein europäisches Laboratorium? Europäische Polizeikooperation in deutsch-französischer Sicht, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 15. Jg., 1996, H. 1, S. 40-43
Nach dem Gipfel von Cannes und dem Eindruck des Regierungswechsels in Frankreich bilanziert der Autor die unerschiedlichen Optionen künftiger polizeilicher Zusammenarbeit: Während die deutschen Vertreter weiterhin den Ausbau von EUROPOL und die Überführung der Schengener Einrichtungen in die EU anstrebten, zeige sich in der französischen Regierung deutliche Zurückhaltung. Man wolle statt dessen pragmatische Lösungen im Einzelfall, welche die „Polizeihoheit (…) als klassisches Souveränitätsrecht“ nicht berührten.

Storbeck, Jürgen: EUROPOL. Probleme und Lösungen, in: Kriminalistik 50. Jg., 1996, H. 1, S. 17-21
Unter der Zwischenüberschrift „Leidlich funktionierende Hilfskonstruktionen“ erfährt die Leserschaft in der jüngsten Bilanz des deutschen EUROPOL-Chefs Einzelheiten über die gegenwärtigen EUROPOL-Aktivitäten. Bis zur Ratifizierung der Konvention werden datenschutzrechtliche Hindernisse dadurch umgangen, daß lediglich die nationalen Verbindungsbeamten Zugriff auf die nationalen Dateien haben und personenbezogene Informationen zwischen den Verbindungsbeamten ausgetauscht werden. In 1.600 Fällen haben die nationalen Polizei- und Zollbehörden bereits EUROPOL unterstützt. Ebenfalls durch die nationalisierten Zugriffe sollen Lagebilder erstellt und Kriminalitätsanalysen vorgenommen werden. Storbecks Bericht ist auch zu entnehmen, daß sein Amt „mehr und mehr unterstütztend auch an operativen Einsätzen“ beteiligt war. Rund 40 kontrollierte Lieferungen habe man „quer durch Europa koordiniert oder bei schwierigen Ermittlungen beraten“.

Wachholz, Rolf-Peter: EUROPOL aus Sicht der Bundesländer, in: Kriminalistik 49. Jg., 1995, H. 11, S. 715-719
Der Artikel des Landeskriminaldirektors aus Sachsen-Anhalt beschreibt die Position der Bundesländer in den Verhandlungen zur EUROPOL-Konvention. Zu den sechs Eckpunkten, die eine Arbeitsgruppe des AK II der IMK vorlegte, gehören der Zugriff der Länderpolizeien auf die zukünftigen EUROPOL-Dateien sowie der unmittelbare Informationsaustausch zwischen Länderpolizeien und den Verbindungsbeamten.

Weichert, Thilo: EUROPOL-Konvention und Datenschutz, in: Datenschutz und Datensicherheit 1995, H. 8, S. 450-458
Der Konventionsentwurf, der vor dem Gipfel von Cannes vorlag, wird einer detaillierten datenschutzrechtlichen Kritik unterzogen. Die Konvention, so Weichert in seinem Fazit, sei geprägt durch ein „Übergewicht exekutiver Praktikabilitätsüberlegungen, die fast vollständige Ausblendung parlamentarischer Kontrollmöglichkeiten, ein gewaltiges Defizit bei der demokratischen Legitimation, die Mißachtung von Subsidiarität und Föderalismus und das Übergehen bürgerrechtlicher Garantien in materieller wie prozeduraler Hinsicht.“ Daß demgegenüber die Beteiligung des Europäischen Gerichtshofes in Cannes zum Problem wurde, liegt nicht an der bürgerrechtlichen Sensibilität mancher Regierungen, sondern ist auf deren Versuche zurückzuführen, vermeintliche Souveränitätsabgaben auch über indirekte Wege zu verhindern

Bunyan, Tony: Europol Convention (A Statewatch publication), London 1995, 35 S., £ 5
Die Veröffentlichung der englischen Version der Konvention hat Bunyan mit einer kurzen Einführung in die Vorgeschichte von EUROPOL sowie mit einer kritischen Kommentierung der einzelnen Bestimmungen versehen, die zugleich Hinweise auf Konflikte und Modifikationen während des Verhandlungsprozesses geben.

Roth, Claudia (Hg.): Mit Europol grenzenlos sicher?, Bruxelles/Bonn 1995, 48 S., DM 3,–
Die Broschüre dokumentiert die Beiträge eines öffentlichen Hearings, das die EP-Fraktion der GRÜNEN im Sommer 1995 veranstaltete. Eine Darstellung Storbecks wird von kritischen Beiträgen, u.a. von Bunyan, Busch, van Outrive, begleitet. Im Anhang ist die EUROPOL-Konvention dokumentiert.

Sturm, Joachim: Das Schengener Durchführungsübereinkommen – SDÜ –, in: Kriminalistik 49. Jg., 1995, H. 3, S. 162-168
Hemesath, Wolfgang: Das Schengener Informationssystem – SIS –, in: Kriminalistik 49. Jg., 1995, H. 3, S. 169-171
Zott, Heinz: Erfahrungen mit Schengen, in: Hessische Polizeirundschau 22. Jg., 1995, H. 12, S. 20-23
Während Sturm die wichtigsten Bestimmungen des SDÜ, das am 26.3.95 in Kraft trat, vorstellt, schildert Hemesath dessen deutsche Umsetzung hinsichtlich der Ausschreibungskategorien und -modalitäten. In dem Beitrag von Zott werden u.a. die ersten Ergebnisse vorgestellt: Zu mehr als 5.700 „Fahndungstreffern“ im Ausland hätten die deutschen SIS-Ausschreibungen in den ersten sieben Monaten geführt. Demgegenüber wurden in Deutschland nur ca. 250 Treffer bei ausländischen Ausschreibungen erzielt. Ein deutliches Indiz dafür, daß insbesondere die deutsche Polizei vom SIS profitiert. Da fast 90% der Treffer auf Registrierungen wegen Einreiseverweigerungen entfielen, ist offensichtlich, wer von Schengen besonders betroffen wird.
(sämtlich: Norbert Pütter)

Neuerscheinungen

Gössner, Rolf (Hg.): Mythos Sicherheit. Der hilflose Schrei nach dem starken Staat, Baden-Baden (Nomos) 1995, 512 S., DM 68,–
Nahezu alle, die sich in den vergangenen Jahren kritisch mit den Entwicklungen im Bereich der ‘Inneren Sicherheit’ beschäftigt haben, sind in dem Band vertreten. Das Buch, herausgegeben von dem Juristen und rechtspolitischen Berater der BÜNDNISGRÜNEN im niedersächsischen Landtag, Rolf Gössner, ist über 500 Seiten dick. Es verspricht nicht weniger, als die „besonders in Wahlkampfzeiten hochgeputschte Gefahrenlage und die Kriminalitätsentwicklung differenziert zu analysieren und damit zu entdramatisieren“. Anspruch ist auch, sich auf die Suche nach „neuen Wegen und Alternativen zur Politik der ‘Inneren Sicherheit’“ zu machen.
Droht der Staat nicht selbst zur Gefahr für seine Bürgerinnen und Bürger zu werden? Das fragt der Herausgeber polemisch schon auf dem Klappentext. Und als Anhaltspunkte führt er dafür an: Stetiger Ausbau der Geheimdienste, neue nachrichtendienstliche Befugnisse für die Polizeien, verkürzte Gerichtsverfahren, verschärftes Straf- und Haftrecht, nicht zuletzt der in der Politik sichtbare Drang zu populistischen und staatsautoritären Lösungen. Doch, zum Glück der LeserInnen, die Antworten der 27 Autorinnen und Autoren fallen durch die Bank wenig polemisch und deutlich differenziert aus.
Dem Zusammenhang zwischen schwindendem Sicherheitsgefühl auf der einen und populistischer Sicherheitspolitik auf der anderen Seite gehen im ersten Teil die Autoren Martin Klingst (Zeit-Redakteur und Jurist), Christian Pfeiffer (Direktor des ‘Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen’) und der hannoversche Politologe Jürgen Seiffert nach. Im zweiten Teil beschäftigen sich die Mitarbeiter des ‘Berliner Instituts für Bürgerrechte und öffentliche Sicherheit’, Norbert Pütter und Sabine Strunk, beispielhaft mit der sogenannten Organisierten Kriminalität (OK) und der Legitimationsfunktion des Begriffes für staatliche Aufrüstungsmaßnahmen wie etwa dem großem Lauschangriff. Der Düsseldorfer Polizeipräsident Hans Lisken setzt sich kritisch mit der wachsenden Zusammenarbeit zwischen Polizeien und Geheimdiensten in diesem Bereich auseinander.

Der Organisierten Kriminalität folgt ein Kapitel über die Lauschbefugnisse des Bundesnachrichtendienstes, und mit einem Mal sind die Leser mit der Fragestellung konfrontiert: „Mit dem starken Staat gegen Rechts?“ Weiter geht es schließlich um die generelle Aufweichung des Trennungsgebotes zwischen Nachrichtendiensten und Polizeibehörden. Die Europäisierung der Sicherheitspolitik wird kritisch durchleuchtet; im vierten und letzten Teil werden „sozial- und verfassungsverträgliche Lösungsansätze“ zur herrschenden Lehrmeinung der Bonner Politik aufgeführt. So mühsam wie die Aufzählung des Inhalts ist, so wenig wird der Leser durch den Band gezogen. Eine Lektüre für das Nachtkästchen ist „Mythos Sicherheit“ nun wahrlich nicht. Zum einem mag das an der doch recht komplizierten Materie liegen. Anzumerken ist aber auch, daß es dem Herausgeber nicht gelungen ist, dem Werk einen nachvollziehbaren Spannungsbogen zugrunde zu legen. Das liegt möglicherweise daran, daß sich Rolf Gössner ein Hearing im niedersächsischen Landtag zum Vorbild nahm, das er zusammen mit einer Kollegin im Februar 1994 im Auftrag der Fraktion organisierte. So ist denn die Mehrzahl der damaligen ReferentInnen als Autoren im Buch vertreten. Auch der Titel „Mythos Sicherheit“ ist der Tagung entnommen. Herausgekommen ist ein Band, der sich an den kleinen Kreis der kritischen Öffentlichkeit wendet, der sich mit den Entwicklungen in der Justiz- und Kriminalpolitik beschäftigt, und der für eine Liberalisierung der Strafrechtssystem plädiert. Dieser Kreis findet gute Argumente in Hülle und Fülle. Andere aber, und das ist die Crux, werden von eben dieser Fülle erschlagen. Denen sei „Deutschland leicht entflammbar“, der Essay-Band des Redakteurs der Süddeutschen Zeitung, Heribert Prantl, empfohlen.
(Wolfgang Gast, die tageszeitung)

Gebhardt, Wilhelm: Polizeiadressbuch für das Bundesgebiet, (Richard Boorberg Verlag), Stuttgart-München, Hannover, Berlin, Weimar 1995, ca. 600 S., DM 64,– (Grundpreis)
Wie rezensiert man ein Telefonbuch? Diese Frage stellt sich bei dem vorliegenden Werk, einer Loseblattsammlung, die nun in ihrer 25. Ergänzungslieferung vorliegt. Denn mehr als eine Zusammenfassung der deutschen Rufnummernverzeichnisse zu einem Spezialband ist es nicht. Gleichwohl ist es deshalb nicht wertlos, denn wer außer der Telekom ist schon im Besitz sämtlicher Telefonbücher der Bundesrepublik? Was also tun, wenn man die Nummer der Kriminalpolizeiinspektion in Bamberg sucht (0951-185-0, S. 97) oder die der Polizeistation Hanerau-Hademarschen (04872-2110, S. 368) benötigt? Kein Problem, denn der Ordner ist übersichtlich aufgebaut und nach kurzer Eingewöhnungsphase schnell handhabbar. Sucht man jedoch nach der Nummer des Berliner Landesschutzpolizeidirektors, des Düsseldorfer Polizeipräsidenten oder des Präsidenten des sächsischen Landeskriminalamtes, so landet man regelmäßig in der jeweiligen Telefonzentrale. Durchwahlnummern enthält das Adreßbuch nämlich nicht. Braucht es wohl auch nicht, denn mit solch hochgestellten Persönlichkeiten telefonieren polizeiliche Sachbearbeiter – und für sie ist dieses Hilfsmittel in erster Linie gedacht – ohnehin nicht. Solche Gespräche sind der Führungsebene vorbehalten und dort gibt es eigene Telefonbüchlein. So ist das Polizeiadreßbuch denn auch noch etwas, das eigentlich gar nicht geplant war: In Ziffern geflossenes Hierarchiedenken.

Kaiser, Günther/Jehle, Jörg-Martin (Hg.): Kriminologische Opferforschung. Neue Perspektiven und Erkenntnisse, Teilband II. Verbrechensfurcht und Opferwerdung – Individualopfer und Verarbeitung von Opfererfahrungen, (Kriminalistik Verlag), Heidelberg 1995, 246 S., DM 84,–
Verbrechensopfern ist in der kriminalistischen Literatur in der Vergangenheit eher weniger Aufmerksamkeit zuteil gewordenen. Diese sich unterdessen wandelnde Situation zu unterstützen, ist Anliegen des Buches von Kaiser/Jehle. Bei den veröffentlichten Beiträgen handelt es um überarbeitete Referate einer Tagung der ’Neuen Kriminologischen Gesellschaft’ vom Herbst 1993, wobei sich der vorliegende Teilband II in erster Linie mit den bisherigen Ergebnissen der empirischen Forschung befaßt. Die Bandbreite reicht dabei von der Erforschung der Ursachen und Bedingungen von Kriminalitätsfurcht über allgemeine Einstellungen zu Kriminalität und Strafe bis hin zu speziellen Einzelaspekten der Viktimisierung. Da es sich bei den Autoren vorrangig um kritische Kriminologen handelt, ist für interessante Diskussionsbeiträge gesorgt – wäre da nicht doch ein Wermutstropfen, das Alter. Da man rund zwei Jahre bis zur Veröffentlichung benötigt hat, konnte man einige der Texte (in leicht abgeänderter Form) bereits vorher in anderen Publikationen finden. Auch wenn sie hier noch einmal gesammelt vorliegen, ist der hohe Preis des Bandes da nicht mehr gerechtfertigt.
(beide: Otto Diederichs)

Keller, Stefan: Grüningers Fall, Zürich (Rotpunktverlag) 1994 (3. Aufl.), 259 S., DM 28,–
Geschildert wird die Geschichte des Kommandanten der St. Gallener Kantonspolizei, der im März 1939 vom Dienst suspendiert und wenig später fristlos aus dem Polizeidienst entlassen wurde. Der Grund: Hauptmann Grüninger hatte sich in der Vergangenheit bewußt der Abschottungspolitik der Schweizer Regierung widersetzt und jüdischen Flüchtlingen zur Flucht in die Schweiz verholfen. Die auf gründlichen Recherchen des Autors fußende Darstellung zeigt, wie eng Grüninger mit verschiedenen Gruppen der Schweizer Flüchtlingshilfe kooperierte. Der Autor widerlegt andere Vorwürfe gegen Grüninger, entgeht dabei aber der Gefahr seinen „Helden“ zu heroisieren; deutlich wird statt dessen ein Mann, der in einer bestimmten Situation seinen Grundüberzeugungen und nicht den Vorgaben des Apparates folgte. Erst die große öffentliche Resonanz, die Kellers Buch in der Schweiz fand, führte Mitte 1994 zu einer nachträglichen Ehrenerklärung des Schweizer Bundesrats für Grüninger. Im November 1995, 55 Jahre nach seiner Verurteilung und 23 Jahre nach seinem Tod, wurde er schließlich vom Bezirksgericht St. Gallen rehabilitiert.
Das Buch schildert einen alten Fall, aber sein Gegenstand ist aktuell. Zumal für die Bundesrepublik, in der Polizisten bestraft werden, weil sie Asylbewerber nicht unter unwürdigen Bedingungen in Polizeihaft lassen wollen, oder in der Bürgermeister belangt werden, weil sie unbürokratisch Einreisepapiere ausstellen. Auf den ersten BGS-Beamten, der sich weigert, Kinder „zurückzuschieben“, warten wir leider noch.
(Norbert Pütter)