Archiv der Kategorie: Artikel

Artikel im Heft widmen sich dem jeweiligen Schwerpunkt sowie weiteren Themen. Von aktuellen Ausgaben stellen wir gewöhnlich drei ausgewählte Artikel sofort online.

Biometrische Gesichtserkennung – Technologischer Solutionismus für mehr „Sicherheit“

von Jens Hälterlein

Der polizeiliche Einsatz von biometrischer Gesichtserkennung (BG) ist eine der umstrittensten Anwendungen Künstlicher Intelligenz (KI). Im Kern geht es darum, ob dem Sicherheitsversprechen der Technologie oder der von ihr ausgehenden Gefahr der Einschränkung von Grund- und Bürgerrechten eine größere Bedeutung beigemessen wird. Die Annahme einer hohen Leistungsfähigkeit der eingesetzten Systeme muss relativiert werden – und damit auch das Sicherheitsversprechen. Zudem hat der Einsatz von BG diskriminierende Effekte.

Nachdem die Europäische Kommission 2021 einen ersten Vorschlag für eine Regulierung von KI-Anwendung auf EU-Ebene vorgelegt hatte (Artificial Intelligence Act),[1] kam es im Zuge des Gesetzgebungsverfahren zu einer intensiven Kontroverse. Im Sommer 2023 machte das Europäische Parlament umfangreiche Änderungsvorschläge, um den Grundrechteschutz zu stärken. Bestimmte KI-Praktiken sollten grundsätzlich verboten werden, da sie nicht mit den in der EU geltenden Grundrechten und Werten vereinbar wären. Zu den genannten Praktiken gehört auch die biometrischer Gesichtserkennung (BG) in öffentlichen Räumen (Art. 5). Dies entsprach der Forderung eines Bündnisses von zivilgesellschaftlichen Initiativen sowie einer Viertelmillion EU-Bürger*innen, die ihre Unterstützung der von mehr als 80 NGOs organisierten Kampagne Ban Biometric Mass Surveillance in Europe geäußert hatten. In der (vorläufigen) Kompromissfassung vom Dezember 2023, auf die sich das Europäische Parlament, der Rat der Europäischen Union und die Europäische Kommission einigten, werden jedoch Ausnahmen von einem allgemeinen Verbot der Massenüberwachung definiert, bei denen Sicherheitsinteressen die Risiken der Technologie für Grundrechte überwiegen würden: wenn der Einsatz von BG zur Echtzeit-Überwachung verwendet wird, um terroristischen Anschläge zu verhindern oder nach vermissten Personen zu suchen, aber auch, wenn BG eingesetzt werden soll, um im Rahmen von Strafverfahren Tatverdächtige zu ermitteln.[2] Biometrische Gesichtserkennung – Technologischer Solutionismus für mehr „Sicherheit“ weiterlesen

Der Umgang mit Vorwürfen: Polizeiliche Reaktionen auf Anschuldigungen

von Riccarda Gattinger

Die Polizei reagiert auf Vorwürfe in der Regel auf zweierlei Weise: mit Abwehr- und Schutzreaktionen. Dies ergibt eine systematische Untersuchung von Zeitschriften verschiedener deutscher Polizeigewerkschaften. Beide Reaktionsformen vermitteln Gefühle des Zusammenhalts und der Zugehörigkeit und wirken somit identitätsstiftend.

Die Polizei ist mit einer öffentlichen Debatte über rassistische und diskriminierende Einstellungen und Verfahrensweisen von Polizeibediensteten konfrontiert. Berichte über Diskriminierungen und Gewalt durch die Polizei haben in den letzten Jahren Schlagzeilen gemacht, beispielsweise wurden in den Jahren 2020 und 2021 vermehrt rechtsextreme Äußerungen in Chatgruppen von Polizist*innen aus unterschiedlichen Bundesländern bekannt. Die Polizei geht innerhalb ihrer Reihen unterschiedlich mit den Anschuldigungen um. Die Führungsebene reagiert meist ablehnend auf die Vorhaltungen von Rassismus und Diskriminierung. Die Arbeit der Sozialwissenschaftler*innen Kathrin Schroth und Karim Fe­rei­dooni zeigt beispielsweise, dass Polizist*innen Vorwürfe zurückweisen, indem sie Beschwerden über Diskriminierung als unbegründet oder nicht gerechtfertigt abtun.[1] Ergänzend stellt der ehemalige Leiter des Fachgebiets Führung an der Deutschen Hochschule der Polizei, Dirk Heidemann, fest, dass Positionen von Kritiker*innen abgewertet werden, indem ihnen vorgehalten wird, Polizeiarbeit nicht zu verstehen. Zudem begebe sich die Polizei mit dem Argument, dass die Polizei dem Verdacht, dass alle Mitglieder der Polizei verantwortlich seien („Generalverdacht“), ausgesetzt wird, in eine Opferrolle.[2] Auch wird oft argumentiert, dass Probleme nur in Einzelfällen aufträten. So werden Strukturen und mögliche problematische Arbeitsweisen nicht infrage gestellt. Der Umgang mit Vorwürfen: Polizeiliche Reaktionen auf Anschuldigungen weiterlesen

Polizei und technische Innovationen: Hoffnungen und Gefahren der „Polizei der Zukunft“

von Norbert Pütter und Eric Töpfer

Die Modernisierung von Polizeien umfasst auch von ihr genutzte Instrumente und Verfahren, die aus dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt resultieren. Obgleich im Detail wenig bekannt, sind neue Technologien in allen polizeilichen Arbeitsfeldern im Einsatz, ihr Ausbau ist erklärtes Ziel der Verantwortlichen. Insbesondere in der Digitalisierung werden Chancen für eine effektivere Polizeiarbeit gesehen. Mit dem Ausbau ihrer technischen Kapazitäten vergrößern sich Definitionsmacht, Überwachungs- und Handlungsoptionen der Polizei; deren Kontrollierbarkeit wird durch die neuen Technologien noch schwieriger. 

Auch wenn der Begriff aus der Mode gekommen ist, wir leben in einer Gesellschaft, die durch den „wissenschaftlich-technischen Fortschritt“ geprägt ist: Wissenschaft legitimiert sich über weite Strecken über ihre „Praxisrelevanz“; die Praktiker*innen erhoffen sich mehr Effektivität und Effizienz von dem, was die Wissenschaft ihnen bietet; die Wirtschaft setzt auf Wachstumsimpulse, die durch neuen Technologien ausgelöst werden sollen; die politisch Verantwortlichen inszenieren sich gerne als Fördernde des „Neuen & Besseren“; und die Öffentlichkeit erwartet eine moderne Praxis, die „auf der Höhe der Zeit“ ist, weil sie Innovationen nutzt. Polizei und technische Innovationen: Hoffnungen und Gefahren der „Polizei der Zukunft“ weiterlesen

Strafvollzug und Armutsspirale – Ungleich vor dem Gesetz und nach dem Urteil

von Christine Graebsch

Die meisten Haftstrafen haben einen Armutshintergrund. Zur „Resozialisierung“ wäre die Zahlung von gesetzlichem Mindestlohn und Rentenversicherungsbeiträgen auch hinter Gittern förderlich. Stattdessen ist der Strafvollzug Teil eines Systems individueller Zuschreibung von Armut.

In den letzten Jahren war in der Bundesrepublik Deutschland viel vom Bestrafen der Armen die Rede. Die weit über die Wissenschaft hinaus geführte Debatte ist maßgeblich durch das Buch von Ronen Steinke über „Die neue Klassenjustiz“ geprägt.[1] Strafvollzug und Armutsspirale – Ungleich vor dem Gesetz und nach dem Urteil weiterlesen

Kontrolle im Kapitalismus: Eine intersektionale Perspektive

Kapitalismus war lange Zeit out. Seit Finanzkrise und Pandemie widmen sich soziale Bewegungen mit unterschiedlichen Verhältnissen zum repressiven Staatsapparat sowie die Kritische Kriminologie, in der abolitionistische Traditionen aufleben, verstärkt der kapitalistischen Vergesellschaftung. Der Beitrag umreißt, welche Fragen gestellt und künftig bearbeitet werden sollten.

Kontrolle im Kapitalismus zu betrachten, ist seit jeher das Metier der marxistisch inspirierten Kritischen Kriminologie. Schon die sogenannten „Neuen Sozialen Bewegungen“ und parallele Theorieentwicklungen seit den späten 1960er Jahren rückten bekanntermaßen Herrschaftsverhältnisse jenseits des Widerspruchs von Kapital und Arbeit verstärkt in den Blick. In Fortentwicklung und zugleich Kritik der Kritischen Kriminologie entstand etwa eine feministische Kriminologie, die Themen wie Abtreibung, Sexarbeit oder Vergewaltigung in den Blick nahm. Seit den 1990er Jahren sorgte die Verbreitung poststrukturalistischer Ansätze in der Wissenschaft und den sozialen Bewegungen für einen Perspektivwechsel. Kriminolog*innen und Aktivist*innen problematisierten nicht mehr „nur“ materielle Gegebenheiten wie die kapitalismusstabilisierende Wirkung des Strafjustizsystems, die ideologischen Hintergründe und materiellen Effekte einer geschlechtsblinden Klassenjustiz oder die „Definitionsmacht“[1] einer Polizei, die als strukturkonservative Institution oft auf der Basis traditioneller Vorstellungen von z. B. Frauen oder Migrant*innen agiert. Vielmehr wurden die Kategorien selbst grundlegend hinterfragt und das Verständnis von Macht erweitert. Bereits in den 1960er und 70er Jahren hatte der „labeling approach“[2] in der Kriminologie deutlich gemacht, dass Kriminalität schlicht das ist, was die Gesellschaft als solche versteht. Nun setzte sich die Erkenntnis durch, dass auch „Frau“ oder „Schwarzer“ keine natürlichen Tatsachen sind, sondern gesellschaftlich hervorgebracht werden – wobei die Subjekte nicht nur durch staatliche Ver- und Gebote sowie Ideologie reguliert werden, sondern durch die machtvollen Anrufungen auch hervorgebracht und tagtäglich in die Machtverhältnisse verwickelt sind, wie es Foucault und Autor*innen der Gouvernementalitätsstudien betonten.[3] Kontrolle im Kapitalismus: Eine intersektionale Perspektive weiterlesen

Pro-Palästina Demos nicht erlaubt? Ethnographische und rechtliche Anmerkungen

Clemens Arzt, Alexander Bosch

Der verbrecherische Angriff der Hamas auf Israel hat auch in Deutschland zu heftigen Reaktionen geführt. Die Politik hat die Unterstützung Israels zur Staatsräson erklärt. Dennoch wird auch für die Unterstützung der Palästinenser*innen demonstriert. Versammlungsbehörden und Polizei schritten hiergegen im Oktober 2023 in breitem Umfang ein. Totalverbote von Versammlungen waren in Berlin-Neukölln, wo viele Menschen mit palästinensischem oder arabischem Hintergrund leben, über viele Tage die Regel. Dies wird nachfolgend aus ethnographischer und rechtlicher Sicht näher betrachtet. Ist dieses staatliche Vorgehen mit der Versammlungsfreiheit vereinbar, und war die überzogene und rechtlich fragwürdige staatliche Reaktion nicht gerade Anlass für zum Teil gewalttätige Auseinandersetzungen?

Seit dem schrecklichen Überfall der islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 gehen die Wogen international wie auch in Deutschland zu dem Thema hoch. Jüdinnen und Juden in Deutschland äußern ihre nur zu berechtigte Besorgnis und Angst vor Übergriffen auch in Deutschland. Dass sie diese Sorge haben müssen, ist bedenklich und real, nicht erst seit dem 7. Oktober. Eine palästinensische Sicht jenseits der Berichte über die Hamas ist hingegen kaum wahrnehmbar oder gar auf der Straße sichtbar zu machen, ohne in Konflikte mit dem deutschen Staat zu geraten. Pro-Palästina Demos nicht erlaubt? Ethnographische und rechtliche Anmerkungen weiterlesen

40 Jahre Demobeobachtung: Bestandsaufnahme einer radikal-demokratischen Praxis

von Tina Keller und Elke Steven

Das Grundrechtekomitee hat schon kurz nach seiner Gründung das Instrument der Demonstrationsbeobachtung zum Schutz des fundamentalen Grundrechts auf Versammlungsfreiheit etabliert. Eine genaue Beobachtung der vielfältigen Ereignisse ist die Grundlage für deren Einordnung in die politische Vorgeschichte und die Bewertung, basierend auf einem prinzipiellen Grundrechts- und Demokratieverständnis. Nach über 40 Jahren stellen wir die Erfahrungen auf den Prüfstand und kommen zu dem Ergebnis, dass es als radikal-demokratisches Werkzeug zur Verteidigung der Versammlungsfreiheit weiterhin notwendig bleibt.

Öffentliche Versammlungen sind sowohl Ausdruck als auch unmittelbarstes Werkzeug gelebter Demokratie. Das Grund- und Menschenrecht, demonstrieren zu können, gehört zu den wenigen im Grundgesetz garantierten Möglichkeiten, sich unmittelbar direkt öffentlich zu äußern. Die Demonstrierenden bestimmen selbst, wie sie thematisch und formal die Öffentlichkeit erreichen wollen. Dieses Grundrecht auf Versammlungsfreiheit (Artikel 8 Grundgesetz) zu schützen und unverkürzt zu bewahren, ist ein wesentliches Ziel der Demonstrationsbeobachtungen, die das Komitee für Grundrechte und Demokratie seit 1981 organisiert. Ihre Wirkungsweise wollen wir mit diesem Artikel reflektieren. 40 Jahre Demobeobachtung: Bestandsaufnahme einer radikal-demokratischen Praxis weiterlesen

Das Polizieren indigener Proteste: Besondere Repression gegen besondere Rechte

Seit 150 Jahren setzt die kanadische Bundespolizei Interessen der privaten Industrieunternehmen gegen den Widerstand der Bevölkerung durch. In der vergangenen Dekade wurden insbesondere Demonstrationen von Umweltschutzgruppen und First Nations Ziel bedenklicher Dauerüberwachung. Der Beitrag analysiert neue Observationsmethoden wie die Einrichtung von Zentren für die Kooperation von staatlichen Behörden und Privatunternehmen, gegen die sich Betroffene kaum wehren können. 

Zur Geschichte Kanadas gehört maßgeblich die Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen gegen den Widerstand der indigenen Bevölkerung. Für diese haben ambitionierte Siedler*innenprojekte zum Ressourcenabbau stets gravierende Folgen für die Sicherung der eigenen Überlebensgrundlage. Indigene Proteste werden in der Regel als gewalttätig dargestellt und traditionell mit dem primären Mechanismus der Kolonialmacht beantwortet – der Polizei. Entsprechend rabiat wurden bereits frühere Proteste gegen Raubbau poliziert. Die Namen Kanehsatà:ke (Oka), Ts’Peten (Gustafsen-See), Aazhoodena (Ipperwash/Stoney Point) oder auch Kanonhstaton (Kaledonien) bleiben als Beispiele im kollektiven Gedächtnis. Das Polizieren indigener Proteste: Besondere Repression gegen besondere Rechte weiterlesen