Alle Beiträge von CILIP-Redaktion

Psychiatrie und Maßregelvollzug: Ordnungsmächte mit Nebenwirkung

von Ulrich Lewe

Die Allgemeinpsychiatrie und der psychiatrische Maßregelvollzug (MRV) sind in Deutschland über unterschiedliche Gesetzesvorgaben mit dem staatlichen Gewaltmonopol verbunden. Der Artikel beschreibt problematische Entwicklungen, die sich aus dieser Verbindung ergeben, benennt die besonderen Risiken, denen Menschen mit psychosozialen Behinderungen[1] allgemein und besonders im MRV ausgesetzt sind und macht auf die Gefahren der neueren Diskursfigur vom angeblich „gefährlichen Irren“ aufmerksam.

Psychiatrie und MRV sind in Deutschland vor allem über vier Gesetze mit dem staatlichen Gewaltmonopol verbunden. Erstens über das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB), das in § 1831 eine zwangsweise Unterbringung wegen akuter Selbstgefährdung ermöglicht. Zweitens über die Psychisch-Kranken-Hilfe-und-Schutz-Gesetze (meist PsychKHG) der Länder, die eine zwangsweise Unterbringung bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung regeln. Drittens über das Jugendgerichtsgesetz (JGG), das in § 7 für strafmündige Jugendliche ab 14 Jahren eine Unterbringung im psychiatrischen MRV ermöglicht. Und viertens über das Strafgesetzbuch (StGB), das für rechtsbrüchige Bürger*innen zwei unterschiedliche Sanktionssysteme bereithält: den Strafvollzug und die Maßregeln der Besserung und Sicherung nach § 61ff. StGB. Psychiatrie und Maßregelvollzug: Ordnungsmächte mit Nebenwirkung weiterlesen

Abseits vom Fußballfeld: Das BVerfG bedient den „gesunden Menschenverstand“

von Volker Eick

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat im Januar 2025 seine eigene „Zeitenwende“ eingeleitet: Wer als profitorientierter Veranstalter einem Bundesland den Eindruck vermittelt, es bestehe durch ein geplantes Event ein erhöhtes Risiko, muss die zusätzlich anfallenden Polizeikosten bezahlen.

Mit dieser Entscheidung des BVerfG weht ein weiterer Hauch von Trumps „revolution of the common sense[1] durch den deutschen Rechtsstaat. Denn mit dem Dekret des Hohen Gerichts wird Volkes Vorstellung bedient, der ‚reiche Fußball‘ sei für Polizeieinsätze bei Fußballspielen gefälligst stärker zur Kasse zu bitten.[2]

Doch worum geht es? Ende 2014 hatte das Land Bremen sein Gebühren- und Beitragsgesetz reformiert – man darf sagen, aus Haushaltsgründen ‚angepasst‘–, um mehr Einnahmen generieren zu können. Das Land Bremen formulierte in seinem Gesetz, dass eine Gebühr für gewinnorientierte Veranstaltungen mit mehr als 5.000 Teilnehmenden erhoben werden kann, wenn „wegen erfahrungsgemäß zu erwartender Gewalthandlungen vor, während oder nach der Veranstaltung am Veranstaltungsort, an den Zugangs- oder Abgangswegen oder sonst im räumlichen Umfeld der Einsatz von zusätzlichen Polizeikräften vorhersehbar erforderlich wird“. Der Höhe nach sei die Gebühr „nach dem Mehraufwand zu bemessen, der aufgrund der zusätzlichen Bereitstellung von Polizeikräften entsteht.“[3] Nach dieser verwaltungsrechtlichen ‚Aufwärmphase‘ begann 2015 das Spiel mit einem ersten juristischen Anstoß. Abseits vom Fußballfeld: Das BVerfG bedient den „gesunden Menschenverstand“ weiterlesen

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FOCUS: PEOPLE IN PSYCHOSOCIAL CRISIS

People in psychosocial crises. Police intervention instead of support
by Norbert Pütter and Sonja John

The way police deal with people who are in psychosocial crises, who have mental health problems or who have been labelled as such, is currently receiving a lot of attention. Obvious deficits in the use of force are to be eliminated through improved training and further education, without institutional reforms. In the fight against crime, mentally vulnerable individuals are being declared a new risk group against whom preventive intervention is to be taken. With their criminalistic scrutiny, the stigmatization of those affected and their distance from the support system are increasing.

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Menschen in psychosozialen Krisen: Verpolizeilichung statt Versorgung

von Norbert Pütter und Sonja John

Der polizeiliche Umgang mit Menschen, die sich in psychosozialen Krisen befinden, die psychische Probleme haben oder denen solche zugeschrieben werden, erfährt gegenwärtig eine hohe Aufmerksamkeit. Offenkundige Defizite im Einsatz sollen durch verbesserte Aus- und Fortbildungen beseitigt werden, ohne institutionelle Reformen. In der Kriminalitätsbekämpfung werden psychisch Auffällige zu einer neuen Gefährdergruppe erklärt, gegen die präventiv interveniert werden soll. Mit ihrer kriminalistischen Durchleuchtung nehmen die Stigmatisierung der Betroffenen und ihre Distanz zum Unterstützungssystem zu.

Die Ereignisse der jüngeren Vergangenheit haben die Beziehungen zwischen Menschen mit psychischen Problemen und Innerer Sicherheit in den Fokus öffentlicher Diskussionen, politischer und polizeilicher Aktivitäten gerückt. Mit „Ereignissen“ sind zum einen jene spektakulären Anschläge im öffentlichen Raum gemeint – Trier, Münster, Solingen, Magdeburg, Aschaffenburg –, die von Männern begangen wurden, die teils offenkundig, teils ärztlich diagnostiziert erhebliche psychische Probleme hatten. Zum anderen ist in den letzten Jahren deutlich geworden, dass es sich bei den Opfern polizeilichen Schusswaffengebrauchs im Rahmen alltäglicher (schutz-)polizeilicher Einsätze vermehrt um Menschen mit und in psychosozialen Krisen handelt. Menschen in psychosozialen Krisen: Verpolizeilichung statt Versorgung weiterlesen

Literatur

Zum Schwerpunkt 

Einsätze, die Menschen mit psychischen Problemen oder in psychischen Ausnahmesituationen gelten, werden von Polizist*innen als besonders schwierig und herausfordernd wahrgenommen. Den Betroffenen wird unterstellt, dass sie auf „normale“ polizeiliche Ansprache nicht wie gewünscht reagieren, dass ihr Verhalten unberechenbar sei und mitunter wird ihnen eine besondere Gefährlichkeit zugeschrieben. Diese – weithin und seit Jahrzehnten geteilte – Problembeschreibung hat in Deutschland nur vergleichsweise geringen Niederschlag in polizeilicher Publizistik und Wissenschaft gefunden. Ein kleiner Kreis von Expert*innen beschäftigt sich mit dem Thema; überwiegend handelt es sich dabei um Psycholog*innen aus dem Polizeidienst oder den polizeilichen Hochschulen. Empirische Studien über die Interaktionen von Polizei und als psychisch auffällig wahrgenommenen Personen sind selten. Die Debatte wird geprägt von Vorschlägen für eine verbesserte Aus- und Fortbildung. Im Folgenden werden nur Hinweise auf einige jüngere Veröffentlichungen in Deutschland gegeben. Die Defizite gegenüber dem internationalen Stand der Forschung lassen sich daran ablesen, dass in vielen Texten Bezug auf Studien aus anderen Ländern (insbesondere aus dem angloamerikanischen Raum) genommen wird bzw. werden muss. Literatur weiterlesen

Redaktionsmitteilung

So hätte es sein können: Am 27. August 2024 erschießen Polizisten im nordrhein-westfälischen Moers einen 26-Jährigen. Der schon öfter in der Psychiatrie behandelte Mann war auf Passant*innen und auf Polizisten mit Messern losgegangen. Noch am Abend desselben Tages tritt Bundesgesundheitsminister Lauterbach vor die Presse: „Es kann nicht so weitergehen, dass psychisch kranke Menschen derart ‚ausrasten‘, dass der Polizei offenkundig nur noch der Schusswaffengebrauch bleibt, um die Gefahren abzuwehren. Das Hilfs-, Unterstützungs- und Behandlungssystem muss dringend verbessert werden.“

Oder: Als Reaktion auf den Anschlag in Aschaffenburg treffen die Gesundheitsminister*innen der Bundesländer zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen. Sie bilden eine Task Force, die konkrete Vorschläge vorlegen soll, wie den Defiziten in der psychologisch-psychiatrischen Beratung und Versorgung von Geflüchteten begegnet werden kann.

In Wirklichkeit gab es weder den Weckruf von Minister Lauterbach, noch eine Initiative der Gesundheitsminister*innen. Reagiert und in Szene gesetzt haben sich stattdessen die Innenpolitiker- und -minister*innen. Sie verlautbaren das, was sie bei jeder Gelegenheit tun: mehr Personal, mehr Kompetenzen, mehr Befugnisse für die Polizei. Dabei folgen sie dem klassischen Muster: Ein sozialer Missstand wird so lange ignoriert und umgedeutet, bis er als „Sicherheitsproblem“ erscheint und entsprechend „behandelt“ werden wird. Wir beleuchten in den Beiträgen unseres Schwerpunkts verschiedene Aspekte der aktuellen Versicherheitlichung der Psyche. Redaktionsmitteilung weiterlesen

137 (März 2025) Menschen in psychosozialen Krisen

Editorial

Menschen in psychosozialen Krisen
Norbert Pütter und Sonja John
Die rechtliche Perspektive
Michael Bäuerle
Todesschüsse auf Menschen in/mit psychischen Krisen
Norbert Pütter
Auffällig heißt nicht gleich gefährlich
Interview mit Florian Stoeck
Umgang mit „schwierigen Personen“
René Talbot
Polizeibeauftragte und Eingaben psychisch Auffälliger
Sonja John
Psychiatrie und Maßregelvollzug
Ulrich Lewe
US-Polizei und Schwarze autistische Jugendliche
Elizabeth Drame, Tara Adams und Veronica Nolden

Bundesverfassungsgericht: Polizeikosten für „Hochrisikospiele“
Volker Eick

Inland aktuell
Meldungen aus Europa
Literatur und Aus dem Netz
Summaries
Autor*innen dieser
Ausgabe

Entwaffnende Initiative für die Polizei in Lausanne

Volker Eick

Im September 2023 lancierten die Grünen ein „Postulat“ in ihr Hauptstadtparlament im Kanton Waadt: das „Pilotprojekt für eine bürgernahe Polizei ohne Schusswaffen“.[1] Verwiesen wurde darin u. a. auf England, wo nur 5 bis 10 % der Polizeikräfte Schusswaffen trügen, und darauf, dass der überwiegenden Teil der Polizeiarbeit ohnehin waffenfrei sei: „Die Konferenz der Kantonalen Polizeikommandanten (KKPKS) berichtet, dass im Jahr 2022 die bei der Schweizer Polizei angestellten Beamten schweizweit in sechs Fällen von ihren Schusswaffen Gebrauch machten und dabei in zwei Fällen den Tod verursachten.“ Entwaffnende Initiative für die Polizei in Lausanne weiterlesen

Die koloniale Kontinuität der Überwachung

Release-Veranstaltung für das CILIP-Heft 136 zum Thema „Polizei und Kolonialismus“

Die Geschichte der Überwachung ist eng mit der kolonialen Herrschaft Europas verbunden. Schon im 19. Jahrhundert setzten Kolonialmächte neue Technologien wie Fotografie, Fingerabdrücke und Passsysteme ein, um die Bevölkerungen in den besetzten Gebieten zu erfassen, zu kategorisieren und zu kontrollieren. Diese Methoden dienten nicht nur der Sicherung ihrer Herrschaft, sondern auch der ökonomischen Ausbeutung und rassistischen Segregation.

26. Februar, 19:00 Uhr
Aquarium, Skalitzer Straße 6, Berlin
U8 Kottbusser Tor

Mit der formalen Unabhängigkeit vieler kolonialisierter Staaten endete diese Form der Überwachung nicht. Vielmehr wurde sie weiterentwickelt und technologisch perfektioniert. Bis heute profitieren ehemalige Kolonialmächte und westliche Unternehmen vom Geschäft mit Überwachungstechnologien. Schon während des Kalten Krieges avancierten sie zum Exportschlager. Heute beliefern Überwachungshersteller aus Europa, den USA und Israel Diktatoren in aller Welt mit Trojanern, Videoüberwachungstechnologie und modernsten biometrischen Systemen. Die digitale Kontrolle der Gegenwart folgt oft denselben rassistischen und machtpolitischen Logiken wie ihre historischen Vorläufer.

Welche Rolle spielten koloniale Überwachungsmechanismen für die Entwicklung moderner Sicherheits- und Kontrollsysteme? Wie setzt sich diese Tradition in der heutigen globalen Überwachungsindustrie fort? Wer sind die neuen Akteur*innen, und welche politischen und wirtschaftlichen Interessen stehen hinter dem weltweiten Export von Überwachungstechnologie?

Diese und weitere Fragen beleuchten wir in unserer Veranstaltung mit Ingo Dachwitz, der gerade das Buch „Digitaler Kolonialismus – Wie Tech-Konzerne und Großmächte die Welt unter sich aufteilen“ mit herausgegeben hat.

Veranstaltet vom Institut für Bürgerrechte & öffentliche Sicherheit e.V./ Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei/CILIP

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FOCUS: POLICE AND COLONIALISM

Police and Colonialism: An Introduction
by Dirk Burczyk

The history of police in the colonies of the 19th and 20th centuries is closely tied to the development of police as a central institution of „security and order“ in general. Colonial police forces were not simply copies of individual police models, such as the gendarmerie. As with colonialism in general, police work was characterized by racist attributions, disciplinary techniques and the enforcement of geostrategic interests..

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