Neue Wachtumsringe im SIS – Ausbauplanung und Datenstatistik

von Heiner Busch

Ende März 1995 ging das Schengener Informationssystem (SIS) mit sieben angeschlossenen Staaten ans Netz. Inzwischen ist nicht nur die Zahl der Teilnehmer gestiegen, sondern auch die der im SIS gespeicherten Daten. Weiteres Wachstum ist vorprogrammiert.

Das Schengener Informationssystem ist das erste supranationale Fahndungssystem, das von lokalen Terminals aller beteiligter Staaten abgefragt werden kann. Es besteht aus einer zentralen Komponente mit Sitz in Strasbourg (C.SIS) und daran angeschlossenen nationalen Systemen (N.SIS), in denen der gesamte Datenbestand parallel gespeichert wird.

Verantwortlich für die Ausschreibungen sind jeweils nationale Zentralen – in Deutschland das BKA. Diese Stellen werden auch eingeschaltet, wenn ein „Fahndungstreffer“ erfolgt – daher auch ihr Name: SIRENE (Supplementary Information Request at the National Entry). Über ein eigenständiges Kommunikationsnetz liefern sie Informationen, die weit über die kurzen SIS-Datensätze hinausgehen.

Am 27. März 1995 ging das SIS mit sieben beteiligten Staaten ans Netz: den fünf Erstunterzeichnern des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) – den Benelux-Staaten, Frankreich und der BRD – sowie Spanien und Portugal. Zum 1. Dezember 1997 kamen Italien, Österreich und Griechenland hinzu. In der Warteschleife stehen noch Dänemark, Schweden und Finnland, die voraussichtlich im kommenden Jahr dem SIS-Club beitreten, sowie die beiden Nicht-EU-Staaten Island und Norwegen. Großbritannien und Irland werden sich zumindest teilweise am SIS beteiligen. Die EU-Beitrittskandidaten aus Ost- und Südosteuropa werden auf kurz oder lang ebenfalls hinzustoßen.

Die anstehende Beitrittswelle wird technische Neuerungen erzwingen. Derzeit wird an der 2. Phase des SIRENE-Netzes gearbeitet. Hauptproblem des SIS selbst, das ursprünglich für acht Teilnehmerstaaten ausgelegt war, ist nicht die steigende Datenmenge, sondern die Zunahme der angeschlossenen nationalen Systeme. Für die drei Neuanschlüsse im Jahr 2000 wird das SIS zunächst zum SIS 1+ hochgerüstet. Das in Planung befindliche SIS 2 soll den Beitritt der weiteren Kandidaten ermöglichen.

Technisches Instrument der Abschiebung

Zum Jahreswechsel 1998/99 erreichte das SIS einen Bestand von über 8,6 Mio Datensätzen. Davon bezogen sich 7,4 Mio auf Sachen (Autos, Banknoten, gestohlene Personalpapiere, Waffen, Blankodokumente). Den 1,2 Mio Personendatensätzen entsprachen wegen der hohen Zahl sog. Aliasgruppen (430.000) „nur“ 795.000 reale Personen. Im Bereich der Personenfahndung präsentiert sich das SIS auch weiterhin als Instrument einer repressiven Migrations- und Asylpolitik. Rund 88% (1.1.98: 80%, 1.1.97: 89%) aller ausgeschriebenen Personen waren „Dritt-ausländerInnen“, die abgeschoben oder an den Grenzen zurückgewiesen werden sollten (Art. 96 SDÜ).[1]

Mit etwa 8.600 (knapp über 1%) Ausschreibungen fällt der Fahndungszweck „Festnahme mit dem Ziel der Auslieferung“ (Art. 95) statistisch kaum ins Gewicht. Erheblich mehr Daten (37.000 Personen) betreffen die Aufenthaltsermittlung von (nicht beschuldigten) Zeugen und von Personen, die wegen geringerer Straftaten vor der Justiz erscheinen sollen (Art. 98). Darüber hinaus enthält das SIS 12.000 Ausschreibungen zur polizeilichen Beobachtung (Art. 99).

Ein wesentlicher Faktor für die Zunahme der Ausschreibungen war der Anschluß von Italien, Österreich und Griechenland zum 1. Dezember 1997. Allein Italien hatte Ende 1998 rund 220.000 Personen im SIS ausgeschrieben und wurde damit zum zweitgrößten Datenbesitzer unter den SIS-Staaten. 88% der italienischen Personen-Ausschreibungen bezogen sich auf Art. 96 SDÜ. Mit 350.000 ausgeschriebenen Personen – also fast 44% aller SIS-Personendaten – bleibt Deutschland nach wie vor auf Rang 1 der Schengenliste (davon 98% Art. 96). Auf Platz 3 folgt Frankreich mit 113.000 Personen (60% Art. 96).

Bestand der Ausschreibungen im SIS (ohne Aliasgruppen)

1.1.1996 1.1.1997 1.1.1998 1.1.1999
Ausschreibungen gesamt D
gesamt
2.071.672
3.374.556
2.319.605
4.183.695
2.308.018
5.230.694
2.477.921
8.259.226
Art. 95
Festnahme/ Auslieferung
D
gesamt
1.032
3.697
1.393
4.765
1.824
6.576
2.355
8.602
Art. 96
Abschiebung/ Zurückweisung
D
gesamt
412.145
506.244
444.019
536.022
289.993
603.497
344.598
703.688
Art. 95-99
Personenfahndung gesamt
D
gesamt
415.548
568.735
448.473
599.968
294.572
757.190
350.016
795.044
Art. 100
Sachfahndung
D
gesamt
1.656.124
2.805.821
1.871.132
3.583.727
2.013.446
4.473.504
2.127.905
7.464.182

 

Datenumsatz

Die bisher vorgelegten Statistiken zeigen die Zahl der im SIS befindlichen Datensätze bzw. der ausgeschriebenen Personen zu einem bestimmten festgelegten Stichtag – in der Regel zum Jahresende. So läßt sich zwar sagen, ob der Bestand der Datensätze in einem Jahr zu- oder abgenommen hat, nicht aber wieviele Personen in einem bestimmten Zeitraum neu erfaßt und wieviele gelöscht wurden. Auch die Löschungsgründe bleiben unklar.

Nur ein Teil der Löschungen – so kann auf jeden Fall festgehalten werden – ist auf Fahndungserfolge zurückzuführen. Die Mehrheit der Fahndungserfolge (56%) bezieht sich auf Art. 96, also auf ausländische Menschen, die aufgrund ihres Aussehens eher in den zweifelhaften Genuß einer Kontrolle kommen. Obwohl die Zahl der Sachfahndungsdaten erheblich höher ist, machen Sachfahndungserfolge nur gerade 26% aus. Sie betreffen vor allem Kraftfahrzeuge. Erfolge werden also vor allem dort erzielt, wo aufgrund der Größe des Objekts oder äußerlicher Kriterien Kontrollen einfacher und damit auch häufiger sind.

Weitere Löschungen erfolgen wegen des Ablaufs der in Art. 112 SDÜ vorgesehenen Prüffristen. Diese Fristen, nach deren Ende die weitere Erforderlichkeit einer Speicherung im SIS hinterfragt werden muß, betragen für Personendaten in der Regel drei Jahre. Nur für Daten der polizeilichen Beobachtung und gezielten Kontrolle (Art. 99) gilt eine einjährige Frist. Da das SIS im März 1995 gestartet wurde, war mit einem größeren Anteil von Löschungen wegen Fristablauf erst ab März 1998 zu rechnen. Bezeichnenderweise weist die Statistik über die monatliche Bestandsentwicklung einen abrupten Rückgang der Daten nach Art. 98 (Aufenthaltsermittlung) von 76.000 im März 1998 auf 43.000 im April auf. Die Daten zur polizeilichen Beobachtung reduzierten sich von August auf September 1998 um 13.000, die zur gezielten Kontrolle von Juli auf August um rund 10.000.

Die bisher größte Löschungsaktion fand jedoch schon 1997 statt. Nach einem Bericht des BKA löschte die deutsche SIRENE in ersten Halbjahr 1997 insgesamt 207.000 Ausschreibungen nach Art. 96, damals fast die Hälfte der einschlägigen deutschen Fahndungsnotierungen. Es handelte sich um Daten, die beim Start des SIS im März 1995 aus dem deutschen Fahndungssystem INPOL übernommen worden waren, aber bereits vor 1994 in INPOL gespeichert waren. Diese Löschung bewirkte einen Rückgang des Bestandes deutscher Art. 96-Ausschreibungen im 1. Halbjahr 1997 um 181.000, von 440.000 auf 259.000. Anders ausgedrückt: im gleichen Zeitraum waren rund 28.000 neue Ausschreibungen nach Art. 96 hinzugekommen. (Diese Zahl ergibt sich aus der Differenz der angegebenen Löschungen – 207.000 – und dem Bestandsrückgang im selben Zeitraum – 181.000 –, zu der die Zahl der einschlägigen Treffer – geschätzte 2.000 – zu addieren ist.)

Weitere Großlöschungen von Art. 96-Daten fanden seither nicht mehr statt. Für 1998 zeigt sich ein kontinuierlicher Anstieg des Bestandes in dieser Datenkategorie um insgesamt 102.000 Ausschreibungen (alle 10 SIS-Staaten). Zu dieser Zahl müssen die „Treffer“-Fälle (insgesamt 7.500) und die Regellöschungen aufgrund von Fristablauf (unbekannt) addiert werden, um die Zahl der Neueinspeicherungen zu erhalten. Diese dürfte bei monatlich 10.000 liegen.

Kontrollpraxis

Großlöschungen nicht mehr benötigter Daten wie 1997 belegen trotz der steigenden Trefferzahlen eine geringe Effizienz der (fast-) EU-weiten elektronischen Fahndung. Effizient war das SIS nur insofern, als es die mit der elektronischen Fahndung verknüpfte Kontrollpraxis auf europäischer Ebene durchsetzte. Praktisch bedeutet das, daß nicht ein konkreter Verdacht gegen eine bestimmte Person den Ausschlag dafür gibt, daß sie kontrolliert wird, sondern das Vorhandensein eines Abfrageterminals verbunden mit entsprechenden äußerlichen Anhaltspunkten. Diese Art der verdachtsunabhängigen Kontrolle war traditionell nur an den Grenzen erlaubt. Schon die Einführung nationaler Fahndungssysteme hatte die Verdachtskriterien verschoben. Unter Berufung auf das SDÜ wurde die „Schleierfahndung“ und damit die Praxis der verdachtsunabhängigen Kontrollen seit 1994 offiziell auf das Inland ausgeweitet.

Dies zeigt sich deutlich an der SIS-Abfragestatistik für Deutschland: Von den insgesamt rund 65 Mio. SIS-Anfragen aus Deutschland 1998 gingen gerade 52,05% auf das Konto der Grenzschutzdirektion und damit vorwiegend auf die Grenzkontrollen und mobilen Streifen im Hinterland. BKA und Zollkriminalamt sind nur für einen unbedeutenden Anteil von Anfragen (zusammen unter 2%) verantwortlich. Unter den Ländern sticht Bayern, das Ende 1994 als erstes Bundesland seiner Landespolizei die Befugnis zur verdachtsunabhängigen Kontrolle einräumte, mit 18,46% hervor. Es folgen Nordrhein-Westfalen mit 10,96% (bisher keine ausdrückliche gesetzliche Regelung zur Schleierfahndung), Baden-Württemberg mit 7,35% und Niedersachsen mit 4,12%.

Heiner Busch ist Redakteur und Mitherausgeber von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
[1] Die in diesem Artikel enthaltenen Zahlenangaben stammen aus folgenden Quellen: BKA – Deutsche SIRENE: Internationale Fahndung im Schengener Informationssystem, Wiesbaden 1999; den vermutlich aus dem Bundesinnenministerium stammenden Statistiken: „Bestandsentwicklung des SIS“ (Selektion Schengenländer und Gesamt, monatliche Entwicklung) sowie „Anteil der Bundesländer an den Anfragen im SIS“.