Literatur

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Die Älteren hatten schon damals gedacht, die Ära der Geheimdienste gehe zu Ende, als mit dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ das Feindbild des vorgeblich den Freien Westen bedrohenden Weltkommunismus in sich zusammenbrach. Genährt wurde diese leichtfertige Hoffnung durch das offenkundige Versagen der Dienste auf der einen und ihre eklatante, in ihrer Natur begründete Unvereinbarkeit mit einem demokratischen Gemeinwesen auf der anderen Seite. Die jüngere Geschichte lehrt aber auch, dass über die Existenz oder Nichtexistenz von Geheimdiensten nicht vernünftige Gründe entscheiden, sondern staatliches Herrschaftsinteresse. „Geheime Nachrichtendienste“ – so die begriffliche Verharmlosung einer systematisch im Verborgenen wirkenden Behörde – sind sozusagen das letzte Refugium staatlicher Machtentfaltung. Aller demokratischen „Einhegungsversuche“ zum Trotz gilt für die Dienste, dass sie am lockeren Zügel des Rechtsstaats gehalten werden: generalklauselartige Befugnisnormen in den Geheimdienstgesetzen, Außerkraftsetzen gerichtlicher Kontrolle, rudimentärste politische Kontrolle, dominiert von denjenigen, die die zu kontrollierende Regierung politisch tragen. Dieses Muster gilt besonders ausgeprägt für die Auslandsgeheimdienste, denn bei den Zielobjekten handelt es sich um fremde Staaten oder deren BürgerInnen. Gegenüber deren Interessen geht das – von den Diensten definierte – eigene Staatsinteresse immer vor. Das Muster pseudodemokratischer Ermächtigungen staatlicher Macht gilt aber auch für die Inlandsgeheimdienste; denn wenn der „Staat in Gefahr“ ist, dann darf man mit Grundrechten nicht zimperlich sein.

Die jüngste Vergangenheit lehrt, dass jedes Versagen der Geheimdienste nicht zu deren Abschaffung, sondern zu deren weiteren Ausbau führt. Weil nicht falsch, überflüssig, schädlich sein kann, was nicht sein darf, wird mit jedem Skandal, mit jedem Versagen das Mantra bekräftigt, dass es einer „Reform der Geheimdienste“ bedürfe. Selbst wenn unter den Augen der Dienste zehn Morde verübt werden, kennt die herrschende Politik nur eine Antwort: Weiter so!

Bund-Länder-Kommission Rechtsterrorismus: Abschlussbericht vom 30. April 2013, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschue ren/2013/abschlussbericht-kommission-rechtsterrorismus-lang.pdf

Wer die herrschende Sicht und ihre Schlussfolgerungen im Original genießen will, sollte diesen Bericht studieren. Auf 365 Seiten hat die von der Innenministerkonferenz eingesetzte und doppelt ausgewogen (Bund und Länder, CDU und SPD sind vertreten) besetzte Kommission parallel zum Untersuchungsausschuss das „behördliche Versagen“ gegenüber dem NSU aufgearbeitet und Empfehlungen ausgesprochen. Wer die deutsche „Sicherheitsarchitektur“ und die behördlich anerkannte Chronologie des NSU kennt, kann den Bericht sogleich auf S. 171 aufschlagen. Hier beginnt das 5. Kapitel: „Problemstellung und -analyse“. Schon aus den Überschriften der Teilkapitel erschließen sich die Problemlösungen, auf die die Kommission sich verständigt hat.

Einige Hinweise in Kürze: Kapitel 5.1 gilt den grundsätzlichen Fragen: „Abschaffung des Verfassungsschutzes“: Nein, er habe sich „grundsätzlich bewährt“ und sei „eine tragende Säule der Sicherheitsarchitektur“ (S. 173). „Zentralisierung“ beim Bund: Nein, auch Weisungsrecht und Kontrolle der Landesämter durch den Bund wird für nicht zulässig gehalten (S. 175-177). Keine „Übertragung von Teilaufgaben“ auf das Bundesamt (S. 178 f.) und keine Bedenken gegen die freiwillige Zusammenlegung von Landesämtern (S. 179 f.). Kapitel 5.2: Das „Trennungsgebot“ soll beibehalten, jedoch durch „sinnvolle Regelungen der Zusammenarbeit“ (S. 185) konkretisiert werden; im Hinblick auf die gegenseitigen Amtshilfen sollte dies durch „untergesetzliche Zusammenarbeitsvorschriften“ (S. 193) geregelt werden. Kapitel 5.3 gilt der „Verbesserung der Zusammenarbeit“. Die Kommission schlägt vor, das Bundesamt gesetzlich zur Zentralstelle zu erklären, wodurch der gegenseitige und umfassende Informationsaustausch zwischen Landesbehörden und Bundesamt sichergestellt werden soll. Darüber hinaus sollen bei länderübergreifenden Komplexen gemeinsame Auswertungen verpflichtend gemacht werden (S. 203-207). Die bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten der Kooperation mit der Polizei und der Organisation von Ermittlungsverfahren sollen ausgeschöpft werden. Die Vorschriften zur Informationsweitergabe müssten zwischen Bund und Ländern vereinheitlicht werden (S. 240). Kapitel 5.4: V-Leute sollen zur „verdeckte(n) Informationsgewinnung“ weiter eingesetzt werden; ihren Einsatz von einer richterlichen Anordnung abhängig zu machen, lehnt die Kommission ab (S. 292). Der Sprachgebrauch soll vereinheitlicht, Rahmenbedingungen des Einsatzes sollen gesetzlich bestimmt werden (S. 283 f.); auch eine Regelung über die Begehung von Straftaten durch V-Leute sei zu schaffen (S. 301).

Die folgenden drei Teilkapitel beschäftigen sich mit den „einheitliche(n) Standards bei der Informationsauswertung im Verfassungsschutz“ (Kap. 5.5, Fazit der Kommission: kein Änderungsbedarf); den zu erweiternden Zuständigkeiten der Generalbundesanwaltschaft (Kap. 5.6); der „Dienst- und Fachaufsicht“ (Kap. 5.7: Ergebnis für die Polizei – keine „strukturellen Änderungen“ erforderlich, für den Verfassungsschutz – Verbesserung der internen Kontrolle durch Beauftragte oder eine Abteilung in der Behörde). Das letzte Teilkapitel zur „Aus- und Fortbildung“ ist ein Plädoyer für vernetzte Ausbildungsangebote zwischen Bund und Ländern, Polizeien und Verfassungsschutz.

Poscher, Ralf; Rusteberg, Benjamin: Die Aufgaben des Verfassungsschutzes. Zur funktionalen Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten, in: Kritische Justiz 2014, H. 1, S. 57-71

Der Aufsatz stellt den Versuch dar, den Verfassungsschutz durch den Verweis auf seine „eigentliche“ Aufgabe in die Schranken zu verweisen. Ausgehend vom Trennungsgebot argumentieren die Autoren, dass eine funktionale Eigenständigkeit der Verfassungsschutzbehörden (gegenüber der Polizei) nur durch ihre besondere Aufgabe begründet werden könne: „Die Information der Bundesregierung ist vielmehr die eigentliche Bestimmung des Verfassungsschutzes.“ (S. 63). Die Befugnisnormen des Verfassungsschutzgesetzes seien in diesem Lichte auszulegen. Sowohl für die Informationserhebung wie für deren Weitergabe ergeben sich daraus Konsequenzen, die im Ergebnis die Rechtswidrigkeit gegenwärtiger Praxis bzw. den Novellierungsbedarf des Gesetzes bedeuten. Mehr als die nächste Verrechtlichungsrunde kann von diesem Ansatz allerdings nicht erwartet werden.

Humanistische Union; Internationale Liga für Menschenrechte; Bundesarbeitskreis Kritischer Juragruppen (Hg.): Brauchen wir den Verfassungsschutz? Nein! Memorandum, Berlin 2013, 86 S. (auch unter: https://www.verfassung-schuetzen.de/wp-content/uploads/2013/09/HU2013_Memo-VS.pdf)

Die drei Bürgerrechtsorganisationen haben in dieser Broschüre die Argumente zur Abschaffung der deutschen Inlandsgeheimdienste zusammengefasst. Der staatlich-bürokratische „Verfassungsschutz“, das führen die Kapitel mit Rückgriff auf dessen über 60-jährige Geschichte aus, ist „schädlich“, „entbehrlich“ und „unkontrollierbar“. Es gebe weder eine Notwendigkeit, noch eine demokratieverträgliche Variante, dieses Instrument aus der Zeit des Kalten Krieges für das 21. Jahrhundert zu „reformieren“. Bürgerrechtlich geboten, so die Schlussfolgerung ist nur ein „Fazit: Der ‚Verfassungsschutz‘ ist ersatzlos abzuschaffen.“

Wetzel, Wolf: Der NSU-VS-Komplex, Münster (Unrast) 2013, 2., überarbeitete u. erweiterte Aufl., 180 S., 14,– Euro

Der Titel ist vielversprechend. Der Autor ist langjährig aktiv im autonom- anarchistischen Spektrum. Die Lektüre ist enttäuschend. Selbstverständlich gibt es weite Passagen in diesem Band, die zutreffend sind: etwa die Bagatellisierung des Rechtsextremismus, der sich aus der alten BRD bis in die Gegenwart gerettet hat (Kapitel 3) oder die Ausführungen zur Abschaffung der Geheimdienste (Kapitel 15): „Der Verfassungsschutz macht keine Fehler – er ist der Fehler“ (S. 121). Der Autor benennt auch Fragen, die sich einstellen, wenn man bedenkt, was über den NSU seit November 2011 bekannt wurde: Kann es so viel behördliche Inkompetenz wirklich gegeben haben? War der NSU nur das bekannte Trio? Welche Beziehungen gab es zwischen ihm, seinem unterstützenden Umfeld und den Verfassungsschützern? Was enthielten die vernichteten Akten wirklich? Ist die Geschichte plausibel, die die behördlichen und parlamentarischen Aufklärer erzählen?

Wolf Wetzels Antworten auf diese Fragen sind aber wenig plausibel. Das liegt ganz wesentlich an seinen Quellen, die vor allem aus Medienberichten bestehen. Ein Beispiel: Böhnhardt und Mundlos hätten sich nicht selbst erschießen können, weil im Wohnwagen zwei Hülsen gefunden wurden, die Tatwaffe aber ein Repetiergewehr war, bei dem die Hülsen erst beim Nachladen ausgeworfen werden. Quelle der 2-Hülsen- Geschichte: „Focus“ – wer möchte sich darauf ernsthaft verlassen?!

Auch der Zusammenhang, in den der Autor den „NSU-VS-Komplex“ stellt, kann nicht überzeugen. Er präsentiert eine einfache Antwort: Alles geplant. „Der Tatbeitrag staatlicher Behörden an den neun Morden (der an der Polizisten wird ausgenommen, N.P.) besteht darin … (:) er diente … der Legitimation der herrschenden Sicherheitspolitik, der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung“. Indem sie den NSU gewähren ließen, sei es den Behörden ermöglicht worden, „die ermordeten Kleinhändler in die Blutspur der organisierten Kriminalität im ausländischen Milieu zu legen“ (S. 164). So schlägt Wetzel am Ende nicht nur den Bogen zum behördlich-politischen Rassismus, sondern auch zum Anti-Terrorismus, der den Hauptfeind im Islamismus sieht. Es sei kein Zufall, dass unauffällige, integrierte migrantische Kleinhändler die Opfer waren und die Behörden die Täter in deren Herkunftsmilieu suchten. Alles geplant: „Das Konstrukt von den ‚tickenden Zeitbomben‘, von den ‚Schläfern‘, die nur darauf warten loszuschlagen, bekam so seine Leichen, seine Beweiskraft.“ Das ist Wetzels Schlusssatz. Wer kritisch ist, sollte sich mit derart schlichten Antworten nicht zufrieden geben. (alle: Norbert Pütter)

Sonstige Neuerscheinungen

Lasley, James: Los Angeles Police Department Meltdown. The Fall of the Professional- Reform Model of Policing. Boca Raton, Florida (CRC Press) 2013, 271 S., 57,60 Euro

Diese Geschichte beginnt wie eine Räuberpistole, und letztlich ist sie das auch. James Lasley hat im Dezember 1991 – notabene: nach den brutalen Übergriffen auf Rodney King – rund 350 PolizistInnen Fragebögen vorgelegt und darauf – vor den Riots von 1992 – Antworten erhalten. Fünf Prozent aller in Los Angeles tätigen Polizeibeamten hatte Lasley befragt. Doch als er die Antworten auswerten wollte, waren sie verschwunden – bis 2006.

Erst dann konnte er die hier in neun Kapiteln behauptete „Kernschmelze“ des Los Angeles Police Department (LAPD) – die seit den 1950er Jahren weltweit Aufmerksamkeit erregende und für Jahrzehnte in den USA stilbildende uniformierte Schlägertruppe – in einem Duktus beschreiben, als seien nicht polizeiliche Korruption und Gewalt, rassistische Übergriffe und tote Polizeiopfer der eigentliche Skandal, sondern der Niedergang des LAPD-Modells. Dieses Modell des „quasi-military style of management“ der „thin blue line“ (S. 5) firmierte über Jahre als „professionelle Polizeiarbeit“. Lasley sagt nicht, was die „Kernschmelze“ ausmacht, er kann insgesamt nicht definieren, was er mit welchem Begriff wann meint.

Aber er sagt, die „thin blue line“ der Polizeichefs William Parker (1950-1966), Edward Davis (1969-1977) und Daryl Gates (1978-1992) – weitere Polizeichefs blieben bis zum Beginn des neuen Jahrtausends nur Lückenbüßer – habe auf einer Weltsicht basiert, in der es (im Wortsinne) Schwarz und Weiß sowie (dito) Gut und Böse gab. In diesem Sinne beschreibt das Buch den Weg zum (vermeintlichen) communityoriented policing als Niedergang.

Dass der Polizeiapparat von Los Angeles mit seinen rund 7.000 Beamten so zerrüttet war, dass er seit Anfang der 1990er Jahre über ein Jahrzehnt unter der Aufsicht Washingtons stand und ausgerechnet William „Bill“ Bratton von 2002 bis 2009 aus korrupten Quasi-Kriminellen wieder eine gesetzesaffine Polizeitruppe aufbauen sollte, erwähnt Lasley nicht, wohl aber – und das sind die drei Pluspunkte dieser Publikation –, dass er eine (wie auch immer geartete) Bürgerpolizei nicht will und die Meinungen der Beamten für zentral hält. Das Buch faksimiliert daher umfangreich eben jene und vermeldet, dass alle ausgefüllten Fragebögen online zur Verfügung stehen. Es macht drittens sogar noch einen wichtigen Punkt: Es gibt keine lineare Entwicklung des Polizeiapparats vom „politischen“ über das „professionelle“ zum „community“ Modell. Lasley kann diese Modelle nicht in analytischer Perspektive charakterisieren, findet dafür aber immerhin das Bild eines „schwingenden Pendels“, das durch politische oder polizeiliche Skandale angetrieben sei und mal mehr und mal weniger Bürgernähe, mal mehr und mal weniger Professionalität bringen kann. Das ist erfrischend: Polizeiarbeit mit Bürgernähe ist keine professionelle Polizeiarbeit. Lasley hat mit beeindruckendem Material lesenswerte Fragen aufgeworfen zwischen „Kernschmelze“ und Räuberpistole. Es schadet nicht, dass er das nicht wollte.

Cockcroft, Tom: Police Culture. Themes and Concepts. London (Routledge) 2013, 168 S., 30,27 Euro

„Wissen Sie, die Haltung war, ‚das sind ja nicht unsere Leute‘, so sahen das manche Kollegen.“ So oder ähnlich kann man es über die (Nicht-) Ermittlungen im NSU-Fall von Kriminalbeamten hören. Und mittlerweile auch lesen (FAZ v. 22.10.2013, S. 5). Erst mit dem Tod von Michelle Kiesewetter, einer deutschen Polizistin, habe sich das geändert. Dass prügelnde Polizisten es in der Gerichtsverhandlung, falls es dazu überhaupt kommt, partout nicht gewesen sein wollen und die werten Kollegen das stets bestätigen können, schließlich, das Selbstverständnis, mit dem der Polizist sein Althussersches „He, Sie da!” anlasslos an den Passanten richtet, all dies hat über Jahrzehnte die Frage nach einer Polizeikultur und, etwa mit Raphael Behr (2006), Polizistenkultur aufgeworfen.

Cockcrofts Band zeichnet die dazugehörigen akademischen Diskussionen für den US-amerikanischen und britischen Kontext in sechs Kapiteln nach. Insbesondere Arbeiten zum Ermessensspielraum der Beamten – zwischen Berufung und Beruf – und dies nicht trotz, sondern wegen des staatlichen Gewaltmonopols, ist ein wiederkehrendes Thema, das auch historisch behandelt und eingeordnet wird. Polizeiliches Sendungsbewusstsein, Zynismus, beständiges Misstrauen, Isolation und Kumpanei der Polizei als kulturelle Marker werden thematisiert. Trotz der verblüffenden Übereinstimmungen im Selbstbild, Handeln (und Handel – ein Kapitel widmet sich der Korruption im Polizeiapparat) der Polizei auch in international vergleichender Perspektive, die unlängst Loftus (2009) herausgearbeitet hat, lässt Cockcroft die Frage nach Polizeikultur im Singular oder Plural letztlich offen.

Unüblich für solcherart Publikationen, ordnet Cockcroft Polizeikultur( en) in einen politökonomischen Kontext – hier: die Spätmoderne (S. 90 ff.) – ein, der auch das Verhältnis von Sicherheitsgewährleistung und Klassenkonfigurationen umfasst. Auch der Gender-Bias im Apparat Polizei wird thematisiert. Der Band ignoriert zwar die kontinentaleuropäische Forschung vollständig. Wer sich für Themen und Konzepte von kriminologischer Forschung zu Polizeikultur(en) interessieren, findet hier dennoch ein lesenswertes Buch, auch wenn es ihm hinsichtlich des ausgrenzenden Charakters polizeilicher Alltagstätigkeit (selbst mit Blick auf racial profiling/policing) an kritischer Distanz zum Gegenstand mangelt.

(beide: Volker Eick)

Cüppers, Martin: Walther Rauff – in deutschen Diensten. Vom Nazi- Verbrecher zum BND-Spion, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2013, 438 S., 49,90 Euro

Walther Rauff war ein hochrangiger Naziverbrecher, der u.a. für die Entwicklung der Gaswagen verantwortlich war, mit denen mehrere hunderttausend Juden ermordet wurden. Auch auf anderen Stationen wirkte der Überzeugungstäter Rauff bei der Umsetzung des Holocaust mit. Nach seiner Gefangennahme durch die Amerikaner 1944 in Italien gelang ihm die Flucht zunächst nach Syrien und danach (samt seiner Familie) nach Ecuador, bevor er sich endgültig in Chile niederließ. Über einen Mittelsmann nahm der Bundesnachrichtendienst (BND) Ende 1958 gezielt Kontakt mit Rauff auf und führte ihn zunächst als „Gelegenheitsquelle“, bevor er Ende 1959 zum festen Mitarbeiter für Südamerika avancierte. Verwundern kann dies nicht, waren in der Anfangszeit des BND doch rund 90 Prozent des Personals NS-belastet oder kamen aus der Wehrmacht. 1965 betrug die Quote immer noch 50 Prozent. Die letzten NS-belasteten Mitarbeiter schieden erst Anfang der 1990er Jahre aus, wie eine Historikerkommission Anfang Dezember 2013 in einem ersten Zwischenbericht veröffentlichte.

Nahezu zeitgleich zur BND-Kontaktaufnahme fanden eher widerwillig und nachlässig geführte Ermittlungen der Hannoveraner Staatsanwaltschaft gegen den Kriegsverbrecher statt, die von der deutschen Botschaft zudem mutwillig verschleppt wurden (S. 305 ff.). Da kann es nicht verwundern, dass Rauff in den frühen 1960er Jahren noch zweimal unbehelligt in die Bundesrepublik ein- und ausreisen konnte, obwohl seit 1961 ein Haftbefehl gegen ihn bestand. Gleichwohl trennte sich der BND im Januar 1963 vorsichtshalber von seinem Mitarbeiter und datierte die „Abschaltung“ zudem sogar noch vor (S. 327 f.). Dass auch spätere offizielle Auslieferungsersuchen an Chile erfolglos blieben, ist insoweit verständlich, da Rauff aus früherer Zeit mit dem Diktator Augusto Pinochet, mit Manuel Contreras, dem Chef des berüchtigten Geheimdienstes DINA, sowie mit anderen hohen Offizieren der Militärjunta gut bekannt war. Als Walther Rauff im Mai 1984 in seinem chilenischen Exil verstarb, zeigten „alte Kameraden“ bei seiner Beerdigung denn auch ungeniert den Hitlergruß.

Durch akribische Recherchen in den verschiedensten Archiven hat der Autor, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle Ludwigsburg, diese und andere Fakten zusammengetragen und durchgängig belegt. Neben einer umfassenden Rauff-Biografie ist somit ganz nebenbei auch ein Sittengemälde des frühen Nachkriegsdeutschlands entstanden. Manchmal etwas sehr kleinteilig, dennoch ein lesens- und empfehlenswertes Buch. (Otto Diederichs)