Höchste Polizeidichte Europas: „Das Ausmaß der Gewalt wird in Belarus stärker sein“

Interview mit Olga Karatsch

 Unter den Bedingungen der ökonomischen Krise bekämpfe die Regierung Lukashenko Aufstände nach dem „Feuerwehr-Prinzip“, sagt Olga Karatsch. Matthias Monroy fragte die Leiterin des Netzwerks „Nasch Dom“ nach ihren Erfahrungen mit staatlicher Repression und den Perspektiven einer Veränderung in Belarus.

Seit 2005 unterstützt das belarussische Netzwerk „Nasch Dom“ („Unser Haus“) die Bevölkerung in der Durchsetzung ihrer Rechte. In den letzten Jahren sammelten die über 300 Aktiven des Netzwerks Zehntausende Unterschriften zu einer Vielzahl von Beschwerden – von Mietfragen über Angelegenheiten der Kommunalpolitik bis zur Bekämpfung von Korruption und Machtmissbrauch. Immer wieder werden Angehörige von „Nasch Dom“ verhaftet.

Olga, als Leiterin des Graswurzelnetzwerkes „Nasch Dom“ bist du mittlerweile eine Person des öffentlichen Lebens geworden. Wie konntest Du dich der polizeilichen Willkür entgegenstellen?

Ich hatte des Öfteren mit der Polizei und anderen belarussischen Sicherheitsbehörden zu tun. Mein erstes Mal erinnere ich noch gut. Das ist wie das erste Mal verliebt sein, du vergisst das nicht. Es war 1999, als die Amtszeit von Präsident Aleksander Lukashenko eigentlich nicht mehr verlängert werden konnte. Wir verteilten Flugblätter und kündeten vom Ende seiner Ära. Plötzlich tauchten um die 15 uniformierte und bewaffnete Polizisten auf. Ich werde nie vergessen, wie sie mich mit halbautomatischen Waffen eskortierten, als sei ich eine besonders gefährliche Übeltäterin. Ein paar andere Mädchen wurden ebenfalls gekidnapped: Ein Polizeifahrzeug stoppte neben ihnen, die Insassen richteten ihre Gewehre auf sie und befahlen ihnen einzusteigen. Was fühlt eine 20-Jäh­rige, wenn sie mehrere Waffen auf sich gerichtet sieht?

Die Mittel der Behörden haben sich seitdem aber immer wieder geändert?

2001 haben die Gesetzeshüter ihre Strategie gewechselt. Sie haben mich in einem Monat routinemäßig täglich verhaftet, manchmal sogar zwei Mal am Tag. Eine harte Zeit waren auch die Wahlen 2006. Die Behörden wollten nicht besonders kreativ werden, sie verfolgten mich einfach einen ganzen Monat lang. Wir schrieben einen Brief an die lokale Polizei und erkundigten uns, wer die in zivil gekleideten Männer wohl seien, und übermittelten auch die Nummernschilder ihrer Fahrzeuge. Man antwortete, die Kennzeichen existierten nicht. Dann machten wir Fotos von ihnen und machten eine weitere Eingabe. Diesmal antworteten sie immerhin vage, und kurz darauf verschwanden die polizeilichen Schatten. Vielleicht wollten sie mich nur testen und warteten, dass ich zusammenbreche. Möglich, dass sie nach einem Monat auch an ihr Limit kamen und nicht genügend Kräfte für derartige Maßnahmen hatten.

Die Anzahl der Angehörigen von Polizei und Geheimdiensten sagt aber etwas anderes?

Wir haben mehr PolizistInnen pro EinwohnerIn als jeder andere Staat Europas, und diese sind gezwungen, ihr Plansoll an Verhaftungen etc. zu erfüllen. Entsprechend viele Opfer gibt es, nicht nur innerhalb der politischen Opposition, sondern auch unter normalen BürgerInnen. In einer Umfrage antwortete jede/r Fünfte, dass er/sie oder seine direkten Verwandten schon Opfer von Polizeigewalt waren. Dass PolizistInnen dafür verurteilt würden, ist leider die absolute Ausnahme, aber die meisten Betroffenen versuchen auch gar nicht sich zu wehren.

Welche Strafen werden gewöhnlich gegen politisch Aktive verhängt?

Die Gefängnisstrafen für politischen Protest werden jedes Jahr länger. Seit März 2007 wurde der Kodex der Administrativstrafen um einige Anhänge ergänzt. Die Untersuchungshaft wurde von 15 auf 25 Tage hinaufgesetzt. Oft werden die AktivistInnen nach dieser Frist freigelassen, aber von der Polizei erneut festgenommen und bekommen weitere zehn oder 15 Tage. Auf diese Weise können die Betroffenen mehrere Monate ohne Grund inhaftiert werden. Hohe Strafen werden auch für „öffentliche Beleidigung“ verhängt – ein gern genutzter Vorwand der Behörden, um politische AktivistInnen vor Demonstrationen in Gewahrsam zu nehmen. Die Höchststrafe für diese demokratischen Aktivitäten liegt umgerechnet bei rund 4.000 Euro. Nach dem Administrativkodex erhalten Gefangene vor dem Gerichtsentscheid weder Essen noch Kleidung. Gewöhnlich werden die Leute aber Freitagabend festgenommen und sitzen dann bis Montag ohne Essen, Medikamente oder warme Kleidung.

Auch das Strafgesetzbuch wurde geändert, zwei „politische“ Artikel eingefügt. Bist du Mitglied einer nicht-registrierten Vereinigung, kannst du für drei Jahre ins Gefängnis gehen. Ein weiterer Artikel sanktioniert die „Verleumdung der belarussischen Republik und der Regierung“, was dich bis zu fünf Jahre ins Gefängnis bringen kann. Aber die Repression geht noch weiter: Die Behörden können dir die Verlängerung deines Arbeitsvertrags verweigern. Auch hier ist Belarus einzigartig, denn die Verträge gelten gewöhnlich nur maximal drei Jahre. Wenn diese Zeit um ist, können sie den Vertrag verlängern oder sie sagen „Auf Wiedersehen“, ohne dass Gründe genannt werden müssten. Dies wird entweder angedroht oder du landest auf einer schwarzen Liste von Personen, die keine bestimmten Berufe ausüben dürfen. Studierende, die politisch aktiv sind, können umstandslos exmatrikuliert werden. Mittlerweile können Beschäftigungen bei großen Medien oder juristischen Einrichtungen nur mit Gesinnungsprüfung durch die lokalen Behörden begonnen werden. Aber auch Angehörige von Betroffenen können von Universitäten oder aus Arbeitsverhältnissen entfernt werden. Das von Lukashenko verhängte Dekret 18 ermächtigt die Polizei und den Geheimdienst KGB, Kinder aus oppositionellen Familien herauszunehmen. Für AktivistInnen ist dies eine ernsthafte Drohung.

Zwischen den Präsidentschaftswahlen 2006 und 2010 hatten deutsche Polizeien ihre weißrussischen Partner besucht und Kooperationen begonnen. Das betraf sowohl die Grenzpolizei auch die Kriminalpolizei. Angeblich sei es um die Heranführung der Sicherheitskräfte an EU-Standards gegangen …

Die Repression in Belarus hat sich durchgehend und systematisch entwickelt und baut dabei auch auf „Unterricht“ aus Russland, der Europäischen Union oder den USA auf. Deshalb ist es unserer Meinung nach falsch, von einer „unerwarteten und scharfen“ Zunahme zu sprechen. 2006 startete die Polizei beispielsweise eine regelrechte Hetzjagd auf Zeitungen und JournalistInnen. Von 2007 bis 2010 erreichte der Druck gewöhnliche AktivistInnen und ihre Familien. In dieser Zeit liefen laut der Menschenrechtsorganisation „Viasna“ gegen 1.192 AktivistInnen Administrativstrafverfahren.

Dann kam die sogenannte „Liberalisierung“, der Dialog zwischen Lukashenko und der Europäischen Union. Dabei versuchte man, kleinere „Vergehen“ zu übersehen, während die Behörden ihren Druck nun eleganter ausübten: Vorladungen zu Polizei oder KGB, Androhung von Entlassungen, weniger Administrativstrafen, aber dafür mehr psychologischer Druck. Die Festnahme normaler AktivistInnen erregt weniger Aufmerksamkeit als die von AnführerInnen. Deshalb war davon in den Massenmedien wenig zu lesen – zumal die Behörden 2010 im Wahlkampf um das Amt des Präsidenten auch oppositionelle Führungsfiguren agieren ließen. Diese „Liberalisierung“ führte aber dazu, dass sich die Zahl der Mitglieder mehrerer Organisationen und Parteien radikal verringerte. Letztlich waren wir wieder zurück im Jahr 1999, mit dem Unterschied, dass die Behörden nicht mehr töten, sondern inhaftieren.

Was bedeutet das für den gegenwärtigen Protest und Widerstand in Belarus?

Leider haben in all den Jahren nur wenige Organisationen an einer zivilen Antwort auf die Repression gearbeitet. Die meisten Menschenrechtsorganisationen machen lediglich ein „Monitoring“, anstatt die Menschenrechte wirklich aktiv zu schützen. Nun müssen wir unter noch schlechteren Bedingungen ein System der zivilen Gegenwehr aufbauen, viel Zeit ging verloren. Immerhin halten wir das Vorhaben nicht für ausweglos: Die Situation ist nicht so kritisch, dass eine Arbeit innerhalb von Belarus unmöglich wäre.

Andererseits zeigt die Erfahrung von „Nasch Dom“ auch, dass die Regierung unter den Bedingungen der ökonomischen Krise Aufstände nach dem „Feuerwehr-Prinzip“ bekämpft. Die Angst vor Unruhen ist groß, und man weiß seit Gorbatschow, dass selbst „kosmetische Reparaturen“ weitreichende Umbrüche nach sich ziehen können …

Nach den Ereignissen in der Ukraine versicherte Lukashenko, es gebe in Belarus keinen Grund zur Revolte. Das klang wie eine Drohung …

Entwicklungen wie in der Ukraine können sich auch in Belarus ergeben, die ukrainische Variante ist möglicherweise am wahrscheinlichsten. Nur mit einem Unterschied – das Ausmaß der Gewalt wird in Belarus stärker sein. Denn anders als der seinerzeitige ukrainische Präsident Janukowytsch wird Lukashenko unmittelbar scharf schießen lassen und nicht erst die Entwicklung der Situation abwarten. Zudem wird sich Russland schneller und aggressiver einmischen, da es Belarus traditionell als „sein“ Land betrachtet. Außerdem wollen sich nun viele Leute für die Angst und Erniedrigung der letzten 18 Jahre rächen. Dafür werden sie voraussichtlich das gleiche Maß an Gewalt anwenden, das die Machthabenden ihnen angetan haben.

Ihr hattet auch immer wieder Erfolge mit Aktionen und Kampagnen. Gibst Du uns noch ein paar Beispiele?

Großes Aufsehen erregte vor drei Jahren, dass mit dem ehemaligen Polizeimajor Dinas Linkus ein bekannter Peiniger zu vier Jahren Haft verurteilt wurde. Er hatte mich und einen anderen Oppositionellen im Arrest geschlagen und mir mit Vergewaltigung gedroht. Wir reichten nicht nur eine formale Beschwerde gegen Linkus ein, sondern informierten die AnwohnerInnen im Umfeld der Polizeistation und seiner Nachbarschaft darüber, dass Linkus wehrlose Frauen schlägt und mit Vergewaltigung bedroht. Schnell wurde er strafversetzt und musste eine neue Stelle in Grodno antreten. Linkus hatte sich daran gewöhnt, jederzeit seine Gefangenen schlagen und erniedrigen zu können. Als er das nicht mehr konnte, wandte er sich gegen seinen Kollegen und schlug diesen krankenhausreif. Deshalb wurde er schließlich verurteilt.

Die Polizei ist Kritik nicht gewöhnt und reagiert ebenso nervös wie unbeholfen. Wir haben über 1.000 PolizistInnen direkt angeschrieben und gebeten, alles zu tun, damit von der Polizei keine Gewalt mehr gegen Frauen ausgeht. Es gab ungewöhnlich viele Reaktionen. Viele fühlten sich angegriffen, einige haben sich gerechtfertigt oder uns sogar Unterstützung zugesagt, aber alle wollten sie wissen, woher wir denn ihren Namen hätten. In der Staatspresse sprach das Innenministerium von einer „nie da gewesenen Kampagne der Diskreditierung der Polizei und des KGB“ und zuletzt haben sie sogar die Wohnung der Frau, die unsere Briefe zur Post gebracht hatte, durchsucht. Doch letztlich ist das alles nur viel Lärm um nichts. Keine einzige unserer Aktivistinnen wurde verhaftet oder sonst wie belangt, aber nach der Hausdurchsuchung haben sich die PolizistInnen bei der Aktivistin förmlich entschuldigt. Die Polizei hat Angst vor uns. Das ist zur Abwechslung mal ein gutes Gefühl.

Die EU will die Beziehungen zu Belarus wieder stärken, die Kommission hat die Verhandlungen zum Abschluss eines Abschiebeabkommens wieder aufgenommen. Bevor aber eine weitere Visaliberalisierung verhandelt wird, soll die Regierung alle politischen Gefangenen freilassen – auch anarchistische Inhaftierte sind gemeint. Wie bewertest Du die Anstrengungen der EU?

Eine Visaliberalisierung würde unser Leben sehr vereinfachen. Das größte Problem bezüglich der EU ist das Fehlen einer Langzeitstrategie, was sich die Regierung unter Lukashenko zunutze macht – genauso wie die Ukraine und Russland. Die Menschen sind von der EU enttäuscht, was sich auch durch die Schwäche gegenüber Russland bestätigt. Viele fürchten, dass die russische Armee sofort präsent sein wird, wenn die belarussische Bevölkerung frei sein will und einen demokratischen Weg beschreitet.

Die Anstrengungen der EU zu den politischen Gefangenen begrüße ich aber sehr – sie scheinen mir manchmal stärker als jene der einheimischen Zivilbevölkerung. Wichtig ist, dass an die Freilassung keine Finanzhilfen geknüpft sind, denn dann würden weitere Verhaftungen vorgenommen, um daraus Kapital zu schlagen.