„Politik wird diskutiert wie selten“: Die CILIP-Redaktion im Corona-Gespräch

Dirk Burczyk, Tom Jennissen, Jenny Künkel, Christian Meyer, Matthias Monroy

Wochenlang haben alle Bundesländer zur Bekämpfung des neuen Corona-Virus Covid-19 die Freizügigkeit nach Artikel 11 Grundgesetz (GG) außer Kraft gesetzt. Auch Versammlungen nach Artikel 8 GG waren fast überall grundsätzlich untersagt, um andere Grundrechte, vor allem das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Artikel 2 GG, zu schützen. Wir diskutieren die staatlichen Gesetze, Verordnungen und Maßnahmen sowie deren Folgen. 

Die Verordnungen und Allgemeinverfügungen der Bundesländer basieren auf dem Infektionsschutzgesetz (IfSG). Paragraph 28 Abs. 1 ermächtigt die zuständigen Behörden, zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten in die Bewegungsfreiheit der Bürger*innen einzugreifen. Seit 25. März ermöglicht er Bedingungen für das Betreten von Orten zu formulieren und das Verbot jeglicher Ansammlungen. Was hat es mit dieser Neufassung auf sich?

Tom: Dass der § 28 Absatz 1 IfSG als Rechtsgrundlage für die ganzen Maßnahmen herangezogen wird, ist problematisch. Die Norm war schon in der alten Fassung wenig durchdacht: Eine Generalklausel, wie wir sie aus dem Gefahrenabwehrrecht kennen, ermächtigt Behörden nicht dazu, alles zu tun, was sie für nötig erachten. Gerade schwerwiegende Grundrechtseingriffe bedürfen einer ausdrücklichen und präzisen Rechtsgrundlage und können gerade nicht ohne weiteres auf die Generalklausel gestützt werden. Sonst würden wir längst in einem entfesselten Polizeistaat leben, denn jedes Polizeigesetz enthält eine solche Generalklausel. Bis zur Änderung des IfSG im März wurden alle Maßnahmen, die sich an die Allgemeinheit richteten, darauf gestützt, obwohl lediglich das Verbot von Großveranstaltungen und die Schließung von Einrichtungen wie Schulen und Bädern ausdrücklich geregelt waren.

Wie hat sich das nun geändert?

Tom: Auch nach der Änderung sehe ich in dem Halbsatz, der ein Betretungsverbot für bestimmte bzw. für öffentliche Orte regelt, keine ansatzweise taugliche Rechtsgrundlage für eine umfassende Ausgangssperre. Auch die Möglichkeit, Ansammlungen von Personen zu unterbinden, erlaubt schwerlich ein allgemeines Kontaktverbot. Die im IfSG geregelten Maßnahmen geben Einschränkungen, die die gesamte Bevölkerung treffen, nicht her, sondern nur solche für Erkrankte, Infizierte und ihre Kontaktpersonen. Dazu zählen z.B. (Zwangs-)Untersuchungen, Beobachtungen und Quarantäne – alles unter strengen gesetzlichen Voraussetzungen. Der Bundestag hat für die umgesetzten Maßnahmen, die die gesamte Bevölkerung treffen, keine klare und nachvollziehbare gesetzliche Grundlage geschaffen, sondern am § 28 Abs. 1 IfSG nur etwas herumgewerkelt. Das stellt ein zentrales rechtsstaatliches Prinzip infrage: die Bindung der Verwaltung an das Gesetz.

Rechte bis liberale Kräfte kritisieren, dass die Bundeskanzlerin den Bundesländern nun Verordnungen diktieren kann. Ist Jens Spahn der oberste Gesundheitspolizist? Die FDP hat eigens ein Gutachten bei den Wissenschaftlichen Diensten des Bundestages dazu bestellt…

Tom: Für die Maßnahmen nach § 28ff IfSG ist der Bund nicht zuständig. Vielmehr sind die Landes- bzw. die kommunalen Behörden in der Verantwortung, weshalb sich die Maßnahmen ja auch von Land zu Land unterscheiden. Allerdings hat das Bundesgesundheitsministerium (BMG) jetzt im Fall einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite” umfassende Kompetenzen im Bereich des Gesundheitswesens. Nach dem ursprünglichen Entwurf war dies sogar als Selbstermächtigung der Bundesregierung angelegt. Dabei schießen die Regelungen teilweise arg über das – partiell sicher berechtigte – Ziel eines bundeseinheitlichen Vorgehens hinaus: So darf das BMG nach § 5 Abs. 2 Nr. 1 IfSG, Informationen über aus dem Ausland einreisende Personen erheben und Untersuchungen anordnen. Das ist verfassungsrechtlich zumindest heikel und praktisch nicht umzusetzen – theoretisch müsste das BMG dazu selber an den Grenzen kontrollieren.

Dirk: Durchgeführt werden die Maßnahmen ohnehin durch die ansonsten für die Umsetzung des IfSG zuständigen Behörden. Da zeigen sich die Probleme derzeit vor allem in der Praxis. Niemand vollzieht nach, wer wo eingereist ist und später als Infizierte*r wieder auftaucht. Durch die neue Befugnis landen Massen an Daten bei Gesundheitsämtern, die diese technisch gar nicht verarbeiten können.

Die Schwierigkeiten liegen also auch jenseits des Rechtlichen?

Dirk: Auf jeden Fall. Einerseits haben wir die Gesundheitsämter mit weit­reichenden Befugnissen bei Infektionsfällen, die derzeit aber gar nicht hinterherkommen. Und andererseits haben wir die Polizei, die offenbar den Eindruck einer neuen ungebremsten Macht hat. Die Bürger*innen haben ja neue kreative Möglichkeiten gefunden, sich öffentlich zu aktuellen politischen Themen zu äußern, etwa indem sie einfach auf dem Weg zum Einkaufen Pappschilder hochgehalten haben. Also nicht mal eine Versammlung. Die Polizei ist aber rigoros dagegen vorgegangen. Da sieht man, wie autoritäre Tendenzen befördert werden – Polizeibeamt*innen erhalten die Möglichkeit, gegen alles Mögliche vorzugehen, weil sich mit dem Verweis auf die Pandemiebekämpfung so gut wie jeder Eingriff im öffentlichen Raum rechtfertigen lässt.

Christian: Die sogenannten Hygiene-Demonstrationen in Berlin, bei denen sich u.a. Verschwörungstheoretiker*innen und Faschist*innen zu Hunderten versammeln, ließ die Polizei aber oft gewähren. Sie verfügt nicht nur über Spielräume – sie nutzt diese auch in einer Weise, von der besonders linker Protest betroffen ist.

Tom: In den ersten Wochen nach Mitte März hat sich tatsächlich gezeigt, was passiert, wenn die Exekutive und insbesondere die Ordnungsbehörden freie Hand erhalten und Grundrechte nicht mehr gelten. Dass dies vor allem linke Versammlungen und sogar Meinungskundgaben Einzelner treffen würde, war ebenso absehbar wie die Betroffenheit derjenigen, die sowieso bevorzugtes Objekt polizeilicher Maßnahmen sind. Zumindest in Berlin wurde die Polizei relativ schnell zurückgepfiffen, als sie ihren ordnungspolitischen Traum leerer Parks und Straßen auch gegen Kleinfamilien und Sonntagsausflügler*innen realisieren wollte. Allerdings hat sie es sich nicht nehmen lassen, anlasslos linke Räume zu kontrollieren. Und vor meiner Haustür in Berlin-Neukölln razzten mehrfach Großaufgebote der Polizei einen Spielplatz, auf dem gelegentlich Trinker*innen und migrantische Jugendliche rumhängen.

Erleben wir eine „Corona-Diktatur”? Dass Bill Gates sich das alles ausgedacht hat, glauben wir bei der CILIP nicht. Aber gibt es auch ohne Vorsatz einen gesundheitspolitischen Ausnahmezustand, wie ihn Rolf Gössner in seinen lesenswerten „Gedanken und Thesen“ beschreibt?

Jenny: Rolf Gössner kritisiert zurecht, dass viele Corona-Gesetze den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht einhalten. Er mahnt an, auch in der Krise immer das mildeste Mittel zu wählen. Beispiele wie das Einreiseverbot in Mecklenburg-Vorpommern für Bewohner*innen anderer Bundesländer oder Verbote, auf der Parkbank zu sitzen, sind in der Tat schon fast Schikane. Gleichwohl finde ich die Diagnose überspitzt, wenn er sagt: „Die Opposition scheint lahmgelegt, die demokratische Kontrolle ist ausgehebelt.”

Aber auch wir sprechen von Grundrechtseinschränkungen, die bis vor Kurzem unvorstellbar waren…

Jenny: Politik wird aktuell diskutiert wie selten. Gegen die Einschränkun­gen von Bewegungs- und Versammlungsfreiheit gab es Klagen, und auch, wenn diese oft bestenfalls für den Einzelfall Erfolg hatten, führten diese Prozesse und öffentlichen Debatten doch zu rechtlichen Änderungen. Mir scheint, der autoritäre Staat, den Gössner am Horizont sieht, kann durchaus zurückgedrängt werden, zumindest wenn die Rechte weißer, deutscher Mittelschichten berührt sind.

Matthias: Das stimmt seit dem 15. April, an dem das Bundesverfassungs­gericht erstmals versammlungsfreundlich urteilte. Aber in den vier Wochen davor war legaler Protest praktisch unmöglich – außer vielleicht in Bremen oder in Schleswig-Holstein, wo wenigstens kleine Versammlungen stattfinden konnten.

Tom: Ich fand es erschreckend, wie die Rechtsprechung gerade in den ersten Wochen als Kontrollinstanz nahezu vollständig versagt hat. Gerade im Bereich des Versammlungsrechts gab es vor allem Entscheidungen, die übliche rechtsstaatliche Maßstäbe außer Acht ließen und restriktives, zum Teil willkürliches Behördenhandeln bestärkten. Mit dem Verfassungsgerichtsurteil hat sich das ein wenig eingependelt. Allerdings versuchen die Verwaltungsgerichte weiterhin, sich nicht aus dem Fenster zu lehnen, und geben Antragsteller*innen allenfalls auf Basis formaler Gründe Recht.

Das Urteil vom 15. April mahnte, dass die Polizei trotz Pandemie keinen Freibrief hat. Beschwerdeführerin war die Projektwerkstatt Saasen, deren mehrtägige Versammlung „Gesundheit stärken statt Grundrechte schwächen” die Stadt Gießen zunächst untersagt hatte. Klagen vor dem Verwaltungsgericht und dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof fanden kein Gehör. Erst dem obersten deutschen Gericht kam die grundrechtlich geschützte Versammlungsfreiheit wieder in den Sinn…

Christian: … und selbst die scheint nicht mehr unantastbar. Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul nutzte die Chance, um das Grundrecht der Versammlungsfreiheit zur Disposition zu stellen – auch jenseits der Pandemie. Der CDUler habe „keinerlei Verständnis dafür”, dass in der Corona-Krise „ausgerechnet Versammlungen und Demonstrationen stattfinden dürften”. Dafür hagelte es Kritik, aber man muss das als Versuch einer autoritären Weichenstellung ernst nehmen.

Tom: Reul nahm ausdrücklich das Brokdorf-Urteil des Verfassungsgerichts von 1985 ins Visier. Er sieht einen günstigen Zeitpunkt, um die versammlungsfreundliche Rechtsprechung zu verändern. Gerichte verteidigen die Versammlungsfreiheit aktuell nicht entschieden genug. Auch den Beschluss des Verfassungsgerichts vom 15. April sollte man* aber nicht kritiklos abfeiern. Die Richter*innen stellten gemäß der hessischen Corona-Verordnung lediglich ein Ermessen der Versammlungsbehörde fest. Die Behörde war von einem generellen Verbot ausgegangen, hatte ihr Ermessen gar nicht ausgeübt und allein deshalb – laut Gericht – rechtswidrig entschieden. Die Verhältnismäßigkeit war daher vor Gericht gar kein Thema. Es gibt zudem weiterhin viele äußerst restriktive Gerichtsentscheidungen – auch aus Karlsruhe. Der politische Druck hat eher zu Lockerungen der Versammlungsverbote geführt als die Gerichte, inklusive Bundesverfassungsgericht.

Linke Proteste richteten sich vor allem gegen die Migrationsabwehr, nicht gegen die Coronapolitik. Ganz anders die Rechten; sie nehmen das Virus zum Anlass, zum Sturz der Regierung aufzurufen. War die Linke gelähmt, weil sie die Gefährlichkeit des Virus anerkannt und vom Staat erwartet hat, Gegenmaßnahmen zu besorgen?

Jenny: Die oft von Rechten frequentierten „Hygiene-Demonstrationen”, die ein Recht auf Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen nach Artikel 20 GG proklamieren, behaupten, es ginge der Regierung um die Abschaffung der verfassungsmäßigen Ordnung. Das passt in das verschwörungstheoretische Weltbild dieser Bewegung, das es künftig klarer zu kritisieren gilt. Dabei müssen wir als Linke auch alternative Deutungsangebote machen. Mir scheint allerdings weder die Linke gelähmt, noch ein alleiniger Fokus auf Sicherheitspolitik allein sinnvoll. Wir sollten auch die Debatten über ökologisch und sozial gerechte, demokratische Alternativen in Zeiten des „Wiederhochfahrens” der Wirtschaft auf die Straße tragen – angesichts der anstehenden Wirtschaftskrise, die wie schon 2008 nach einem kurzen Aufflackern von Neoliberalismuskritik Austeritätsforderungen verschärfen könnte und vor allem Menschen mit wenig Privilegien treffen wird.

Dirk: Man darf da auch nicht auf den Verfassungs-Eklektizismus der Grundgesetz-Hochhalter*innen reinfallen und sich Illusionen über die freiheitliche demokratische Grundordnung machen. Das Recht auf Widerstand in Art. 20 GG richtet sich nach Wortlaut und Entstehungsgeschichte gegen innere Feinde der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Gegen diese darf Widerstand geleistet werden, nicht gegen den Staat, und auch nur, wenn sie diese Ordnung beseitigen wollen – was ich derzeit nicht sehe.

Tom: Die Linke hatte aber tatsächlich Schwierigkeiten, eine Position zu den Grundrechtseinschränkungen zu finden und wahrnehmbar zu formulieren. Die Gefährlichkeit des Virus und die Notwendigkeit von Gegenmaßnahmen anzuerkennen, ohne in den Ruf nach autoritären Maßnahmen einzustimmen, fällt leider Vielen schwer.

Beim Verhängen von Ausgangsbeschränkungen und der Lockerung agierten die Bundesländer unterschiedlich. Auch Grenzkontrollen oder Kundgebungen handhaben Ministerpräsident*innen verschieden. Liegen die Unterschiede in sozialdemokratisch oder konservativ geführten Ländern?

Matthias: Dahinter verbergen sich auch Ambitionen auf den Kanzlerwahlkampf. So ist vor allem der mehrfache Alleingang von Söder in Bayern zu interpretieren, der mit einem eigenen Infektionsschutzgesetz begann, mit dem sogar medizinisches Personal zwangsrekrutiert werden kann. Laschet, der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, hingegen inszenierte sich als Menschenfreund mit offenen Grenzen, während Spahn sich in der Rolle als Oberaufseher gefiel.

Jenny: Ich finde es aber auch spannend, wie ein föderales System Diskussion fördert. In Frankreich – da lebe ich gerade – werden die Maßnahmen von einer neoliberalen Regierung streng von oben durchregiert. Raus darf man* nur zum Einkaufen oder zur Ärzt*in, außerdem eine Stunde am Tag im Kilometerumkreis des Wohnorts für Sport. Treffen darf man* niemanden. Es gibt lokale Einschränkungen – aber keine Lockerungen. Z.B. wurde in Paris von 10-19 Uhr das Joggen verboten, nachdem sich dank geschlossener Grünflächen die Leute auf den Bürgersteigen drängten. In Deutschland experimentieren Städte mit Vorrang für den Rad- und Fußverkehr. Natürlich forderten auch in Paris Menschen mehr Radwege und Kommunen bekommen nun Förderung. Aber unter den strengen Regeln, die gerade in den Banlieus z.T. wirklich brutal poliziert werden, ist Protest im öffentlichen Raum erst nach dem Lockdown-Ende am 11. Mai möglich. Um notwendige Einschränkungen und gegebenenfalls mildere Mittel zu diskutieren, fehlen Vorbilder, die in Deutschland durch die föderale Struktur eher vorhanden sind.

Dirk: Ich fand erschreckend, wie wenig Menschen diese Stärke des Föderalismus sehen, die Jenny beschreibt. Es ist so eine Art Konkurrenz um das bessere Modell möglich. Vor allem wird normalerweise eine zu starke Machtkonzentration im Bund verhindert. Aber bei der Debatte um die Ermächtigung des Bundesgesundheitsministers, den Ländern in deren Zuständigkeit hineinzuregieren, hat sich niemand schützend vor den Föderalismus geworfen. Ich glaube, der wird eines der Opfer der Corona-Krise. Die Leute regen sich auf, wenn hier der Baumarkt auf hat und dort nicht – tiefer ist der Föderalismus in den Köpfen nicht verankert.

Auf Mitte Juni verspätet sich nun eine App, die Kontakte zwischen Personen nachverfolgen und Nutzer*innen im Falle der Infektion einer Kontaktperson benachrichtigen soll. In weiten Teilen der linken und liberalen Öffentlichkeit wurde dieses digitale Tracing anfangs kritisch gesehen, das hat sich geändert…

Dirk: Es ist wie so oft bei digitalen Technologien: Man weiß nicht, ob man* kriegt, was man* anfangs wollte. Statt einer schlanken Lösung, bei der nur ich informiert werde, wenn eine Kontaktperson positiv getestet wurde, erfährt es vielleicht auch das Gesundheitsamt und fordert Tests von mir ein. Oder es entsteht ein zentrales Register von Verdachtsfällen und Infizierten. Will sagen: Kann man* eine solche App wirklich auf das beschränken, was sie tun soll? Ist ausgeschlossen, dass Funktionen und Funktionalitäten ergänzt werden, denen die Nutzer*innen nicht zu Beginn zustimmten?

Die Bundesregierung bzw. der Krisenstab, ist aber eingeschwenkt: Sie geben sich mit der „dezentralen”, freiwilligen Lösung zufrieden, bei der Kontakte nur lokal auf dem Handy gespeichert werden und bei der die App nicht zwangsweise genutzt werden muss. Ist das annehmbar?

Dirk: Es gibt jetzt die Möglichkeit, das Prinzip des „Privacy by design” mal in einem großen Projekt auszutesten. Also: kann es gelingen, eine Systemarchitektur zu schaffen, die von vornherein einen Missbrauch der anfallenden Daten ausschließt? Für mich als Laien klingt das, was da unter dem Label DP3T (Decentralized Privacy-Preserving Proximity-Tracing) geschaffen wird, ganz überzeugend. Man sieht aber, dass eine solche Lösung zumindest in Deutschland hart gegen die Interessen von Behörden und Unternehmen durchgesetzt werden muss.

Christian: Eine offene Bluetooth-Schnittstelle, die solche Ansätze voraussetzen, bietet aber ein Einfallstor für Hacks oder Überwachung, das lässt sich nicht wegdiskutieren. Davon abgesehen stimme ich Dirk aber zu: Datenschutz so gut es geht in die App programmieren und Nutzung auf freiwilliger Basis. Dann noch vernünftige und transparente Evaluation und es wäre angesichts der Situation vertretbar. Trotz der vielen einschränkenden Abers, ist damit immer noch nicht gesagt, was es bringt.

Jenny: Stimmt, das ist unklar. Wir sollten dies nicht ausschließlich als technische und datenschutzrechtliche Frage diskutieren. Wir wissen wenig, wie hilfreich die generierten Daten sind. Die App speichert aus guten Gründen keine Geodaten und gibt keine Informationen über Virusüberträger*innen preis. Sie weiß nicht, ob Personen mit Abstand im Freien in einer Schlange standen, sich geküsst haben, in einem geschlossenen Raum mit oder ohne Klimaanlage waren etc. Das schafft falsche Gewissheiten. Eine technische Lösung, die unter neoliberalem Appell an die individuelle Verantwortung eingeführt wird, lenkt zudem von der Frage ab, dass Möglichkeiten der physischen Distanz ungleich verteilt sind und wie es Risikogruppen gehen wird. Es gibt ja Leute, für die es schon zu spät ist, wenn die App anschlägt.

Christian: Ich denke auch, es ist wichtig, nicht zu große Hoffnungen in technologische Problemlösungen zu setzen. Zunächst ist da viel Placebo. Die anonymisierten Funkzellendaten, welche die Telekom dem Robert- Koch-Institut übermittelt hat, sind für die Virusbekämpfung viel zu ungenau. Genauere Daten haben datenzentrierte Plattformen wie Facebook und Google, die auf das GPS von Smartphones, genutzte WLANs, soziale Kontakte, Ortsangaben bei Fotos und vieles mehr Zugriff haben. In den USA bringen sie sich bereits in Stellung, bei der Pandemiebekämpfung mitzumischen.

Zeigt der Kampf um eine möglichst unbedenkliche Corona-Tracing-App nicht auch, dass in der Corona-Krise aus emanzipatorischer Sicht Erfolge errungen werden konnten?

Christian: Ja, das begrüßenswerte Open Source-Modell und den dezentralen Ansatz verdanken wir nicht zuletzt kritischen Stimmen wie dem Chaos Computer Club (CCC). Aber um es vorsichtig zu formulieren: Mein Vertrauen in die beteiligten Akteur*innen ist sehr begrenzt. Die Bundesregierung, Telekom, SAP und dazu Apple und Google, weil ohne die Einbeziehung dieses Duopols schlicht keine massenkompatible App möglich ist – das ist aus überwachungskritischer Perspektive fast schon ein Worst-Case-Szenario. SAP ist nicht nur bekannt für Polizei- und Überwachungstechnologien, sondern kooperiert auch eng mit Palantir und dem US-Geheimdienst NSA.

Nicht nur Mobiltelefone sollen zur digitalen Pandemie-Bekämpfung genutzt werden…

Matthias: Palantir, der geheimdienstbeliebte US-Konzern, wollte zu Corona auch in Deutschland mitmischen und hat sein Konzept „Palantir gegen Covid-19“ offenbar mehreren Bundesländern und auch der Bundesregierung angeboten. Hessen, das als einziges Bundesland die Software testete, hat sich erst nach öffentlicher Kritik dagegen entschieden. Dort wird bereits im Polizeibereich eine Palantir-Anwendung genutzt.

Christian: Der Glaube, gesellschaftliche Probleme mit digitalen Hilfsmitteln lösen zu können, ist Teil der kalifornischen Ideologie, die vom Silicon Valley bis zur deutschen Lokalpolitik und Smart City-Konzepten verbreitet ist. Manche fordern auch, jetzt einfach alles technisch Mögliche zu unternehmen – das ist im Grunde wie bei der Kriminalitätsbekämpfung. Beides kommt in der Debatte um Corona zusammen: Das Start-Up Clearview AI möchte den Virus beispielsweise per Gesichtserkennung bekämpfen.

Ein anderes Thema ist die Militarisierung: Die Bundeswehr hält seit Anfang April rund 32.000 Soldat*innen zur Unterstützung bereit. Etwa die Hälfte stammt aus dem Sanitätswesen. Doch 7.500 Kräfte können für „Absicherung und Schutz” eingesetzt werden, außerdem stehen 600 Feldjäger*innen bereit. Ein Einfallstor für den bewaffneten Einsatz der Bundeswehr im Innern?

Matthias: Am Ende hat die Bundeswehr nicht wie befürchtet hoheitliche, also polizeiliche Aufgaben übernommen. Man* muss dem Verteidigungsministerium fast danken, dass es alle sieben Ersuchen aus den Bundesländern, bei denen das Militär polizeiliche Amtshilfe leisten sollte, abgelehnt hat. Ein solches Ersuchen kam übrigens zuerst von der links geführten Regierung in Thüringen, die deren Flüchtlingslager in Suhl von 10 Soldat*innen bewachen lassen wollte. Richtig krass war aber Baden-Württemberg: Hier wollte die grün-schwarze Regierung allen Ernstes 400 Soldat*innen vor die Erstaufnahmeeinrichtung in Ellwangen, in der sich Hunderte infiziert hatten, stellen. Weitere 400 Militärs sollten die Ausgangssperre kontrollieren – also Ordnungswidrigkeiten verfolgen. Ein Tabubruch, das hat es so in Deutschland noch nie gegeben, nicht einmal als Idee.

Die Gesetze und Verordnungen zur Bewältigung der Corona-Krise sind befristet. Ist mit dem Verfall des „Zweiten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ im März 2021 dann alles wie zuvor?

Tom: Die einzelnen Maßnahmen und Verordnungen werden voraussichtlich zurückgenommen bzw. nur bei einem erneuten Anstieg der Infektionszahlen zeitweilig wieder in Kraft treten. Aber auf juristischer Ebene haben sich einige Maßstäbe ganz schön verschoben, und die Erfahrung, dass alle Mitmenschen potentielle Überträger*innen eines gefährlichen Virus sein können, wird nachwirken. Zugleich scheinen die Grenzen zwischen „Normalität” und „Ausnahmezustand” zu verwischen: In Berlin beispielsweise galten auch in der ersten schönen Maiwoche formal noch strikte Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen. Hat sich aber niemand dran gehalten und es wurde kaum durchgesetzt…

Christian: Ob beim Tracking oder beim Arbeits- oder Versammlungsrecht – es besteht die Gefahr, dass sich eine Normalisierung einspielt.

Jenny: Die Gefahr partieller Verstetigung sehe ich auch. Wir sollten uns aber nicht auf einen Abwehrdiskurs beschränken. Einige typische „Sicherheitsthemen” werden plötzlich sozialpolitisch angegangen – zwar unzureichend und temporär, aber immerhin. Drogenkonsumierende Sexarbeiter*innen arbeiteten z.B. in vielen Städten schon immer unter den Bedingungen der Illegalität, im Sperrgebiet. Sie sind nun vom Arbeitsverbot betroffen und sollten aus gesundheitlichem Gründen auch nicht arbeiten müssen. Zunächst wurden Arbeitsstätten wie Steigen, die oft auch Wohnorte waren, geschlossen. Inzwischen mieten einige Städte Hotels an und bieten wenigstens ein paar Obdachlosen Zimmer – schon vor Covid-19 dringend nötig. Drogenkonsument*innen erhalten z.T. ohne Krankenversicherung Zugang zu Substitution – bei zu wenig Plätzen und zu geringer Dosis, aber immerhin. EU-Migrant*innen, die bei Obdachlosigkeit meist nur ein Rückfahrtticket in die „Heimat” oder einen kalten U-Bahnhoffußboden angeboten bekamen, können dank Aussetzung der Überprüfung des Ausreisewillens Grundsicherung erhalten – bis zur Grenzöffnung. All diese Maßnahmen, die früher als unsagbar galten, müssen wir ausweiten und verstetigen.

Die aktuelle Lage bietet auch die Chance für einen Neuanfang. In Bezug auf Klima liegt das auf der Hand…

Jenny: Die aktuelle Wirtschaftspolitik koppelt staatliche Unternehmensförderung leider nicht an Klimaziele. Es ist eine Klassenpolitik und die schnelle Normalisierung der Wirtschaft hat Priorität.

Matthias: Frontex, die EU-Grenzagentur, hat eine Reihe von Missionen in Südosteuropa wegen der Corona-Krise eingestellt, andere laufen auf Sparflamme, außer in Griechenland, da wurde sogar aufgerüstet. Wir müssen jetzt fordern, dass die abgebrochenen Einsätze nicht wieder aufgenommen werden.

Im Corona-Tagebuch gehen wir praktisch nur auf die „Innere Sicherheit” in Deutschland ein. Die deutsche Corona-Krise hatte aber auch Folgen im Ausland, etwa für Geflüchtete…

Tom: Dramatisch ist die Lage in den Lagern an den Außengrenzen der EU, wo die Situation auch ohne Corona absolut unhaltbar ist. Wenn sich in den überfüllten Lagern ohne hygienische Mindeststandards und ärztliche Versorgung das Virus ausbreitet, dann ist das eine Katastrophe mit Ansage. Dagegen gab zwar zahlreiche Proteste und Initiativen, nicht zuletzt mit #LeaveNoOneBehind. Aber die Bundesregierung reagierte mit der Aufnahme von nur 50 unbegleiteten Minderjährigen. Das ist unsäglich zynisch und rief ja zum Glück massenhaft Protest hervor.

Jenny: Eine besonders dramatische Folge ist, dass Rettungsschiffe Geflüchtete kaum mehr an Land bringen können. Denn der sogenannte „Malta-Deal”, mit dem Italien und Malta eine Umverteilung Geflüchteter zugesagt wurde, wenn sie Schiffe anlegen ließen, ruht. Im Mai waren nur noch wenige Schiffe im Einsatz, das letzte Schiff unter deutscher Flagge, die „Alan Kurdi” sitzt seit Anfang Mai im Hafen von Palermo fest.

Matthias: Im April, auf dem Höhepunkt der Pandemie in Malta und Italien, haben die beiden Länder ihre Häfen für aus Seenot Gerettete geschlossen. Das war politisches Kalkül, in der Krise auf eine Weise aber auch nachvollziehbar. Hier hätten Deutschland und andere Länder im Geiste einer europäischen Solidarität einspringen können und müssen. Das ist auch in anderen Fällen nicht passiert, die Corona-Krise war ein Armutszeugnis für die Europäische Union, besonders im Bereich Katastrophenschutz. In den ersten Wochen wurde ausschließlich national gedacht. Erst Ende März hat die EU-Kommission angefangen, einen Vorrat von medizinischem Material für besonders betroffene Mitgliedstaaten anzulegen.

Die EU-Außengrenzen sind geschlossen und Binnengrenzen werden seit dem 16. März wieder kontrolliert. Einst wurde das Schengener Abkommen als größte Errungenschaft der Europäischen Union gepriesen. Auch das war in der Corona-Krise schnell Geschichte…

Matthias: Außenminister Heiko Maas hat kürzlich auf der Netzkonferenz „Republica“ davon gesprochen, dass die Rückkehr zu Schengen Monate dauern könnte. Das befürchte ich auch. Es ist absurd, dass wir zwar aus Nordrhein-Westfalen wieder nach Mecklenburg-Vorpommern verreisen dürfen, aber nicht nach Polen oder Frankreich. Die Corona-Krise wird auch benutzt, um die sowieso seit schon 2015 wegen einer „Migrationskrise” ausgehebelte Freizügigkeit auf Eis zu legen. Frankreich verlängerte seine Kontrollen sogar bis Herbst. Das Virus wird zum Vorwand einer neuen Nationalstaaterei – auch hiergegen müssen sich Linke zur Wehr setzen.

Dirk: Wobei der differenzierte Blick die Dinge noch schlimmer macht. Denn es ist ja keineswegs so, dass die Grenzen dicht sind – Waren und Arbeitskräfte dürfen passieren. Österreich und Deutschland haben schnell und erfolgreich Protest eingelegt, als Tschechien niemanden mehr ausreisen lassen wollte – denn die Pflegeeinrichtungen in Grenznähe sind dringend auf tschechische Arbeitskräfte angewiesen. Und eine Grenzkontrolle zu Belgien und den Niederlanden hat NRW-Ministerpräsident Laschet verhindert – für die eng verzahnten just in time-Produktionsketten in der „Euregio” wäre dies zu zeitintensiv gewesen. Auch der Rückzug ins Nationale findet erst mal seine Schranken an der Kapitalverwertung.

Jenny: Es wäre auch ein guter Moment, nicht nur Mobilitätskontrolle, sondern zugleich unsere Flexibilisierung und ökologische Kosten der Mobilität zu hinterfragen. In Frankreich sind nicht nur die nationalen Grenzen dicht. Auch innerhalb des Landes wird nach dem Lockdown die nicht arbeitsbezogene Mobilität auf einen Radius von 100 Kilometern begrenzt bleiben. Derweil denken Ökonom*innen – gar nicht so nationalstaatsbezogen – zur Rettung der Tourismusbranche laut über „Korridore” zwischen wenig betroffenen Regionen Europas nach. Das ginge bei der aktuellen regionalen Verteilung des Virus de facto oft nur per Flugzeug…

Es war ja nicht alles schlecht in Bezug auf Grundrechte, es gab auch Erfolge. Über die nunmehr dezentrale, quelloffene Corona-Tracing-App haben wir schon geredet. Was wurde noch erkämpft?

Matthias: Spahn hat sein Tracking von Telefonen Infizierter nicht gekriegt, das ist doch ein Erfolg. Öffentlicher Druck hat die Polizei in die Schranken gewiesen – ich erinnere nur an die in Sozialen Medien verhandelte Frage, wie groß das Umfeld der Wohnung, wo man* sich noch aufhalten darf, in Sachsen ist. Viele unermüdliche Klagen haben außerdem dafür gesorgt, dass die Grundrechte nach vier Wochen wieder Geltung erhielten. Die Urteile in den Bundesländern haben den Leuten im Alltag zum Recht verholfen, so durfte ein Pfarrer eine todkranke Frau dann doch beim Sterben im Pflegeheim begleiten.

Tom: Naja, Ausgangspunkt war, dass einem Pfarrer verboten wurde, eine todkranke Frau aus seiner Gemeinde beim Sterben im Pflegeheim zu begleiten. Dass so etwas überhaupt gerichtlich erkämpft werden muss! Die ganz überwiegende Zahl der Gerichtsentscheidungen im Eilrechtsschutz gibt übrigens weiterhin den Behörden Recht.

Was war für euch der kreativste Umgang mit der Corona-Repression?

Jenny: Mir haben die Schuh-Demos gefallen, bei denen im öffentlichen Raum hinterlassene Schuhe die abwesenden Demonstrant*innen für Solidarität mit Geflüchteten oder Klimastreikenden symbolisierten.

Matthias: Natürlich die schon von Dirk erwähnte Bäckerschlange. Wenn allein das Brötchenkaufen mit Freund*innen unter Mitführen einer politischen Botschaft zur Ordnungswidrigkeit führt, zeigt dies die Absurdität der Verordnungen. Oder eher deren Auslegung durch die Versammlungsbehörden und die Polizei: Jeder Protest war untersagt, egal wie sehr wir der Versammlungsbehörde in punkto Infektionsschutz und Auflagen von selbst entgegen gekommen sind.

Wir haben das Corona-Tagebuch auch geschrieben, um dabei zu helfen alle Einschränkungen zurückzufahren. Was muss geschehen, dass der Ausnahmezustand nicht zum Normalzustand wird?

Christian: Ich glaube wir haben noch genug damit zu tun, die Situation zu begreifen. Mit Corona und der sich abzeichnenden Wirtschaftskrise wird es zu harten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen kommen, Dinge geraten in Bewegung. Wie ist das Verhältnis von Staat zu Großkonzernen, Deutschland zur EU, sollen noch mehr soziale Probleme polizeilich bearbeitet werden? Als gesellschaftliche Linke müssen wir in den Diskursen und Auseinandersetzungen präsent sein und dürfen trotz aller Einschränkungen und Widrigkeiten auf keinen Fall zurückstecken, was unsere Positionen angeht. Care Revolution, Wirtschaftsdemokratie, Klimagerechtigkeit, Bewegungsfreiheit, Feminismus, Antifa – diese Kämpfe müssen alle weiter und im besten Fall zusammen geführt werden. Ich glaube nicht, wie vorhin gefragt, dass die Krise eine Chance ist, aber es ist auch noch nicht ausgemacht, dass alles noch schlimmer werden muss.

Jenny: Einerseits muss ich leider zustimmen: Wir müssen noch besser verstehen. Das Corona-Tagebuch und -Heft ist Teil davon. Andererseits sehe ich – gerade unter kritischen Wissenschaftler*innen – eine Tendenz, beim Dokumentieren stehen zu bleiben. Es entstehen gerade lauter Artikel zum Thema Corona. Ich finde es wichtig, nun politisch lauter zu werden und darauf zu drängen, dass Einschränkungen, sobald wie möglich gänzlich zurückgenommen werden. Angesichts der Wirtschaftskrise finde ich es wichtig, die durch Corona in einigen Bereichen sichtbarer gewordenen Proteste gegen Neoliberalisierung zusammenzuführen, also z.B. die Kritik am neoliberalisierten Gesundheitswesen mit dem plötzlich noch virulenteren Thema Wohnungspolitik.

Dirk: Ich fand klasse, wie aus den Reihen des Pflegepersonals gesagt wurde: Klatscht euch doch am Arsch, wir sind hier seit Jahren im Dauerkrisenmodus, das hat Euch Privatpatient*innen und Gesunde bisher nur nicht interessiert. In der Debatte zur Corona-App hat das weiter oben jemand gesagt: das ist auch Ausdruck einer Individualisierung. Sozial erzeugte Probleme sollen durch den Einzelnen gelöst werden. Klatschen als Solidarität zu verkaufen, spiegelt genau diesen Bewusstseins­zustand. Solidarität gibt es nur durch Organisation gemeinsamer Interessen. Und die können sich nur artikulieren, wenn Menschen Rechte haben oder durchsetzen. Für uns ist jetzt die Frage: Warum gelingt es zu wenig, Menschen in diesem Sinne zu mobilisieren? Was ist schiefgelaufen, dass die Proteste gegen die Corona-Einschränkungen von rechten Wutbürger*innen und Spinner*innen dominiert werden? Ich freue mich auch, dass Spahn regelmäßig auf die Fresse fliegt, wenn er für seine Buddies aus der e-Health-Industrie mal wieder die Tür zu Patient*in­nendaten aufstoßen will – aber dabei kann es nicht bleiben.

Tom: Wir haben dem Tagebuch ja vorangestellt, dass die Grundrechtseinschränkungen zu hundertzehn Prozent zurückgefahren werden müssen. Bereits vor Corona wurde an den Außengrenzen der EU das Grundrecht auf Asyl außer Kraft gesetzt und die polizeilichen Befugnisse in der Bundesrepublik werden seit Jahren immer weiter entgrenzt. Statt die bloße Rückkehr zu Vorpandemiezeiten zu fordern, müssen wir dagegen weiter für eine offene und solidarische Gesellschaft jenseits des Bestehenden kämpfen. Das wird sicherlich in den nächsten Monaten und Jahren nicht leichter werden.

Beitragsbild: Graffiti in Berlin (Matthias Monroy).

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