Literatur

Zum Schwerpunkt

Auch wenn es durchaus dem kritischen alltäglichen Sprachgebrauch entspricht, die Rede vom „Rechtsextremismus“ ruft zwischen den Zeilen förmlich nach seinem linken Pendant. Wer dem „Hufeisen-Modell“ mit seiner Gleichsetzung von rechts und links, die aus derselben Entfernung der „demokratischen Mitte“ resultieren soll, entgehen will, der oder die sollte lieber von der Rechten oder von der extremen Rechten reden, denn so werden Verbindungen, Anschlüsse und Entwicklungspfade deutlich, die zwischen der „Mitte der Gesellschaft“ und extrem rechtem Denken und Handeln bestehen.

Gerade diese Verbindungen spielen im dominierenden Diskurs keine Rolle. Dessen bevorzugte Quellen sind weiterhin die Berichte der Verfassungsschutzämter, die qua staatlichem Auftrag jene Bestrebungen beobachten, die jenseits der von den Ämtern gezogenen Grenze zwischen Radikalismus und Extremismus liegen. Durch diesen Zugang wird das gesamte Feld zugerichtet. Die Beschreibungen der rechtsextremistischen Gefahren abstrahieren von allen ökonomischen, sozialen und sozialpsychologischen Kontexten, um die Unterschiede zwischen der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ und ihren rechten Feinden als wesensmäßige darstellen zu können. In solchen Perspektiven findet sich regelmäßig kein Platz für die Rechten im Staatsapparat, weil der per se auf der demokratischen Seite platziert ist.

Bundesamt für Verfassungsschutz: Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden. Lagebericht, Köln 2020 (https://www.verfassungsschutz.de/de/oeffentlich­keit­s­arbeit/publikationen/pb-rechtsextremismus/broschuere-2020-09-lagebericht-rechtsextremisten-in-sicherheitsbehoerden)

Mit dieser Darstellung des Hellfeldes rechtsextremistischer Vorfälle in den bundesdeutschen Geheimdiensten und Polizeien rechtfertigte Innenminister Seehofer seine damalige Weigerung, das Problem unabhängig und wissenschaftlich untersuchen zu lassen. Die Darstellung beinhaltet neben der Verfahrensstatistik kurze Angaben zu den Reaktionen auf Ebene der Bundes- und Länderbehörden, Rechtsextremist*innen in „Prävention“, „Detektion“ und „Reaktion“ entgegenzutreten. Der Bericht versteht sich als „Teil eines ganzheitlichen Ansatzes“, in dessen koordinierendem Zentrum sich offenkundig die im Bundesamt für Verfassungsschutz neu geschaffene „Zentralstelle Rechtsextremismus im öffentlichen Dienst“ sieht. Es ist müßig, danach zu fragen, worin die Kompetenz des Amtes für diese neue Aufgabe bestehen sollte. Es gibt Institutionen, deren Versagen durch Ausbau und Aufwertung belohnt werden; auch selbstredend, dass der Bericht dazu genutzt wird, das „Frühwarnsystem“ „Verfassungsschutz“ auszubauen. Immerhin sind in dem Bericht die vielfältigen Anstrengungen benannt, die die Behördenleitungen in Gang gesetzt haben. „Gefahr erkannt“, soll wohl die Botschaft lauten.

Im quantitativen Teil macht der Bericht Angaben über rechtsextremistische Verdachtsfälle in den Sicherheitsbehörden (Geheimdienste und Polizeien) des Bundes und der Länder. In den Ländern wurden 319 Verdachtsfälle gezählt, beim Militärischen Abschirmdienst 1.064 und bei den übrigen Bundesbehörden 58. Bezogen auf die Gesamtzahl der Beschäftigten lag die Quote der Rechtsextremismus-Vorwürfe zwischen 0% im Saarland und 0,3% in Hessen oder 0,003% im BKA und 0,9% bei der Bundespolizei. Hinzu kam, dass zum Zeitpunkt der Erhebung bereits über rund die Hälfte der Vorwürfe entschieden war: Von den 319 Fällen in den Ländern waren 67 Fälle, von den 58 bei den Bundesbehörden 7 Verfahren eingestellt worden. Kein Wunder, dass der Innenminister angesichts dieser Zahlen von bedauerlichen, aber sehr seltenen Einzelfällen reden konnte.

Hessisches Ministerium für Inneres und Sport:Polizeiliche Alltagserfahrungen – Herausforderungen und Erfordernisse einer lernenden Organisation. Darstellung erster Ergebnisse der Umfrage, Wiesbaden 2020 (https://in­nen.hessen.de/presse/pressemitteilung/ergebnisse-der-umfrage-zur-hessischenpoli­zei­­studie-praesentiert)

Dass die Meldung, die zu einem Straf- oder Ermittlungsverfahren führt, nur die Spitze eines Sachverhalts darstellt, ist trivial. Dass der Abstand zwischen Hell- und Dunkelfeld in Sicherheitsbehörden, die sich als Gefahrengemeinschaft definieren besonders hoch ist, ist plausibel. Das „Hessische Kompetenzzentrum gegen Extremismus“ hat Ende 2019 eine Online-Umfrage unter den Beschäftigten der Landespolizei durchgeführt, die ein etwas anderes Licht auf das Personal wirft. Mit einem schlichten Fragebogen wurde für eine Reihe von Aspekten die Häufigkeitsverteilung erhoben. Einige für das Thema Rechtsextremismus relevante Antworten: 1,6% der Befragten sehen sich selbst als politisch „rechts“ (fast zwei Drittelsehen sich in der Mitte). 3,4% sind der Meinung, dass NS-Verbrechen vielfach übertrieben dargestellt würden, für knapp 9% zählen Offenheit und Toleranz nicht zu den Grundpfeilern unserer Gesellschaft, mehr als ein Drittel glauben nicht, dass Einwanderer*innen Deutschlands Gesellschaft bunter und vielfältiger machen und knapp 28% befürchten, Deutschland könne zu einem islamischen Land werden – bei all diesen Fragen schneiden die hessischen Polizist*innen deutlich „demokratischer“ ab als die Mehrheit der Bevölkerung. Knapp 32% der Befragten hatten „schwerwiegendes Fehlverhalten“ von Kolleg*innen beobachtet; aber weniger als die Hälfte hatten es zur Anzeige gebracht. Das Fehlverhalten unter Kolleg*innen bezog sich bei 22% (zweimal oder öfter) auf Diskriminierung oder Mobbing oder bei 3,6%auf sexualisierte Übergriffe. Rassistische Äußerungen wurden von 12,5% öfter als zweimal wahrgenommen. In einer siebenstufigen Skala bewerteten 4,0% das Verhalten der hessischen Polizei als „vorurteilsbelastet“, weitere fast 50% sahen es näher an diesem Pol als an der Vorurteilsfreiheit. Beobachtetes (Fehl-)Verhalten gegenüber Bürger*innen wurde nicht erhoben. Dass die Werte insgesamt geringer ausfallen als im Durchschnitt der Bevölkerung, kann angesichts der Sonderstellung, die die Polizei gegenüber Bürger*innen hat, kaum beruhigen.

Krott, Nora R./Krott, Eberhard/Zeitner, Ines: Xenophobic attitudes in German police officers: A longitudinal investigation from professional education to practice, in: International Journal of Police Science & Management 2018, H. 3, S. 174-184

Dies.: Umgang mit Fremdheit. Entwicklung im Längsschnitt der beruflichen Erstsozialisation, in: Die Polizei 2019, H. 5, S. 129-139

Es ist eine alte Frage, ob sich autoritäre, zu rechten Überzeugungen neigende Charaktere vermehrt für Berufe interessieren, in denen im Innenverhältnis eine klare Hierarchie, im Außenverhältnis die Ausübung von (mit staatlichem Auftrag ausgestatteter) Autorität vorherrschen. In einer sich über vier Jahre erstreckenden Untersuchung wurden fremdenfeindliche Einstellungen bei angehenden Polizist*innen in Nordrhein-Westfalen erhoben: Zu Beginn, nach einem und nach zwei Jahren des Studiums und im ersten Jahr ihrer Arbeit im Polizeidienst. In das Studium sind spezifische Module integriert, die auf den Ausbau interkultureller Kompetenzen zielen. Die Daten wurden anhand eines Fragebogens erhoben, in den die Verfasser*innen verschiedene Items aus unterschiedlichen Untersuchungen integriert hatten. Die Auswertung erfolgte ausschließlich quantitativ, indem Häufigkeiten und Korrelationen zu den vier Messzeitpunkten dargestellt werden. Die Autor*innen kommen zu dem Ergebnis, dass das Ausmaß der Fremdenfeindlichkeit zu Beginn des Studiums dem ihrer Altersgenoss*innen entsprach und es während des Studiums sank. Im ersten Jahr der Berufstätigkeit stellen sie aber wieder einen leichten Anstieg fest. Sie vermuten, dass vielleicht berufliche Kontakte mit Migrant*innen zu dieser Veränderung beitrugen. Betont wird, dass mit den Daten keine Aussagen zur Bedeutung der Ausbildungsinhalte gemacht werden können. Auch müsste zwischen den geäußerten Antworten und den wirklichen Überzeugungen und schließlich dem Handeln im polizeilichen Alltag unterschieden werden.

Gutschmidt, Daniela/Vera, Antonio: Cop Culture und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in der Polizei: eine empirische Analyse, in: Groß, Hermann/ Schmidt, Peter (Hg.): Empirische Polizeiforschung XXIII: Polizei und Migration, Frankfurt am Main (Verlag für Polizeiwissenschaft) 2019, S. 227-250

Anfang 2019 wurden 153 Polizist*innen, die sich im Master-Studium des höheren Polizeidienstes befanden, mittels eine Online-Fragebogens befragt. Geprüft werden sollte der Zusammenhang zwischen „Cop Culture“ und „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“, die in unterschiedlichen Items erhoben wurden. Im Hinblick auf die Cop Culture werden vier Teilkulturen diagnostiziert (konservativ-männlich, institutionspatriotisch, Team- und Gewissenhaftigkeitskultur), die in unterschiedlichen Arbeitsfeldern unterschiedlich ausgeprägt sind. Die statistischen Korrelationen ergaben insgesamt keine signifikanten Zusammenhänge zwischen der Ausprägung von Cop Culture und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Dass die höchste Korrelation zwischen der konservativ-männlichen Kultur und der Abwertung homosexueller Menschen besteht, überrascht nicht. Zur Verbreitung „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ innerhalb zur Polizei kann die Erhebung nichts beitragen. Einerseits konnten Zusammenhänge zur Cop Culture nicht festgestellt werden, andererseits verweigerten 26% der Befragten die Aussagen zu diesem Fragenkomplex, weil sie ihre Anonymität nicht ausreichend gewährleistet sahen.

Cremer, Hendrik: Politische Bildung in der Polizei. Zum Umgang mit rassistischen und rechtsextremen Positionen von Parteien, Berlin (Deutsches Institut für Menschenrechte) 2020. (www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Analyse/Analyse_Politische_Bildung_Polizei.pdf)

Der Ruf nach einer verbesserten Ausbildung wird immer von der Hoffnung getragen, dass sich Probleme von Institutionen auf diese Weise quasi von innen verändern lassen. Diese Strategie ist allerdings auch hochgradig spekulativ, weil sie die Präge- und Beharrungskräfte von Institutionen massiv unterschätzt. Unbeschadet dieser tendenziellen Überschätzung von Ausbildung, kann es keinen Zweifel daran geben, dass Rassismus und Rechtsextremismus in der polizeilichen Ausbildung stärker als bisher thematisiert werden müssen. Hendrik Cremers Analyse widerlegt die Vorstellung, das staatliche Neutralitätsgebot stehe einer solchen Beschäftigung im Wege. Sie ist ein Plädoyer für Auseinandersetzung mit Rassismus und Menschenfeindlichkeit als Pflicht in der Ausbildung von Polizist*innen – womit freilich wenig über die Umsetzung und nichts über die Wirkungen gesagt ist.

Austermann, Nele/Fischer-Lescano, Andreas/Kaleck, Wolfgang u.a. (Hg.): Recht gegen rechts. Report 2020, Frankfurt am Main (S. Fischer) 2020, 397 S., 14,00 EUR

In diesem Band geht es nicht um wissenschaftliche Diagnosen, sondern um zeitgeschichtliche Dokumentation in aufklärerischer Absicht. Nicht nur äußerlich erinnert der Band an den „Grundrechte-Report“. Die Herausgeber*innen teilen dasselbe Anliegen; und wie der Report soll „Recht gegen rechts“ jährlich erscheinen. Im „Prolog“ wird als Anliegen formuliert, „einer kritischen Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wo die Justiz ihre Instrumente zur Verteidigung von Demokratie und Vielfalt derzeit verstauben und verrosten lässt; wo sie Sensibilität für die Rechte von, nicht nur rassistisch, Marginalisierten vermissen lässt; und auch wo sie ihrerseits zu einem Teil des Problems wird …“. Damit ist das Spektrum der insgesamt 47 Beiträge, die die fast 400 Seiten füllen, zutreffend umrissen. Allerdings gibt es nur wenige Schilderungen, in denen die Leistungen der Justiz als demokratische „bestpractice“ sichtbar werden: Etwa im gerichtlich bestätigten Hausverbot, das ein Hotel gegenüber dem Ex-NPD-Vorsitzenden Udo Vogt verhängte, oder die Bekräftigung des journalistischen Auskunftsbegehrens gegenüber der sächsischen Polizei durch das Oberverwaltungsgericht des Landes.

Im Band überwiegen allerdings die Beiträge, die eher die Sorgen über den Zustand der Justiz vergrößern. Nehmen wir nur die Fälle mit einem expliziten Polizeibezug. Zu den ersten Falldarstellungen gehört eine Denunziationsgeschichte aus Frankfurt/Oder: AFD-Aktivisten im Polizeidienst beschuldigen in verunglimpfender, in der Sache widersprüchlicher Weise örtliche GRÜNEN-Politiker*innen, Wahlplakate be­schädigt zu haben. Breitwillig wird aus dem hanebüchenen Kram ein Ermittlungsverfahren gezimmert, das geführt und dann eingestellt wird – während bereits die Eröffnung eines Verfahrens gegen die Polizisten wegen der Verfolgung Unschuldiger unterbleibt. Oder die Urteile zur Verwendung rechtsextremer Propagandadelikte. Wie das Oberlandesgericht Celle ein T-Shirt-Aufdruck „Refugees NOT Welcome“, der mit einem Hinrichtungs-Piktogramm illustriert ist, als Ausdruck der Willkommenskultur uminterpretiert, ist unfassbar. Weniger phantasiebegabt, aber als genauso weltfremd, entschied die Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main, als sie das Verfahren gegen Polizist*innen einstellte, die Hakenkreuze im Chat verschickt hatten. Die Begründung: Der Chat sei nicht öffentlich, und nur das öffentliche Zeigen stehe unter Strafe. Oder die polizeilichen Ermittlungen in Chemnitz: Im Anschluss an die „Herz statt Hetze“-Demonstration werden Demonstrant*innen aus Marburg, die sich am 1. September 2018 auf dem Rückweg zu ihrem Bus befinden, von 15-20 Neonazis mit Totschlägern, Knüppeln etc. angegriffen. Schon am nächsten Tag versprach die Pressestelle der Polizei „rasche“ Ermittlungen. Während in der Öffentlichkeit Berichte über eine Gruppe namentlich bekannter Neonazis auftauchten, wurden die Opfer erst im November 2018 von hessischen Polizist*innen befragt („auch dabei habe immer wieder die Vermutung mitgeschwungen, die Marburger Gruppe habe die Neonazis provoziert“). Erst im Frühjahr 2019 erfolgte eine weitere Zeugenvernehmung der Opfer; im Mai 2020 wurde ihnen mitgeteilt, es werde gegen 17 namentlich bekannt Beschuldigte ermittelt. Und seither: Nichts. Selbst die Akteneinsicht für die Anwält*innen wurde erst für Herbst 2020 in Aussicht gestellt.

Der Band versammelt Fälle und Geschichten quer durch die Republik. Er ruft geballt in Erinnerung, was in den tagesaktuellen Nachrichten schnell vergessen wird. Der Fokus liegt hier auf der Justiz. Wünschbar wäre, wenn auch die Akteure in anderen Bereichen deutlicher auf ihre „Zunft“ blicken und die schleichende Entdemokratisierung und Entliberalisierung öffentlich machen würden: in den Schulen und Hochschulen, in den Unternehmen – vielleicht sogar in der Polizei.

Aus dem Netz

www.der-rechte-rand.de

Im 31. Jahr erscheint „der rechte rand“ (drr) mit sechs Ausgaben pro Jahr. Das „Antifaschistische Magazin“, vom „Verfassungsschutz“ als „linksextremistische bzw. linksextremistisch beeinflusste Publikation“ geadelt, berichtet kontinuierlich über die rechte, extrem rechte und Neonazi-Szene in Deutschland. Die Homepage bietet den Zugang zu allen bislang erschienenen 184 Heften. Gegenwärtig sind sechs Bereiche (von der AfD über die „Identitären“ bis zum NSU) als „Schwerpunkte“ ausgewiesen: Hier werden Artikel aus dem Magazin und zusätzliche Online-Beiträge zusammenstellt.

Leider gehören Polizei und Dienste bislang nicht zu den ausgewiesenen Schwerpunkten. Die Volltextrecherche führt aber zu interessanten Treffern. Dabei sind auch Berichte, die es in die große Öffentlichkeit nur selten schaffen: Etwa ein Bericht vom Mai 2018 über Rainer Wendt, den Vorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft im Beamtenbund. In dem Beitrag erfährt man, dass Wendt mehr ist als ein Law-and-Order-Vertreter par excellence, sondern er gegen Geflüchtete wettert, rassistische Karikaturen rechtfertigt, keine Probleme mit der AfD hat, mithin nach rechts weit offen ist. Auf der Homepage schreibt „der rechte rand“: „Das Magazin zeigt, wie der rechte Rand gesellschaftlich verankert ist und an Themen der gesellschaftlichen ‚Mitte’ anknüpft.“ Bei Wendt sieht man: Das Magazin zeigt auch, wie die ‚Mitte‘ gezielt den Anschluss an den rechten Rand sucht.

Auch erinnert die Volltextrecherche an Dinge, die man längst vergessen hatte. So ein Artikel vom Dezember 2019, der die Berliner „Freiwillige Polizeireserve“ würdigt, die massiv von Rechten unterwandert war und schließlich aufgelöst wurde.

Die Autor*innen von „der rechte rand“ beschäftigen sich immer wieder mit der Polizei. So gab es im letzten Jahr verschiedene Beiträge zu den rechten Netzwerken in Polizei und Bundeswehr. Zu Recht wurde bemerkt, dass auch CILIP sich bislang zu wenig um diesen Komplex gekümmert hat – von der polizeinahen Publizistik ganz zu schweigen.

Sonstige Neuerscheinungen

Mecking, Sabine (Hg.): Polizei und Protest in der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden (Springer VS) 2020, 229 S., 44,99 EUR (eBook: 34,99 EUR)

Ausgangspunkt dieses Bandes war ein polizeigeschichtliches Symposium an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW im Frühjahr 2017. Erweitert um zusätzliche Beiträge ist die Veröffentlichung in zwei Themenkomplexe gegliedert: Nach der Einleitung der Herausgeberin folgen vier Beiträge. Sie stehen unter der Überschrift „Wandel in Gesellschaft, Politik und Polizei“. Vier weitere Artikel sind mit „Polizeiliches Handeln zwischen Reform und Tradition“ zusammenfasst. Der Band zeichnet in verschiedenen Zugängen die Wandlungen des öffentlichen Protests und der polizeilichen Reaktionsweisen nach. Dabei, so die Herausgeberin, sollte im Fokus stehen, „in welcher Hinsicht sich die Polizei als ‚lernende Institution‘ erwies und was das für die Arbeit der Polizei heute bedeutet“ (S. 22).

Bevor sich Sabine Mecking dem Zustand der deutschen Polizeigeschichtsschreibung widmet, liefert sie in der Einleitung einen kenntnisreichen und kurzen Durchgang durch die westdeutsche Protest-Polizei-Historie. Die Verbindung von Ereignis- und Strukturgeschichte wirkt in dieser knappen Form jedoch ein wenig verstörend. „Die Polizei verhilft Bürgerinnen und Bürgern sowie den von ihnen gebildeten Gruppen zur Durchsetzung ihrer verfassungsmäßig garantierten (Freiheits-)Rechte“ (S. 9). Dieser Satz reicht jeder Polizeipressestelle zur Ehre; stellt aber keine zeitgeschichtliche Diagnose dar. Der Brokdorf-Beschluss hätte ebenso eine Würdigung verdient wie die Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE) und ihre Wirkungen auf die Inanspruchnahme des Demonstrationsrechts.

Anschließend schildert Wolfgang Kraushaar das Protestgeschehen der 1950er Jahre (Betriebsverfassung, Wiederbewaffnung, Halbstarkenkrawalle). Sabine Mecking schließt mit den Protesten der Außerparlamentarischen Opposition (APO) bis zu denen der Neuen Sozialen Bewegungen an – allerdings mit merkwürdiger Schwerpunktsetzung und der Eingemeindung des Protests in eine neue „civicculture“. Frank Decker widmet sich der aktuellen Entwicklung unter dem Eindruck populistischer Protestveranstaltungen mit der bemerkenswerten Feststellung, der Protest gehe heute „überwiegend von rechts aus“. Ulrich Jan Schröder stellt die Entwicklung des Versammlungsrechts bis in die Gegenwart der Corona-Begrenzungen dar. In dem lesenswerten Beitrag kommen leider die polizeipolitischen Inputs in die Demonstrationsrechtsdebatte etwas zu kurz.

Im zweiten Teil blicken die Verfasser stärker auf die Polizei. Michael Sturm beschäftigt sich – konzentriert auf die Münchener Polizei – mit den 1950er Jahren:Die aus der Weimarer Republik übernommenen Einsatzkonzepte werden angesichts der konkreten Herausforderungen im Laufe der Zeit überwunden. Am Ende steht die „Münchener Linie“, eine mit wissenschaftlichen Mitteln modernisierte, aber keineswegs weniger repressive Strategie. Lukas W. Petzold untersucht die Wirkungen des Studierendenprotests auf die nordrhein-westfälische Polizei in den 1960er und 1970er Jahren. Deutlich wird, wie die obrigkeitsstaatlichen Orientierungen langsam erodieren, wie sich der allgemeine gesellschaftliche Aufbruch auch in der Polizei niederschlägt. Interessant sind die Hinweise auf die Politischen Kommissariate, die Veranstaltungen verdeckt überwachten und „Sonderakten“ anlegten. Petzold führt die Modernisierungen in der Polizei allerdings weniger auf die studentischen Proteste zurück als auf die allgemeinen Probleme (Arbeitsbelastung, Rekrutierung), denen sich die Institution gegenübersah. Klaus Weinhauer zeichnet die Wandlungen im „protestpolicing“ von den 1960ern bis zum Anfang der 1980er Jahren nach. In der Darstellung der 1960er unterscheidet er zwischen den „Beatkrawallen“ („patriarchalische Gelassenheit“) und den Studierendenprotesten seit Mitte des Jahrzehnts („Schutz des mythologisierenden Staates“). Besonders gegenüber als politisch eingestuften Demonstrationen hielt sich lange eine Haltung, die durch „Antikommunismus, autoritäres Staatsverständnis, aktivistische Männlichkeit und Vorstellungen von ‚akuten Massen‘“ bestimmt war. Seit den 1970er Jahren war die Polizei erheblichen Veränderungen unterworfen, für die 1980er sieht Weinhauer eine stärkere Orientierung der Polizei am Rechtsstaat statt am autoritären Staat. Allerdings sei auch diese formal-abstrakt geblieben und habe die polizeilichen Kontrollambitionen nur wenig verändert. Im Kern sieht Weinhauer „eine kulturell bedingte Problemkonstellation“, die die Polizei bis heute begleite: Die „Verfestigung und Abschottung kameradschaftlicher (Klein-)Kollektive“.

Der Band wird mit dem Beitrag eines „reflektierenden Polizeipraktikers“ über die „Polizei als lernende Organisation?“ abgeschlossen. Udo Behrendes, über Jahrzehnte Polizist in leitenden Funktionen in der nordrhein-westfälischen Polizei und dank seiner Veröffentlichungen und seines Engagements durchaus bundesweit bekannt, zeichnet Rollenverständnis und Handlungsrepertoire der westdeutschen Polizei im Protestgeschehen nach. In den 1950er Jahren dominieren die Vorstellungen vom „Straßenkampf“, von der Abwehr „kommunistischer Umsturzversuche“ die Lage. Während und durch die studentischen Proteste brechen in der Polizei Konflikte zwischen Traditionalisten, die die Proteste nach der „Leberwursttaktik“ auflösen wollen, und den „Reformern“ auf, die auf differenzierten Umgang und Kooperation setzen. Auf die Massenproteste der 1970er und 1980er Jahre und auf die Militanz der Proteste reagiert die Polizei mit der Einrichtung von Spezialabteilungen. Behrendes sieht die Polizei in den 1980er Jahren zwischen einem veränderten, zugespitztem Protestgeschehen (Autonome, 1. Mai …) auf der einen und der Rechtsprechung (Brokdorf, Mutlangen) auf der anderen Seite. Die Chronologie reicht fast bis in die Gegenwart: Heiligendamm und Hamburg tauchen ebenso auf wie die Castor-Transporte oder Links-Rechts-Gegendemonstrationen oder die Internationalisierung des Protests. Die Frage nach der Lernfähigkeit der Institution Polizei versucht er mit abschließenden Thesen zu beantworten: Erstens habe sich die Polizei im Umgang mit sozialem Protest professionalisiert. Zweitens gelte für die Polizei das Primat des Rechts, nicht der (Partei-)Politik. Drittens sollte die Polizei als Folge des Kooperationsgebots dauerhafte Kommunikationsbeziehungen mit den Schlüsselakteuren des Protests pflegen. Viertens führe das Differenzierungsgebot dazu, dass die Polizei angemessen mit zivilem Ungehorsam umgehe/umgehen müsse, auch um Eskalationen zu vermeiden. Fünftens müsse die Polizei ihre Einsätze in dem Sinne reflektieren, dass sie ihren eigenen Anteil an Konfrontationen erkennt beziehungsweise dass sie nicht eine Gewaltspirale anheize.

Im Fazit plädiert Behrendes für eine „unaufgeregte“ Diskussion des Themas. Statt einer Militarisierung der Polizei schlägt er vor, aus den Erfahrungen der Vergangenheit zu lernen. Er verweist auf den Vorschlag einer Arbeitsgruppe der Innenministerkonferenz, die eine systematische Sammlung und Auswertung von Einsatzerfahrungen forderte. Der Beschluss stammt von 1986 und ist bis heute nicht umgesetzt. Auch das ist eine Antwort auf die Lernbereitschaft der Polizeien in Deutschland.

Abdul-Rahman, Laila/Espín Grau, Hannah/Klaus, Luise/Singeln­stein, Tobias: Rassismus und Diskriminierungserfahrungen im Kontext polizeilicher Gewaltausübung. Zweiter Zwischenbericht zum Forschungsprojekt „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“ (KviAPol). Ruhr-Universität Bochum, 11.11.2020 (https://kviapol.rub.de)

Der zweite Zwischenbericht des Bochumer Forschungsprojekts wertet die erhobenen Daten im Hinblick auf Rassismus und (ethnische) Diskriminierung aus. Neben der quantitativen Analyse von über 3.300 über eine Online-Befragung erhobenen Angaben von – nach ihrer Auffassung – unrechtmäßiger polizeilicher Gewaltanwendung Betroffener, diese war explizit im ersten Zwischenbericht ausgewertet worden, werden nun auch die Daten aus dem qualitativen Teil des Projekts berücksichtigt. Für den vorliegenden Bericht wurden nun neun Interviews aus der „Zivilgesellschaft“ und acht aus dem Bereich der Polizei ausgewertet und mit den Angaben der Online-Befragung verbunden. Weitere Auswertungen des Materials, etwa im Hinblick auf die justizielle Würdigung der Vorgänge, stehen noch aus.

Die Befunde und die Schlussfolgerungen des Berichts können hier nicht wiedergegeben werden. Ausgehend von der Online-Befragung werden drei Gruppen unterschieden: Menschen ohne und Menschen mit Migrationshintergrund und People of Color (PoC). Wenig überraschend zeigen sich die größten Unterschiede zwischen – vereinfacht formuliert „weißen Deutschen“ – und denjenigen, die als Fremde wahrgenommen werden. PoC werden vermehrten Personenkontrollen unterworfen und fühlen sich häufiger diskriminiert. Sie und die Personen mit Migrationshintergrund leiden stärker unter den Folgen der Gewaltanwendung als „weiße“ Personen. Gemeinsam ist allen Gruppen die geringe Anzeigequote, die insbesondere mit der Angst vor Gegenanzeigen begründet wird. In den Interviews wird deutlich, dass das „Erfahrungswissen“ von großer Bedeutung für die polizeiliche Praxis ist. In diese Erfahrungen fließen – mitunter unbewusste und häufiger unreflektierte – Gefährlichkeitszuschreibungen ein, die sich in gezielten Kontrollen bestimmter Räume und Gruppen manifestieren.

Den (ungleichen) Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen liegt nach Auffassung der Autor*innen ein „strukturelles Problem polizeilicher Praxis“ zugrunde, da es sich nicht um „zufällige Erscheinungen bei einzelnen Beamt*innen“ handelt, sondern diese „(auch) aus den Strukturen der Polizei entstehen – etwa ihren Aufgaben und Tätigkeiten, der Art und Weise der Umsetzung dieser sowie den Formen des Umgangs mit Fehlern und Missständen.“

Man wünscht sich diesen Bericht auf den Schreibtischen der politisch und polizeilich Verantwortlichen. Wir warten mit Interesse auf weitere Auswertungen.

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