Literatur

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„Kontrolle im Kapitalismus“ ist keine exklusiv polizeiliche Domäne. Eher im Gegenteil wurde der traditionelle Ort der Polizei (gemeint ist die Vollzugspolizei) an jenen Linien verortet, an denen die herkömmlichen Institutionen der Kontrolle versagten. Als herkömmlich in diesem Verständnis konnten die großen Einrichtungen gelten, die die Erfordernisse einer sich entwickelnden kapitalistischen Gesellschaft in die Gewohnheiten, den Alltag, die Erwartungen der Menschen umsetzten – von der Gewöhnung an die Lohnarbeit bis zur Anerkennung gottgegebener und gleichzeitig wettbewerbsvermittelter sozialer Ungleichheit. Nur an den gesellschaftlichen Rändern, an denen frühneuzeitliche Sozialintegration scheitert, kommt die Polizei in der Durchsetzung des Gewaltmonopols ins Spiel. Landstreicher, Bettler*innen und alle, die sich dem Verkauf ihrer Arbeitskraft entziehen; Kinder, denen es an Fleiß und Folgsamkeit mangelt; Diebe, die die herrschende Eigentumsordnung ablehnen; Protestierende gegen Verelendung, kapitalistische Ausbeutung und deren Aufrechterhaltung durch den Staat: Die von der kapitalistischen Vergesellschaftung Ausgeschiedenen, die an den Rändern der Gesellschaft die „gefährliche Klasse“ bilden, deren „Polizierung“ die zentrale Aufgabe der Polizeien (und teilweise des Militärs) bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts bildet.

Sehr allgemein formuliert: Im Laufe des 19. Jahrhunderts treten in den industrialisierten Ländern Europas an die Seite des Polizei- und Obrigkeitsstaates wohlfahrtsstaatliche Arrangements. Die großen gesellschaftlichen Konfliktlinien (Kapital und Arbeit, Arm und Reich) werden durch neue Einrichtungen entschärft. Von den Sozialversicherungen über die allgemeine Schulpflicht bis zur Gleichheit vor dem Gesetz – die Konflikte werden so bearbeitet, dass sie zugleich die kapitalistische Akkumulation befördern. Das Gewaltmonopol tritt kontrollierend/sanktionierend in Erscheinung, wenn diese Instanzen versagen. Dieses „wohlfahrtsstaatlich-fordistische“ Arrangement löst sich in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf. Wir befinden uns in einer nachfolgenden Phase, die meist unter der Überschrift „Neoliberalismus“ zu fassen versucht wird; wobei gegenwärtig unklar ist, ob nicht diese bereits durch ein neues Leitmuster abgelöst wird. Im Folgenden können nur einige Hinweise auf jüngere Veröffentlichungen gegeben werden, die Aspekte des Dreiecks von Kapitalismus, Kontrolle und Polizei darstellen.

Narr, Wolf-Dieter: Staatsgewalt. Politisch-soziologische Entbehrungen, in: Das Argument 263 (2005), S. 63-82

Obwohl dieser Text fast zwanzig Jahre alt ist, bildet er eine gute Vorbereitung für aktuelle Entwicklungen. Denn drei Sachverhalte werden deutlich: Erstens bildet das „Gewaltmonopol“ den Kern des modernen Staates – und das bedeutet wortwörtlich die legitime Anwendung physischer Gewalt gegen Menschen. Zweitens verschwindet durch deren Monopolisierung im Staat der Modus „Gewalt“ keineswegs, sondern er wird konserviert, lauert sozusagen im Hintergrund; mit Gewalt wird gedroht und sie wird eingesetzt, wenn die Staats-Herrschenden es für erforderlich halten. Und drittens kann dieses Monopol nur verstanden werden, indem sein Verhältnis zur kapitalistischen Ökonomie betrachtet wird, denn Territorialstaat und Kapitalismus bedingen sich historisch und funktional gegenseitig: Wie die Staatsgewalt vom Reichtum prosperierender Ökonomien lebt, so ist das Kapital auf den Staat angewiesen, der nicht allein die Voraussetzungen der fortwährenden Akkumulation schaffen soll, sondern den Widerstand gegen soziale Ungleichheiten, Diskriminierungen und Ausschlüsse im Konfliktfall polizeilich bearbeiten soll.

Kienscherf, Markus: Dimensionen von Staatlichkeit. Rechtsstaat, Polizeistaat und Sozialstaat, in: Lammert, Christian; Siewert, Markus B.; Vormann, Boris (Hg.): Handbuch Politik USA, Wiesbaden 2020, S. 149-159

Auch dieser Text über den „administrativen Staat“ in den USA ist eher als perspektivische Vorbereitung zu lesen. Denn zentral für die Argumentation Kienscherfs ist der Bezug auf die „Doppelbewegung“, die Karl Polanyi in „The Great Transformation“ konstatierte: Die kapitalistische Ökonomie durchdringt auf Dauer alle Bereiche der Gesellschaft, dabei zerstört der freie Markt seine eigenen Voraussetzungen; weder ist er in der Lage ein Angebot an Arbeitskräften („Arbeitsmarkt“) zu generieren, noch kann der die Auflösung traditionellen sozialen Zusammenhalts ausgleichen, noch kann er stabile Rahmenbedingungen für den Wettbewerb schaffen. Funktional muss der Staat diese Lücken schließen. Um dessen Handeln gerecht werden zu können, müssen deshalb die regulierenden, die repressiven und die ausgleichenden (redistributiven) Institutionen im Zusammenwirken betrachtet werden. Mit anderen Worten: Wer auf die Polizei schaut, muss das Gesamtensemble staatlicher Regulierung ebenso im Blick behalten, wie die gesellschaftlichen Sachverhalte, die polizeilich „reguliert“ werden (sollen).

Kern, Anna: Die Polizei im Neoliberalismus, in: Loick, Daniel: Kritik der Polizei, Frankfurt/New York 2018, S. 223-234

Auf wenigen Seiten versucht die Autorin eine Charakterisierung der gegenwärtigen „komplexen Entwicklung“ als „Sicherheitsregime“. Dies sei dadurch gekennzeichnet, dass der Staat „sich in Teilen von einem stark staatlich gesteuerten, weitgehend homogenen Sicherheits- und Ordnungsparadigma“ zurückziehe. Vormals staatliche Kontrolle würde an nicht staatliche Akteur*innen abgegeben (Privatisierung, Outsourcing) und die staatlichen Sicherheitsagenturen selbst würden umgestaltet (von der Stärkung der Gemeinden für die Ordnungswahrung bis zur Personalrekrutierung der Polizeien oder der Implementation betriebswirtschaftlicher Steuerungsmodelle). Zwar bedeute das insgesamt nicht weniger Staat, aber: „Mit der gesellschaftlichen Entwicklung verschwindet das Repressionsparadigma des Fordismus zunehmend hinter dem neoliberalen Paradigma der Prävention.“ Dass es zugleich zu einer „massiven Ausweitung polizeilicher Befugnisse“ komme, wird von Kern als Element einer widersprüchlichen Entwicklung wahrgenommen. Was sich hinter dem vermeintlichen Vorrang von Prävention im neoliberalen Zeitalter verbirgt, offenbart ihre Schlussbemerkung. Sicherheitspolitik folge heute „noch weniger dem Impetus der Versöhnung sozialer Widersprüche“, sondern sie begleite „die sozialen Spannungen“, „in dem sie die Konkurrenz absichert. Trotz aller Aufweichungen und Partnerschaften bleibt die Polizei letztendlich die staatliche Instanz, die soziale Kontrolle exekutiert.“ – Die folgenden Veröffentlichungen können als aktualisierte Vertiefungen der von Kern aufgelisteten Veränderungen gelesen werden.

Sack, Detlef: Vom Staat zum Mark. Privatisierung aus politikwissenschaftlicher Perspektive, Wiesbaden 2019

Knapp vier von 345 Textseiten widmet dieser in der Reihe „Grundwissen Politik“ erschienene Band der „Privatisierung des staatlichen Gewaltmonopols“. Als Erscheinungsformen der Privatisierung wird auf die öffentlich-privaten Partnerschaften (Polizei, Ordnungsbehörden, private Sicherheitsdienste), auf die quantitative Zunahme privater Sicherheitsdienste und die Privatisierungen im Strafvollzug hingewiesen. Für die Entwicklungen der 1990er und 00er Jahre wird konstatiert, dass zwar eine „Mitwirkung privater Sicherheitsunternehmen angestrebt“ worden sei, die Politik „zugleich aber die Domäne der staatsvorbehaltenden Aufgaben … in der legitimen und rechtlich kontrollierten physischen Gewaltanwendung gesehen“ habe. Als Folgen der „Kommodifizierung des Gutes Sicherheit“ verweist Sack u.a. auf zwei kritische Punkte: 1. Das staatliche Gewaltmonopol werde dadurch „perforiert“, dass die Nothilfe als Jedermannrecht von professionellen Dienstleister*innen genutzt werde. 2. Der Kauf von Sicherheitsdienstleistungen produziere „Verteilungsprobleme“, weil nicht alle sich diese Leistungen kaufen könnten. Insgesamt sei die Entwicklung in Deutschland durch die „privatisierungsadverse Institution des staatlichen Hoheitsrechts bei der Gewaltausübung geprägt.“

Stober, Rolf; Eisenmenger, Sven; Olschok, Harald (Hg.): Handbuch Sicherheitswirtschaft und Öffentlich-Private Sicherheitskooperation, Wiesbaden 2023

Dieser Band ist „ein Kompendium für alle Tätigkeiten privater Sicherheitsdienste und für alle Aspekte der Sicherheitskooperation zwischen staatlichen Behörden und dem Sicherheitsgewerbe“ (Vorwort). So handelt der erste Teil (Grundlagen) vom Sicherheitsbegriff bis zum Datenschutz, der zweite Teil (Einsatzbereiche) vom Wachschutz bis zu den Diensten im Ausland, der dritte Teil von den (rechtlichen) Grundlagen staatlich-privater Kooperationen und der vierte Teil von den Einsatzbereichen, in denen kooperiert wird: von der Luftsicherheit bis zur Bewachung von Unterkünften für Geflüchtete.  Wer wissen will, welchen Umfang und welche Formen „Kontrolle“ durch Private und deren Verhältnis zu Ordnungsbehörden und Polizei mittlerweile angenommen haben, der/die wird in diesem Band fündig werden. Die kritische Perspektive müssen die Lesenden selbst mitbringen.

Frevel, Bernhard; John, Tobias: Plural Policing – Sicherheitsarbeit durch Kooperation, in: Wehe, Dieter; Siller, Helmut (Hg.): Handbuch Polizeimanagement, Wiesbaden 2023, S. 1603-1622

Im Kontext eines Bandes über „Polizeimanagement“ entstanden, ist dieser Beitrag auf die „Herausforderungen“ fokussiert, mit denen die Polizei in den „Netzwerken der Sicherheitsarbeit“ konfrontiert ist. Zur Charakterisierung dieser Herausforderungen werden die „Veränderungen der Sicherheitsarchitektur“ vorgestellt, die zu einer „police extended familiy“ geführt hätten. Das „plurale“ Polizieren bestehe einerseits aus fünf verschiedenen Kontrollformen das (halb)öffentlichen Raumes (von der polizeilichen Bestreifung bis zum Ehrenamt), andererseits hätten sich, legitimiert durch einen erweiterten Sicherheitsbegriff, verschiedene Kooperationsformen gebildet, die von den kriminalpräventiven Räten über Sicherheitspartnerschaften bis zu anlassbezogener Zusammenarbeit reichten. Schließlich wird auf die „Gemeinsamen Zentren“ hinwiesen, die die „intrastaatlichen Zusammenarbeit“ zwischen Polizeien und anderen Behörden in bestimmten Feldern (Terrorismus, Cybercrime, Migration, Extremismus) verbessern sollen. Deutlich wird in dieser Bestandsaufnahme, dass das neue Ensemble staatlicher und „staatsbeteiligter“ Kontrolle nicht nur eine Herausforderung für die Polizeien, sondern mehr noch für eine Gesellschaft darstellt, die Kontrolle zurückdrängen will.

Maynard, Robyn: Über staatliche Gewalt und Schwarze Leben, in: Loick, Daniel; Thompson, Vanessa E. (Hg.): Abolitionismus, Frankfurt am Main 2022, S. 252-274

Thompson, Vanessa E.: Schwarz-feministische Kritik der Polizei, in: Nobrega, Onur Suzan; Quent, Matthias; Zipf, Jonas (Hg.): Rassismus. Macht. Vergessen, Münster 2021, S. 109-123

In den beiden zuvor genannten Darstellungen müssen die Verweise auf die ökonomische, sprich: kapitalistische Fundierung unserer Gesellschaften, auf die sozialen Folgen gewandelter Kontrollformer und die Leben der Kontrollierten regelmäßig zwischen den Zeilen gelesen werden. Die beiden Texte, auf die hier verwiesen wird, sind explizit mit Blick auf die „Polizierten“ geschrieben. Für ihr Land stellt Maynard fest: „In einer Gesellschaft wie der Kanadas, die anhand von race, Gender, Klasse und Staatsbürger:innenschaft stratifiziert bleibt, agiert staatliche Gewalt zur Verteidigung und Aufrechterhaltung ungleicher sozialer, rassifizierter und ökonomischer Spaltung“. Wie Maynard, die den staatlichen Rassismus in Kanada auf den Sklavenhandel zurückführt, so verweist Thompson auf die „koloniale(n) Kontinuitäten modernen Polizierens“. Die Kolonien hätten als „Experimentier- und Entwicklungsfelder von Macht- und Herrschaftstechniken“ gedient, die „variantenreiche Interdependenzbeziehungen mit kapitalistischen Ausbeutungstechniken in Europa“ unterhalten hätten. Die Kontinuitäten, die sich von der Versklavung bis zum Racial Profiling ziehen lassen, erlauben – so Thompson – die „Wirkweisen und Funktionen“ „rassifizierter Gewaltförmigkeiten und differenzielle(r), polizeiliche(r) Funktionsweisen“ sichtbar zu machen.

Neuerscheinungen

Hunold, Daniela; Singelnstein, Tobias (Hg.): Rassismus in der Polizei. Eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme, Wiesbaden (Springer VS) 2022, 742 S., 42,79 Euro, https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-658-37133-3

„Rassismus“ – ein Thema, das in der kritischen Wahrnehmung von Polizei auch in Deutschland in den letzten Jahren wichtiger geworden ist. Die 32 Beiträge in diesem Sammelband geben ein beredtes Zeugnis dieser Diskussionen. Das Thema wird in sechs Abteilungen behandelt: Grundlagen, Formen und Entstehung, Polizeipraxen, Folgen, Forschungsperspektiven sowie Umgang mit polizeilichem Rassismus. In dieser Besprechung ist nicht der Platz, allen Beiträgen gerecht werden zu können. Sie sind in ihrer Herangehensweise, in ihrer Verankerung in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, in den untersuchten Aspekten, auch im Grad an Orginalität oder Plausibilität zu unterschiedlich. Insgesamt gilt: Die einzelnen Aufsätze setzten nicht die Kenntnis der anderen Beiträge voraus; diese führt allerdings zu einigen Wiederholungen – etwa im Hinblick auf Studien und Konzept oder den beispielhaften Hinweisen auf „racial profiling“ oder „Clankriminalitität“ für rassistische Praktiken. Im Folgenden können nur wenige Hinweise auf einige nahezu beliebig ausgewählte Aufsätze gegeben werden.

Die „Grundlagen“ werden eröffnet von einer Darstellung der „Theorien, Konzepte, zentrale Befunde“ der „Kritische(n) Rassismusforschung“ durch Juliane Karakayali. Auf S. 18 definiert sie: „Rassismus ist ein gesellschaftliches Verhältnis, das Menschen anhand verschiedener möglicher Merkmale konstruiert, denen in homogenisierender und essenzialisierender Weise … Verhaltensweisen, Werte oder Eigenschaften zugeschrieben werden und denen aufgrund dieser Zuschreibung der Zugang zu materiellen, sozialen Ressourcen behindert, limitiert oder vorenthalten wird.“ Innerhalb eines solchen Verständnisses werden die Ausprägungen auf der individuellen und der institutionellen Ebene erläutert. Diese Dreiteilung findet sich in vielen Aufsätzen. Alexander Bosch und Roman Thurn unterscheiden in ihrem „Versuch einer Begriffsklärung“ zwischen der strukturellen, institutionellen und individuellen Dimension, die sich gegenseitig bedingten. Die Verbindungen zwischen diesen Ebenen wollen sie durch das Autoritarismus-Konzept herstellen (S. 194f.). Der Rückgriff auf ein sozialpsychologisches Konstrukt scheint aber kaum geeignet, die makrosozialen Verflechtungen zu erhellen. Martin Herrnkinds Aufsatz (im Teil zur polizeilichen Praxis) deutet andere Kontexte an: Die präventive Ausweitung polizeilicher Zuständigkeiten und Aufmerksamkeiten, kurz: die Umwandlung der reaktiven Gefahren- zu einer präventiven Risikoorientierung habe den Raum für rassistische Praktiken erweitert (S. 299). Die Abwägung von Risiken habe neue Spielräume geschaffen, in denen sich politisch-gesellschaftliche Diskriminierungen leichter in Polizeipraxis niederschlagen. Diese Spur hin zu den politisch-gesellschaftlichen Kontexten wird leider in den anderen Beiträgen nicht aufgenommen.

Im Teil über die „Folgen für die Betroffenen und die Gesamtgesellschaft“ schreiben Anna Sabel und Özcan Karadeniz über die durch das „weiße wir“ etablierten „Zugehörigkeitsordnungen“. Unter Bezug auf das Konzept des „othering“ schreiben sie von der „polizeilichen Veränderung“. Sie betonen die gesellschafts- und herrschaftsstabilisierende Funktion, die mit der Grenzziehung zwischen „wir“ und „sie“ verbunden ist: „Polizeien handeln nach dem dominanzgesellschaftlich imaginierten Willen eines imaginierten Volkes.“ (S. 499) Dass sie dabei „Rassifizierung und Kriminalisierung“ gleichermaßen im Auge haben, deutet einen weiteren Zusammenhang an, dass Kriminalisierung sachlogisch Ausgrenzung der Kriminalisierten vom gesetzestreuen „wir“ bedeutet. In ihren Ausführungen zu den „Wege(n) der empirischen Forschung“ ziehen Stefanie Kemme und Anabel Taefi den Gegenstand deutlich enger. Keineswegs wollen sie andere Forschungsansätze ausschließen, aber ihre Präferenz liegt bei der Einstellungsforschung, die sie gegenüber anderen Ansätzen, die die Praxis in Augenschein nehmen wollen, verteidigen (S. 359). Vieles spricht aber dafür, komplexe Zusammenhänge auch methodisch komplex anzugehen. Im letzten Teil prüft Sabrina Ellebrecht die Versuche, rassistische Praktiken durch mehr Diversität beim Personal zu bekämpfen. Ihr Fazit fällt differenziert und ernüchternd aus; weit entfernt vom Wundermittel gehen polizeilichen Rassismus.

Der Untertitel verspricht eine „wissenschaftliche Bestandsaufnahme“. Das ist ein wenig irreführend. Denn es handelt sich eher um eine Fundgrube, in dem alle fündig werden, die sich fachkundig und kritisch über „Rassismus in der Polizei“ informieren wollen. Insofern handelt es sich um eine wertvolle und wichtige Veröffentlichung, die zurecht als Open Access im Volltext allen zur Verfügung gestellt wird. Sollte „Bestandsaufnahme“ eine zusammenfassende Gesamtsicht bezeichnen, so werden die Hoffnungen enttäuscht. Die fragmentierten Kenntnisse und Zugängen entsprechend durchaus dem „Stand der Debatte“; eine gute Basis für die weitere Arbeit am Thema.

Chahrour, Mohammed Ali; Sauer, Levi; Schmid, Lina; Schulz, Jorinde; Winkler, Michèle (Hg.): Generalverdacht. Wie mit dem Mythos CLANKRIMINALITÄT Politik gemacht wird, Hamburg (Edition Nautilus) 2023, 319 S., 22,00 Euro

Einen knappen Monat nach Erscheinen dieses Buches lud das nordrhein-westfälische Innenministerium zu einem „Internationalen Kongress zur Bekämpfung der Clankriminalität“ ein. Selbst, wenn der zeitliche Abstand größer gewesen wäre: Innenminister Herbert Reul hätte sich von dieser öffentlichkeitsträchtigen Inszenierung seines Lieblingsthemas nicht abhalten lassen. Obwohl (oder gerade weil) dieser Band jenes Interessengeflecht deutlich macht, das sich hinter dem Konstrukt der „Clankriminalität“ versammelt. Die Beiträge zeigen, dass zum „Mythos“ verklärte Phänomene genutzt werden, um politische und ökonomische Interessen auf Kosten marginalisierter Gruppen und unter Zuhilfenahme rassistischer und klassistischer Stereotype durchzusetzen. Die „Bekämpfung der Clankriminialität“, so der Tenor des vorliegenden Bandes, verschärft bestehende und schafft neue Formen der Ausgrenzung und Diskriminierung. Sie entwertet liberal-rechtsstaatliche Errungenschaften, sie vergiftet das gesellschaftliche Klima und verfestigt gesellschaftliche Spaltungen: Was sie zu bekämpfen vorgibt, wird erst durch ihren „Kampf“ geschaffen.

„Generalverdacht“ ist das Produkt der Zusammenarbeit der „KOP Berlin – Kampagne für die Opfer rassistischer Polizeigewalt“, der Berlin-Neuköllner Initiative „Kein Generalverdacht“ und des „Komitees für Grundrechte und Demokratie“. Gegliedert in fünf Kapitel wird das Thema in ca. 20 Aufsätzen beleuchtet. Es schreiben Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen, Jurist*innen; in den eingestreuten Dokumentationen kommen auch Betroffene selbst zu Wort. Auch wenn zu hoffen ist, dass die Apologeten der „Clankriminalität“ sich durch dieses Buch arbeiten, realistischer scheint, dass eher diejenigen erreicht werden, die die „Clankriminalität“ für einen rassistisch unterlegten Kampfbegriff halten. Aber gerade für die kritische Öffentlichkeit bietet der Band Einblicke in weitere Zusammenhänge:

Erstens wird „Clankriminalität“ in verschiedene Kontexte eingebettet: von der über hundertjährigen Fluchtgeschichte jener Menschen, die aus dem Libanon kamen, bis zur sozialen Desintegration, die mit der „Kettenduldungen“ einhergeht; vom staatlichen Umgang mit Geflüchteten, deren Herkunft als „ungeklärt“ bewertet wird bis zur Bedeutung von „Familie“ in einer Lage staatlicher Ignoranz bzw. Drangsalierung.

Zweitens wird die tagespolitische Erfindung des Themas untersucht. Besonders überzeugend wird dies in der Analyse der nordrhein-westfälischen Innenpolitik, aber auch in der Würdigung der Neuköllner SPD-Bürgermeister*innen wird deutlich, wie weit verbreitet die Profilierung auf Kosten der migrantischen Armen ist. Die ernüchternde Bilanzierung der Forschungsstandes passt zur Genese des politischen Kampfbegriffs. Nicht Diagnosen der wirklichen Verhältnisse, sondern Nützlichkeit für die Inszenierung zeichnet das Konzept aus.

Drittens wird deutlich, dass der „Kampf gegen Clankriminalität“ ein Instrument stadträumlicher Verdrängung und Gentrifizierung ist. Mehrere Beiträge zeigen dies am Neuköllner Beispiel: Ein Stadtteil wird in Verruf gebracht, durch sozial unterstützende Maßnahmen soll dem Stadtteil aufgeholfen werden (Soziale Stadt, Quartiersmanagement). In Wirklichkeit dient diese Politik der Verdrängung der Armen. Die Anti-Clan-Politik der „1000 Nadelstiche“ hat Anteil an dieser Politik, indem sie die lokalen Netzwerke und ihre Ökonomie angreift.

Viertens werden die Massenmedien beleuchtet, die sich willfährig an der Produktion des Mythos beteiligen. ZDF und Spiegel, Leitmedien des (klein)bürgerlichen Mainstreams, werden exemplarisch vorgeführt: das Gegenteil von „Qualitätsjournalismus“ hat sich der „Clankriminalität“ angenommen. Und fünftens werden die im engeren Sinne rechtsstaatlichen Kosten des Anti-Clan-Kampfes beleuchtet. Das gilt insbesondere für die Befugnisse zu „verdachts- und ereignisunabhängigen“ Personenkontrollen, deren systematisch diskriminierende Natur offengelegt wird.

Je konkreter Darstellung und Analysen sind, desto überzeugender und zugleich erschreckender sind sie. Wer sich ernsthaft zur „Clankriminalität“ äußern will, der/die muss dieses Buch gelesen haben. Im Detail mag man zu anderen Bewertungen kommen, aber insgesamt bleibt das Fazit überzeugend: Weit gefährlicher als alles das, was der Öffentlichkeit als „Clankriminalität“ suggeriert wird, ist der „Kampf“ gegen diese.

In zwei Punkten löst diese Pflichtlektüre für kritische Bürger*innen ein wenig Unbehagen aus: Einerseits wird das Thema naht- und bruchlos „kontextualisiert“, der Kampf gegen die „Clankriminalität“ erscheint mitunter als die direkte Fortsetzung der frühneuzeitlichen „guten polizey“, außer Kontrolle, Disziplinierung, Repression nichts passiert in den letzten Jahrhunderten? Andererseits wird die Frage nach den Alternativen mit einem „Abolitionismus“ beantwortet, der so konturlos bleibt, dass er der „klassenlosen Gesellschaft“ zum Verwechseln ähnlich ist. Und bis dahin?

Bönnemann, Maxim (Hg.): Kleben und Haften. Ziviler Ungehorsam in der Klimakrise, Berlin (Verfassungsbooks) 2023, 349 S., 12,69 Euro, https://verfassungsblog.de/wp-content/uploads/2023/09/Verfassungsbook_Kleben-und-Haften.pdf

Im Unterschied zur Klimapolitik ist es den Aktionen der „Letzten Generation“ gelungen, die rechtswissenschaftliche und rechtspolitische Diskussion in Deutschland anzustoßen, die in dieser Veröffentlichung von im „Verfassungsblog“ erschienenen Beiträgen dokumentiert werden. Die Aufsätze sind nach inhaltlichen Kriterien sortiert, so dass kontroverse Positionen unmittelbar verglichen werden können: Zu Beginn erörtern vier Autor*innen den „Zivilen Ungehorsam im demokratischen Rechtsstaat“, die acht folgenden Beiträge beleuchten „Strafverfolgung und Strafverfahren“, unter „Notwehr und Notstand“ wird die Bedeutung des Notwehrrechts für Protestierende und für vom Protest Betroffene diskutiert, und im letzten Teil „verwaltungsrechtliche und vergleichende Perspektiven“ sind verschiedene Themen versammelt, die vom Schulrecht bis zum zivilen Ungehorsam in Australien reichen.

Die engere juristischen Diskussion knüpft an der Frage an, inwiefern es sich bei den Aktionen der „Letzten Generation“ – insbesondere der Straßenblockaden durch Festkleben – um eine Nötigung im strafrechtlichen Sinn handelt. Die Antworten setzen eine Auseinandersetzung mit dem Gewaltbegriff und der Bedeutung der Fernziele des Protests für die rechtliche Bewertung voraus. Zugespitzt wird die Diskussion bei der Bewertung der „Letzten Generation“ als eine „kriminelle Vereinigung“ nach § 129 Strafgesetzbuch (StGB).

Wie nicht anders zu erwarten, lassen sich in den Stellungnahmen zwei grundlegende Positionen erkennen. Die erste Positionierung, die den Blockaden jede demokratische Legitimation abspricht und den Verdacht auf „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ für juristisch angemessen hält, wird in den beiden Beiträgen des Bonner Verfassungsrechtlers Klaus Ferdinand Gräditz exemplarisch eingenommen. Ziviler Ungehorsam stammt für ihn „aus der Mottenkiste der politischen Theorie“. Auch wenn er von „Machtasymmetrien“ spricht, entscheidend bleibt für ihn: „Die Legalität ist aber der einzige Rahmen, der allen Interessen formal gleiche Artikulationsmöglichkeiten sichert.“ (S. 46) Ähnlich formal bis zur Sinnentleerung stringent ist seine Argumentation zum § 129 StGB: Die Kritik an der Kriminalisierung des Vorfelds sei deshalb gegenstandslos, weil es dem Gesetzgeber überlassen bleibe, was er kriminalisiere. Die „soziale Risikotoleranz“ sei „auch im Strafrecht immer wieder neu auszuhandeln“ (S. 134); das sei beim § 129 StGB geschehen. Insofern sieht er auch kein Problem, den Paragrafen auf die „Letzte Generation“ anzuwenden.

Andere Beiträge nehmen zu beiden Grundfragen konträr andere Positionen ein. Sabrina Akbarian und Lena Herbers betonen in ihren Stellungnahmen die demokratietheoretische und -praktische Bedeutung von „zivilem Ungehorsam“. Er sei ein Mittel im politischen System festgefahrene Debatten in Bewegung zu bringen – und zwar im Hinblick auf zentrale gesellschaftliche Belange. Dass der Klimaschutz ein von Verfassung und Regierung anerkanntes Ziel ist, macht es aus dieser Perspektive noch unsinniger, ihm mit Kriminalisierung zu begegnen. Mehrere Autor*innen lehnen die Behandlung der „Letzten Generation“ als „kriminelle Vereinigung“ ab. Teilweise wird in Abrede gestellt, dass die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind, teilweise wird auf die einschüchternden Wirkungen einer solchen strafrechtlichen Zuordnung verwiesen, teilweise wird die Vorfeldkriminalisierung insgesamt als verfassungswidrig kritisiert. Einige – wiederum kontroverse – Aufsätze thematisieren ein Urteil des Flensburger Amtsgericht, das unter Verweis auf den „Klimaschutz als rechtfertigenden Notstand“ einen Baumbesetzer vom Vorwurf des Hausfriedensbruchs freisprach. Auch wenn das letzte gerichtliche Wort in dieser Sache noch nicht gesprochen ist, das Urteil lässt hoffen, dass die Gerichte sich aktiv an der Rechtsentwicklung beteiligen.

Wer an Polizeifragen im engeren Sinne interessiert ist, der/die wird im letzten Teil fündig. Ralf Poscher und Maja Werner beleuchten die Regelungen zum polizeilichen Präventivgewahrsam in Bayern. Bekanntlich erlaubt das Bayerische Polizeiaufgabengesetz (PAG) (in der entschärften Fassung seit 2021) die Verhängung eines 30-tägigen Gewahrsams, der einmalig um weitere 30 Tage verlängert werden kann. Poscher/Werner halten diese Regelung für verfassungswidrig, da sie bereits wegen ihrer Länge nicht verhältnismäßig sei. Selbst an einer PAG-immanenten Prüfung scheitere die bayerische Praxis, da es regelmäßig am Vorliegen einer „konkreten Gefahr“ mangele. Es bleibt abzuwarten, ob dereinst Gerichte das auch so sehen. Hannah Espín Grau und Tobias Singelnstein blicken gegen Ende des Bandes unmittelbar auf die Polizei, indem sie die Praxis und die Wirkungen von „Schmerzgriffe(n) als Technik in der polizeilichen Praxis“ darstellen. Im gezielten Zufügen von Schmerzen sehen sie eine „Verselbstständigung und Normalisierung polizeilicher Gewalt“, die sich der rechtlichen Regulierung entziehe.

Neidel, Tobias; Herold-Steinhof, Simon; Kneisel, Julia; Lambotte, Carolin; Meisen, Martin: Unterschätzte Aspekte einer modernen Polizei, FES  Impuls 2023, https://library.fes.de/pdf-files/a-p-b/20595.pdf

Diese „Vorschläge zur Zukunft der polizeilichen Ausbildung, Bürger_innennähe und Wissenschaftskooperation“ – so der Untertitel – wollen „aus der Sicht einer jungen sozialdemokratischen Politik konkrete Punkte“ aufgreifen, die „zur substantiellen Verbesserung der Institution Polizei beitragen können“. Die Autor*innen aus dem „Netzwerk junge sozialdemokratische Sicherheitspolitik“ verstehen ihr Papier als eine „Einladung zum Mitdiskutieren“. Sie geben an, drei Bereiche mit Potenzialen für eine „moderne und bürger_innenfreundliche Sicherheitspolitik“ entdeckt zu haben, die „in der bisherigen Diskussion häufig unterschätzt“ würden.

Nach der abwägenden Selbstpositionierung (weder unkritisch gegenüber der Polizei noch „in der Polizei als solche eine problematische Institution“ zu sehen), versammelt der Text die Leser*innen unter einer rechtsstaatlichen Plattitüde: Dass das staatliche Sicherheitsversprechen für alle gilt, dass aber zugleich Straftäter*innen mit staatlicher Verfolgung rechnen müssen. Wo sind wir gelandet, dass diese liberal-bürgerliche normative Fiktion betont werden muss?

Die „Potenzialbereiche“ liegen in der Ausbildung, der Verbesserung der Bürger*innennähe und die engere Zusammenarbeit zwischen Polizei und Wissenschaft. Im ersten Feld schlagen sie jährliche obligatorische Weiterbildungen von 1 bis 2 Wochen für Polizist*innen aller Dienstgrade vor. Die angedachten Themen reichen jedoch leicht für 1 bis 2 Monate. Vollkommen unklar bleibt wie der Personalausfall in den Dienststellen kompensiert werden soll. Bürger*innennähe will das Papier durch eine Ausweitung der Kontaktpolizist*innen, durch lokale Polizei-Gemeinde-Kooperationen und die generelle Etablierung von Polizeibeiräten erreichen. Das sind keine unerkannten Potenziale, sondern echte Ladenhüter. Im Hinblick auf die Wissenschaft ist das Plädoyer für deren Befreiung von innenministerieller Bevormundung durchaus lobenswert. Allerdings liegt selbst dem ein Verständnis zugrunde, das die Wissenschaft auf eine der Polizei dienende Einrichtung reduziert.

Das Auffallendste an diesem Papier ist das, wovon es nicht handelt: Nichts von den Aufgaben- und Befugniserweiterungen, nichts von der fortgesetzten Politik der Kriminalisierung und Versicherheitlichung, nichts von der sozial und politisch wirkmächtigen Definitionsmacht der Polizei. Der Horizont der jungen Sozialdemokraten bleibt weiter hinter den Fragen der Gegenwart zurück.

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