Archiv der Kategorie: CILIP 133

Strafvollzug und Armutsspirale – Ungleich vor dem Gesetz und nach dem Urteil

von Christine Graebsch

Die meisten Haftstrafen haben einen Armutshintergrund. Zur „Resozialisierung“ wäre die Zahlung von gesetzlichem Mindestlohn und Rentenversicherungsbeiträgen auch hinter Gittern förderlich. Stattdessen ist der Strafvollzug Teil eines Systems individueller Zuschreibung von Armut.

In den letzten Jahren war in der Bundesrepublik Deutschland viel vom Bestrafen der Armen die Rede. Die weit über die Wissenschaft hinaus geführte Debatte ist maßgeblich durch das Buch von Ronen Steinke über „Die neue Klassenjustiz“ geprägt.[1] Strafvollzug und Armutsspirale – Ungleich vor dem Gesetz und nach dem Urteil weiterlesen

Kontrolle im Kapitalismus: Eine intersektionale Perspektive

Kapitalismus war lange Zeit out. Seit Finanzkrise und Pandemie widmen sich soziale Bewegungen mit unterschiedlichen Verhältnissen zum repressiven Staatsapparat sowie die Kritische Kriminologie, in der abolitionistische Traditionen aufleben, verstärkt der kapitalistischen Vergesellschaftung. Der Beitrag umreißt, welche Fragen gestellt und künftig bearbeitet werden sollten.

Kontrolle im Kapitalismus zu betrachten, ist seit jeher das Metier der marxistisch inspirierten Kritischen Kriminologie. Schon die sogenannten „Neuen Sozialen Bewegungen“ und parallele Theorieentwicklungen seit den späten 1960er Jahren rückten bekanntermaßen Herrschaftsverhältnisse jenseits des Widerspruchs von Kapital und Arbeit verstärkt in den Blick. In Fortentwicklung und zugleich Kritik der Kritischen Kriminologie entstand etwa eine feministische Kriminologie, die Themen wie Abtreibung, Sexarbeit oder Vergewaltigung in den Blick nahm. Seit den 1990er Jahren sorgte die Verbreitung poststrukturalistischer Ansätze in der Wissenschaft und den sozialen Bewegungen für einen Perspektivwechsel. Kriminolog*innen und Aktivist*innen problematisierten nicht mehr „nur“ materielle Gegebenheiten wie die kapitalismusstabilisierende Wirkung des Strafjustizsystems, die ideologischen Hintergründe und materiellen Effekte einer geschlechtsblinden Klassenjustiz oder die „Definitionsmacht“[1] einer Polizei, die als strukturkonservative Institution oft auf der Basis traditioneller Vorstellungen von z. B. Frauen oder Migrant*innen agiert. Vielmehr wurden die Kategorien selbst grundlegend hinterfragt und das Verständnis von Macht erweitert. Bereits in den 1960er und 70er Jahren hatte der „labeling approach“[2] in der Kriminologie deutlich gemacht, dass Kriminalität schlicht das ist, was die Gesellschaft als solche versteht. Nun setzte sich die Erkenntnis durch, dass auch „Frau“ oder „Schwarzer“ keine natürlichen Tatsachen sind, sondern gesellschaftlich hervorgebracht werden – wobei die Subjekte nicht nur durch staatliche Ver- und Gebote sowie Ideologie reguliert werden, sondern durch die machtvollen Anrufungen auch hervorgebracht und tagtäglich in die Machtverhältnisse verwickelt sind, wie es Foucault und Autor*innen der Gouvernementalitätsstudien betonten.[3] Kontrolle im Kapitalismus: Eine intersektionale Perspektive weiterlesen

Redaktionsmitteilung

Kreativ und zerstörerisch soll er sein, der Kapitalismus. Letzteres gilt nicht nur für ökonomische Verhältnisse, sondern seit jeher auch für die Institutionen, welche die herrschende Produktionsweise sichern und eigennützig mitgestalten. Doch welche neuen Formen der Kontrolle wachsen auf den Trümmern der alten Verhältnisse? Hieß es vom Neoliberalismus, dass die marktkonforme Selbstregierung der Privilegierten mit der autoritären Ausschließung der „überflüssigen“ Armen korrespondiert, ist aktuell unklar, ob sich dieses Modell nun lediglich verschärft oder bereits Platz für Neues macht.

Mit dem vorliegenden Heft betrachten wir exemplarisch einige aktuelle Entwicklungen. Einerseits zeigen die Beiträge des Schwerpunkts Kontinuitäten: Staatliches „Polizieren“ und Strafen gilt primär den sozialen Randgruppen. Vom Strafvollzug bis zur Gentrifizierung werden gesellschaftliche Probleme durch „Versicherheitlichung“ verschärft; teilweise mittelbar, teilweise aber auch ganz direkt zur Durchsetzung mächtiger (Kapital)Inter­essen. Redaktionsmitteilung weiterlesen

Literatur

Zum Schwerpunkt

„Kontrolle im Kapitalismus“ ist keine exklusiv polizeiliche Domäne. Eher im Gegenteil wurde der traditionelle Ort der Polizei (gemeint ist die Vollzugspolizei) an jenen Linien verortet, an denen die herkömmlichen Institutionen der Kontrolle versagten. Als herkömmlich in diesem Verständnis konnten die großen Einrichtungen gelten, die die Erfordernisse einer sich entwickelnden kapitalistischen Gesellschaft in die Gewohnheiten, den Alltag, die Erwartungen der Menschen umsetzten – von der Gewöhnung an die Lohnarbeit bis zur Anerkennung gottgegebener und gleichzeitig wettbewerbsvermittelter sozialer Ungleichheit. Nur an den gesellschaftlichen Rändern, an denen frühneuzeitliche Sozialintegration scheitert, kommt die Polizei in der Durchsetzung des Gewaltmonopols ins Spiel. Landstreicher, Bettler*innen und alle, die sich dem Verkauf ihrer Arbeitskraft entziehen; Kinder, denen es an Fleiß und Folgsamkeit mangelt; Diebe, die die herrschende Eigentumsordnung ablehnen; Protestierende gegen Verelendung, kapitalistische Ausbeutung und deren Aufrechterhaltung durch den Staat: Die von der kapitalistischen Vergesellschaftung Ausgeschiedenen, die an den Rändern der Gesellschaft die „gefährliche Klasse“ bilden, deren „Polizierung“ die zentrale Aufgabe der Polizeien (und teilweise des Militärs) bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts bildet.

Sehr allgemein formuliert: Im Laufe des 19. Jahrhunderts treten in den industrialisierten Ländern Europas an die Seite des Polizei- und Obrigkeitsstaates wohlfahrtsstaatliche Arrangements. Die großen gesellschaftlichen Konfliktlinien (Kapital und Arbeit, Arm und Reich) werden durch neue Einrichtungen entschärft. Von den Sozialversicherungen über die allgemeine Schulpflicht bis zur Gleichheit vor dem Gesetz – die Konflikte werden so bearbeitet, dass sie zugleich die kapitalistische Akkumulation befördern. Das Gewaltmonopol tritt kontrollierend/sanktionierend in Erscheinung, wenn diese Instanzen versagen. Dieses „wohlfahrtsstaatlich-fordistische“ Arrangement löst sich in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf. Wir befinden uns in einer nachfolgenden Phase, die meist unter der Überschrift „Neoliberalismus“ zu fassen versucht wird; wobei gegenwärtig unklar ist, ob nicht diese bereits durch ein neues Leitmuster abgelöst wird. Im Folgenden können nur einige Hinweise auf jüngere Veröffentlichungen gegeben werden, die Aspekte des Dreiecks von Kapitalismus, Kontrolle und Polizei darstellen. Literatur weiterlesen

Fingerabdrücke im Personalausweis selten überprüft

Mit der Verordnung 2019/1157 vom 20. Juni 2019 wurde durch die EU die Pflicht zur Speicherung von Fingerabdrücken in Personalausweisen und Aufenthaltstiteln verfügt. Sie sollen ein zusätzliches Sicherheitsmerkmal sein, anhand dessen die Authentizität eines Personaldokuments überprüft werden kann. In Deutschland werden diese Fingerabdrücke ausschließlich im Personaldokument selbst gespeichert. Der Aufbau der dafür erforderlichen technischen Infrastruktur bei der Bundesdruckerei und in den kommunalen Passbehörden wurde über die Anhebung der Gebühren auf die Bürgerinnen und Bürger umgelegt. Statt bis dahin 28,80 kostet der Personalausweis seit 2021 37 Euro. Fingerabdrücke im Personalausweis selten überprüft weiterlesen

Umfassende Änderungen für Versammlungen in Sachsen

Bereits seit 2012 verfügt Sachsen über ein eigenes Versammlungsgesetz, nun legt die Staatsregierung einen Entwurf für dessen Neufassung vor.[1] Dabei fällt positiv auf, dass im Gesetzesentwurf der Schutz der freien Berichterstattung gestärkt (§§ 3 Abs. 1 Nr. 4, 21 Abs. 2) und das Mindestalter für Ordner*innen auf 16 Jahre herabgesetzt wird (§ 6 Abs. 2). Im Sinne einer umfassenden Gewährleistung der Versammlungsfreiheit ist ebenfalls begrüßenswert, dass die Nichtanzeige geplanter Versammlungen zukünftig von einer Straftat zur Ordnungswidrigkeit herabgestuft und Versammlungen ohne Leiter*in nicht mehr aufgelöst, sondern ihre Durchführung ermöglicht werden sollen – auch wenn dies wohl ein Zugeständnis an das problematische Protestspektrum der ‚Corona-Spaziergänge‘ ist. Umfassende Änderungen für Versammlungen in Sachsen weiterlesen

Bundestagspolizei erhält eigenes Polizeigesetz

Im Konzert der Polizeibehörden in Deutschland führt eine ein etwas abseitiges und fast unbemerktes Dasein: die Polizei des Deutschen Bundestages. Sie hat die Sicherung des Bundestages, seiner Gebäude und des Parlamentsbetriebs zur Aufgabe. Schon vor Jahren wurden die eher unauffälligen dunkelblauen Jacken mit der Aufschrift „Polizei“ auf dem Rücken und die ansonsten getragene Zivilkleidung durch Uniformen, Schutzwesten und offen getragene Pistolen ersetzt. Ihre rechtliche Grundlage findet die Bundestagspolizei ausschließlich im Grundgesetz. Dort heißt es in Art. 40, Abs. 2: „Der Präsident übt das Hausrecht und die Polizeigewalt im Gebäude des Bundestages aus.“ Dies wurde immer wieder moniert, für Grundrechtseingriffe wie beispielsweise die kurzzeitige Gewahrsamnahme von Störer*innen auf der Bundestagstribüne und der Feststellung ihrer Personalien brauche es eine echte Rechtsgrundlage. Bundestagspolizei erhält eigenes Polizeigesetz weiterlesen

EuG: EDPS-Klage gegen Europol-Verordnung unzulässig

Am 6. September 2023 wies das Europäische Gericht (EuG) die Klage des EU-Datenschutzbeauftragten (EDPS) gegen die Novelle der Europol-Verordnung als unzulässig ab.[1] Der EDPS hatte Mitte September 2022 erstmals eine Nichtigkeitsklage eingereicht, um die Annullierung von Bestimmungen zu erreichen, durch die er seine Unabhängigkeit und Kontrollbefugnisse von den gesetzgebenden Institutionen der EU verletzt sah. Dabei ging es um die rückwirkende Legalisierung der Verarbeitung von Massendaten durch Europol, deren Löschung der Datenschutzbeauftragte im Januar 2022 auf Grundlage der bis Juni des gleichen Jahres gültigen Fassung der Europol-Verordnung angeordnet hatte.[2] EuG: EDPS-Klage gegen Europol-Verordnung unzulässig weiterlesen